von ChrissiTine
8. Dezember: (Un)erreichbare Träume
„Rose, Rose, Rose, wie fliegen Flugzeuge, erklär mir bitte noch mal, wie Flugzeuge fliegen, bitte! Bitte, bitte, bitte, bitte." Rose verschluckte sich überrascht an ihrem Kaffee, als Scorpius wie aus dem Nichts neben ihr auftauchte. Die Fünftklässler steckten gerade mitten in den ZAG-Prüfungen und obwohl Rose heute ausnahmsweise keine Prüfung hatte, war sie doch vollauf damit beschäftigt, ihre Notizen über Verteidigung gegen die Dunklen Künste durchzugehen und nebenher ihr Rührei zu essen und ihren Kaffee zu trinken. Früher hatte ihr diese schwarze Brühe nie geschmeckt, aber seit sie sie vor ein paar Wochen gekostet hatte, um auszuprobieren, ob ihr das Koffein vielleicht beim Lernen helfen würde, war sie positiv überrascht gewesen. Der Kaffee hatte besser geschmeckt, als sie in Erinnerung hatte, und sie konnte ohne Probleme eine halbe Stunde länger aufbleiben.
„Das hab ich dir doch schon zweimal erklärt", seufzte sie und stopfte sich einen weiteren Löffel Rührei in den Mund. Wenn sie sich beeilte, konnte sie vielleicht auch noch ihre Zaubertranknotizen durcharbeiten.
„Bitte, Rose, ich hab alles wieder vergessen und meine Prüfung ist in einer Stunde." Scorpius schaute sie verzweifelt an und Rose schluckte. „Bitte. Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte. Das dauert doch nur zehn Minuten und heute Nachmittag kann ich dich zum Gegenzug irgendetwas abfragen. Bitte." Seinem Hundeblick konnte sie nichts abschlagen und da half es auch nicht, dass ihr Herz schon wieder so viel schneller schlug und das eine der seltenen Gelegenheiten war, Zeit mit ihm alleine zu verbringen, ohne Al oder Carolina.
„Na schön", gab sie sich geschlagen und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt. „Aber nur zehn Minuten." Sie hob ihre Schultasche vom Boden auf und suchte nach einem neuen Pergament. Nachdem sie eines gefunden hatte, skizzierte sie mit einigen Strichen ein Flugzeug und versuchte mit einigen Pfeilen die Grundlagen der Thermodynamik zu erläutern, soweit sie sich daran erinnern konnte. Daniel Harris, ein Muggel, mit dem sie in den letzten Sommerferien zusammen gewesen war, hatte ihr das einmal genau erklärt. Er hatte sich sehr für Physik interessiert und wollte später einmal Luft- und Raumfahrt studieren und hatte stundenlang darüber sprechen können.
„Ich kann mir das nicht merken", murmelte Scorpius frustriert, nachdem sie fertig war und er verzweifelt versucht hatte, die Pfeile nachzumalen.
Rose seufzte genervt, zog ihm das Pergament unter der Hand weg, faltete es zu einem kleinen Flieger und hielt es ihm unter die Nase. „Die Luft verläuft hier so, siehst du" Sie deutete den Strom mit der Hand nach. „Und hier verläuft sie so. Und wenn alles gut läuft, dann fliegt es", sie kniff ein Auge zu und zielte auf James, der am unteren Ende des Tisches müde in seinen Cornflakes herumrührte, „so." Sie warf den Flieger, der James zielsicher in der Stirn traf. James schreckte auf und schaute sich wütend um, aber Rose hatte sich wieder Scorpius zugewandt und eine Unschuldsmiene aufgesetzt.
Scorpius lachte und griff nach einem weiteren Pergament. Er faltete es so geschickt wie Rose. „Also du meinst, dass die Luft hier schneller fließt als da und deshalb das Flugzeug nach oben gedrückt wird?", versicherte er sich.
Rose nickte und konnte nicht anders als zu lächeln, als sie seine kindliche Begeisterung sah. „Im Idealfall, ja."
„Na dann." Er warf den Flieger auf James, der ihnen gerade den Rücken zudrehte und bei einem der anderen Tische nach dem Übeltäter suchte. Das Flugzeug traf ihn am Hinterkopf.
„Sieht aus, als hättest du es verstanden", sagte sie zufrieden und griff wieder nach ihren Notizen. Ihre Arbeit war getan und sie konnte sich wieder ihren eigenen Problemen zuwenden.
„Vielen Dank, du bist die Allerbeste. Ohne dich wäre ich verloren gewesen." Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange, bevor er wieder aufstand und zurück zum Slytherintisch eilte. Überrascht blickte sie ihm hinterher. Das hatte er noch nie gemacht. Ihre Wange brannte dort, wo er sie geküsst hatte und sie hatte plötzlich eine Gänsehaut.
Warum spielte ihr Körper immer noch so verrückt? Es war doch nur Scorpius. Er war mit jemand anderem zusammen. Sie war seine Informationsquelle für Muggeldinge und Als Cousine und eine Vertrauensschülerin, mit der er manchmal patrouillieren musste und das war alles. Mehr sah er nicht in ihr und mehr würde zwischen ihnen nie sein, ganz egal, wie sehr sie sich irrationalerweise etwas anderes wünschte. Er war ein Malfoy und sie war eine Weasley und das allein war Antwort genug, ob sie zusammenpassten.
Doch obwohl sie das wusste, konnte sie trotzdem nicht anders, als die Zeit am Nachmittag zu genießen, als er sie in einer ruhigen Ecke in der Bibliothek Zaubertrankrezepte abfragte und nebenher weitere Flieger aus Pergament bastelte, mit denen er ein paar Erstklässler ärgerte. Sein Lächeln war umwerfend und er wusste viel besser in Zaubertränke Bescheid, als sie gedacht hätte, obwohl er immer darüber geklagt hatte, dieses Fach überhaupt nicht zu mögen. Außerdem war er bester Laune, weil er die schriftliche Prüfung in Muggelkunde seiner Ansicht nach hervorragend über die Bühne gebracht hatte (sie hatte nichts anderes erwartet).
„Ich weiß gar nicht, warum du dir Sorgen gemacht hast", sagte sie schließlich, nachdem sie auch das letzte Rezept heruntergebetet hatte. Sie löste ihren Pferdeschwanz und schüttelte ihre langen Haare. Sie trug sie ungern offen, weil sie immer viel zu buschig waren, aber langsam bekam sie Kopfschmerzen. „Du weiß doch besser Bescheid über Muggel als Muggel selbst."
Scorpius blinzelte und schüttelte leicht den Kopf, bevor er erwiderte: „Nicht besser als du in jedem anderen Fach. Du beherrschst doch den kompletten Stoff perfekt, ich weiß gar nicht, warum du überhaupt noch lernst. Das weißt du doch alles seit Monaten."
Rose wurde rot. „Nicht mal annähernd", wehrte sie ab. „Man kann doch so viele Fehler machen, selbst wenn man alles zu wissen glaubt, und ich muss doch gute Noten haben, wenn ich mal Heilerin werden will." Seit sie denken konnte, wollte sie nichts anderes als das. Das hatte sie sich fest vorgenommen und das würde sie auch schaffen.
„Rose, wenn jemand das schafft, dann bist das du", erwiderte Scorpius überzeugt. „Du bist bestimmt viel klüger als du sein müsstest", grinste er und fuhr sich durch seine Haare. „Und ich kenne niemanden, der perfekter dafür wäre als du."
„Danke", murmelte Rose geschmeichelt und nahm ihre Notizen wieder zur Hand. „Aber dafür muss ich lernen, sonst kann ich das vergessen. Und ich hab keinen Plan B."
„Du brauchst keinen Plan B", erwiderte Scorpius zuversichtlich und nahm ihr die Blätter ab.
„Das weißt du nicht", seufzte sie. Sicher, sie hoffte es, aber sie war erst ganz am Anfang, bis sich ihr Traum vielleicht erfüllen würde. Und sie wollte nicht jetzt schon scheitern.
„Du kannst das Lehrbuch zitieren. Du weißt, wie man einen Vielsafttrank und einen Wolfsbanntrank braut, wie man Grindelohs und Irrwichte vertreibt, wann Bodo der Bärtige gelebt hat, wie man einen Kelch in ein Kaninchen verwandelt und mit Teufelsschlingen fertig wird. Du weißt sogar, wie Flugzeuge fliegen." Rose lachte und Scorpius grinste. Er nahm ihre Hand und drückte sie aufmunternd. „Du schaffst das und du musst dir keine Sorgen machen. Ganz bestimmt nicht."
Sie schluckte. Er war so überzeugt von ihr. In seinen Augen lagen nicht die geringsten Zweifel, Zweifel, die in ihr nur allzu oft aufstiegen, egal, wie viel sie lernte und wie oft sie in Tests mit der Bestnote abschnitt. Ihre ganze Familie glaubte an sie, es gab niemanden, dem ihr Vater nicht stolz von ihren Leistungen erzählte, auch wenn er ihr mehr als einmal gesagt hatte, dass es nicht gut war, zu besserwisserisch zu sein.
Aber bei Scorpius war das irgendwie anders. Er musste nicht an sie glauben und sie ermuntern, weil sie verwandt waren und sich das eben so gehörte. Er tat es freiwillig und merkwürdigerweise verschwand etwas von der Nervosität, die sie seit Wochen fest im Griff hatte.
Sie schaute in seine blauen Augen und hätte ihn am liebsten geküsst. Er war ihr so nah und hielt immer noch ihre Hand und sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl, als er sie heute Morgen auf die Wange geküsst hatte und wie viel besser es sich doch anfühlen musste, wenn er sie auf den Mund küssen würde und wie er seine Arme um sie schlingen und näher zu sich ziehen würde…
Aber bevor sie auch nur irgendetwas tun konnte, hörte sie eine bekannte Stimme, die sie am liebsten vergessen hätte.
„Hier bist du." Carolina kam hinter einem Bücherregal hervor und Rose richtete sich schnell wieder auf. Merlin sei Dank hatte sie nichts gemacht. Sie hätte sich wahrscheinlich sowieso nicht getraut, aber der Gedanke war schon sehr verlockend gewesen. Doch er war nicht mit ihr zusammen und er sah sie nicht so und es hatte überhaupt keinen Zweck, auch nur mit dem Gedanken zu spielen. Sie würde sich nur selbst wehtun, wenn sie sich da noch weiter hineinsteigerte. „Wir wollten doch noch lernen."
„Ach ja, stimmt." Scorpius ließ ihre Hand los, legte ihre Notizen auf den Tisch und stand langsam auf. Dabei blickte er immer noch Rose in die Augen. Wenn er sie doch nur nicht so anschauen würde, dann wäre das alles so viel einfacher. „Viel Erfolg noch beim Lernen. Obwohl du eine Pause wahrscheinlich viel nötiger hättest."
Sie nickte und schaffte es endlich, sich von seinen Augen loszureißen. Rasch schaute sie zu seiner Freundin, die sie argwöhnisch beobachtete. „Man sieht sich, Rose."
Rose nickte erneut, unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen. Wehmütig sah sie zu, wie Carolina Scorpius' Hand ergriff. Die Hand, die ihre eigene noch vor ein paar Sekunden gehalten hatte. Sie bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie es ihr einen Stich ins Herz versetzte.
Merlin, es hatte sie wirklich schlimm erwischt. Und das schlimmste war, dass ihr Herz von ihm eigentlich nur gebrochen werden konnte. Ganz egal, ob er wusste, dass er es tat, oder nicht.
TBC …
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