von HannaLuisa
„Tunia...“ Die Stimme klang verzweifelt und flehend. „Tunia, hilf mir, bitte!“
Starr vor Angst stand Petunia da. Der Nebel war so dicht, dass sie ihre Hand vor Augen nicht sehen konnte. Der Boden zu ihren Füßen bebte und schwarze Wolken neigten sich zu ihr hinunter, bis sie in vollkommene Schwärze getaucht war. Nur die Stimme drang durch das Dunkel. Eine Stimme, die kraftloser wurde. Mutloser. „Tunia.“ Die Stimme war kaum vernehmbar.
„Lily.“ Petunia meinte, der Kopf müsse ihr bersten, so laut schrie sie. Noch immer konnte sie die kleine Schwester nicht entdecken. „Lily.“
Zwei große, starke Hände kamen aus der Dunkelheit auf sie zu. Griffen nach ihr und schüttelten den bebenden Körper. „Petunia, Liebling, wach auf!“ Langsam öffnete sie die verklebten Lider, sah sich benommen um und erkannte die besorgte Miene ihres geliebten Gatten. „Oh Vernon“, stieß sie mit von Tränen erstickter Stimme hervor und schmiegte sich an ihn. Unbeholfen strich er ihr über den Rücken. „Einen Schnaps auf den Schreck?“, fragte er nach einer Weile und Petunia meinte, Erleichterung aus seiner Stimme zu vernehmen. Sie nickte.
Zwar verspürte sie nicht die geringste Lust auf das bittere Getränk, doch ihr war bewusst, dass Vernon das Gefühl brauchte, ihr helfen zu können. Und der Mann für emotionalen Beistand war er nie gewesen. Ihr Gatte verließ das Schlafzimmer und stieg polternd die Treppe hinab. Hoffentlich wacht Dudders nicht auf. Wenn er mich so sieht, regt er sich bestimmt auf, mein Diddyspatz. Zart und empfindsam, wie er ist. Sie seufzte, stellte ihre Beine auf und schlang die Arme darum. Die Traumbilder waren mit dem abrupten Erwachen erloschen, nur eine dunkle Ahnung blieb. Eine kleine, schwarze Wolke, die sie traurig machte und von innen her aufzufressen schien. Besorgt lauschte sie auf die Geräusche des Hauses, doch alles war wie immer. Die Uhren tickten beruhigend regelmäßig und Vernons Schritte, sowie sein keuchender Atem kamen wieder näher. Petunia nahm kaum wahr, was für ein Gebräu sie trank. Endlich wurden die Glieder schwerer und der Schlaf nahm sie mit sich.
Das Kind lag noch im Bett, als Petunia den Riegel zur Seite schob und die Zimmertür öffnete.
„Aufstehen, dalli!“, herrschte sie es an. Wenn nur das drückende Gefühl in der Magengegend nachließe. Verschlafen erhob Harry sich und warf ihr einen Blick zu, aus dem Petunia stillen Vorwurf und Trotz herauslas. Mit grimmiger Miene trafen ihre eisblauen Augen die vertrauten Grünen. Endlich senkte ihr Neffe den Blick. Stumm beobachtete sie, wie das Kind ins Badezimmer ging. Kurze Zeit später war das Rauschen der Dusche zu hören. Das Ausbleiben eines Triumphgefühls, besänftigte Rache dafür, dass sie alle des Kindes wegen nicht nach Mallorca konnten, beunruhigte Petunia. Sie hätte sich gut fühlen müssen, das Kind war eingesperrt. Es würde in absehbarer Zeit nicht ständig um sie sein. Nur zweimal pro Tag musste sie seinen Anblick ertragen. Und doch…
Mit leerem Blick sah Petunia aus dem Fenster, während sie sich von Minute zu Minute elender fühlte. Endlich war das Kind fertig, Petunia richtete sich auf und sah es streng und unbarmherzig an. „Hast du den Abfluss sauber gemacht?“, keifte sie.
Harry erwiderte ihren Blick. War es Stolz? „Ja“, antwortete es knapp. Heftiger als beabsichtigt schlug sie die Tür zu und endlich stellte sich das angenehme Gefühl der Überlegenheit ein.
Es ging nicht länger darum, einen zwölfjährigen Jungen einzusperren, nein: Es war ihr kurzfristiger Sieg gegen die Magie. „Frühstück gibt es gleich“, rief sie höhnisch durch die Tür und stieg leichtfüßig die Treppe herab.
„Hat er Ärger gemacht?“, knurrte Vernon und lugte mit rotem Gesicht hinter der Zeitung hervor.
„Nein“, sagte Petunia und schenkte sich eine Tasse des extra starken Kaffees ihres Gatten ein.
„Ich gehe schon, Liebling.“ Vernon erhob sich, nahm das trockene Brot von vor zwei Tagen, legte eine Scheibe Käse darauf und wandte sich zum Gehen.
„Das hat doch Zeit“, schnappte Petunia. „In einer halben Stunde gehe ich ohnehin nach oben!“ Etwas Unverständliches murmelnd stellte Vernon den Teller zurück und ging ins Badezimmer.
In dieser Nacht wurde sie nicht durch Alpträume belastet, doch ruhig schlafen konnte sie dennoch nicht. Ununterbrochen dachte sie an das Erbe ihrer Schwester, dieses grauenhafte Kind, das sie nicht ausstehen konnte und zu allem Überfluss auch noch Tür an Tür mit ihrem Goldstück schlief. Früher hatten sie es immerhin in den Schrank sperren können, doch nun… Es sollte einfach nur weg sein, für immer. Doch nie hatte sich Petunia zum letzten Schritt überwinden können, das Kind ins nächste Waisenhaus zu stecken. Wann immer sie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, überwältigten sie des Nachts Alpträume in einer Brutalität, die sie den darauf folgenden Tag kaum überstehen ließen. Noch sechs Jahre, dachte sie und wälzte sich zur Seite. Sechs Jahre, dann hat es ein Ende. Dann ist Lilys letzter Wille erfüllt und ich habe getan, was ich konnte. Noch drei Wochen bis Schuljahresbeginn. Und dann noch fünf Mal sechs Wochen. Dreiunddreißig Wochen muss ich es ertragen, danach werde ich es nie wieder sehen müssen. Vernon schnarchte laut und Petunia schrak zusammen. Wie soll ich das drei lange Wochen aushalten? Ein Geräusch riss sie aus den Gedanken und Petunia setzte sich auf. Mit gespitzten Ohren saß sie im Bett, die Decke umklammert und lauschte. Ein Wispern, knarrende Stufen. Ein Motorengeräusch. Leise und geschmeidig wie eine Katze stieg sie aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster. Hastig unterdrückte sie einen Aufschrei. Sie rieb sich die Augen und sah erneut hin. Das Bild hatte sich nicht verändert: Ein Wagen schwebte vor dem Fenster ihres Neffen, ein Junge nahm gerade einen Koffer entgegen.
Die Erleichterung durchflutete Petunia so sehr, dass sie beinahe aufgelacht hätte. Es flieht! Der Knoten in Petunias Magengegend löste sich. Tief und befreit atmete sie. Bis die Eule schrie. Erschrocken sprang Petunia ins Bett zurück und fixierte ihren Mann, als hoffe sie, ihn durch die Intensität im Schlaf halten zu können. Vernon öffnete die Augen, warf einen wilden Blick zur Tür und stürmte aus dem Schlafzimmer. Beeilt euch, dachte Petunia und starrte paralysiert zur Wand. „Petunia“, röhrte ihr Gatte, „er haut ab!“
„Wurde auch Zeit“, murmelte Petunia und stand auf. Auch Dudley stand an Harrys Fenster und glotzte den roten Rücklichtern nach. „Bis nächsten Sommer“, rief ihnen das Kind lachend zu und Petunias Mundwinkel hoben sich. Dreißig Wochen, dachte sie zufrieden, zog den rasenden Vernon sacht vom Fenster und schloss es.
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