In diesem undurchdringlichen Weiß, in dem Alice nicht lebt, sondern nur ist, ist das einzige, was sie bewusst wahrnimmt, dieser leichte Hauch von Karamell.
Nachdem dem Mittagessen bringt Schwester Meredith, diese liebevolle und sogleich forsche Pflegerin, ihrer Lieblingspatientin eine handvoll Karamellbonbons. Frühmorgens, noch bevor Schwester Meredith einen Fuß in das St. Mungo Hospital setzt, freut sie sich auf Alice' Reaktion auf die Süßigkeiten. Die einzige Reaktion, die sie ihr entlocken kann, wie sie vor Jahren feststellen musste, mit Ausnahme von ….
Ungeschickt, pummelig und stets unsicher mit sich und allen anderen, bringt er Farbe in Alice' Welt. Keine helle oder schimmernde Farbe, das ist nicht möglich. Aber eine winzige Ahnung davon.
Neville.
„Was ist, wenn er sich daran verschluckt? Frank, das ist ein Karamellbonbon!“ Frank grinst bloß und wickelt das süße, klebrige Zeug, das Alice nicht leiden mag, aus seinem Papier. Neville streckt die dicken kleinen Fäustchen in die Luft und jauchzt vor Freude. „Außerdem muss er ins Bett. Ich hab ihm schon die Zähne geputzt.“ Alice stemmt die Hände in die Hüften. Franks Grinsen wird breiter. „Du meinst seinen Zahn.“ Er schiebt Neville gerade ein kleines Stückchen Karamell in den Mund, als die Tür aufgesprengt wird und Bellatrix Lestrange mit erhobenem Zauberstab an der Türschwelle steht. Neville verschluckt sich vor Schreck, verschluckt das Fetzchen Bonbon und die Süße brennt ihm in der Kehle.
Brennt ihm jahrelang in seinen Alpträumen in seinem Hals, verätzt seine Speiseröhre und dann, endlich, wenn er keuchend und hustend aufwacht und diese gnädige Gewissheit, das der Traum vorbei ist, in sein Bewusstsein sickert, erbricht er sich.
Das was Alice fühlen lässt, das tut Neville unerträglich weh. Der bloße Hauch von Karamell.
*
Alice schiebt ihm ihr leeres Bonbonpapier in die Hand und augenblicklich wird es Neville speiübel. Wenn dieser Ausdruck von Traurigkeit in Nevilles Gesicht sich verstärkt, ahnt Alice' zerrütteter Geist dunkel, das es ihre Aufgabe ist, diesen Jungen zu beschützen. Und so steckt sie ein weiteres Bonbonpapier in Nevilles Tasche. Denn das, was sie sein lässt, müsste auch ihn trösten. Es muss.
Neville träumt wieder, von den schrillen Schreien, die ihn schon so lange verfolgen, von dem Trotz in den Augen seines Vaters, an den er sich nicht erinnert, aber so unglaublich nah in seinem Herzen fühlt und diesem stechenden Geschmack in seinem Rachen.
Nachdem er kotzt, erbricht, was schon so tief in ihm verwurzelt ist, dass es immer wieder zurückkehrt, rennt er zu seiner Großmutter. Augusta achtet nicht auf den sauren Gestank, der Neville anhaftet, hebt ihren Enkel zu sich ins Bett, sagt ihm streng, er solle schlafen und nachdem er in einen unruhigen Schlaf zurückfällt, weint Augusta. Weint um ihren Sohn und ihre Schwiegertochter. Weint um Neville.
*
Vom Karamell und diesem kleinen Jungen abgesehen, spürt Alice nur eine Ahnung von Gefühl, wenn sich ihre Hand wie von sanftem Zwang erhebt und über das schüttere Haar des Mannes streicht, der so lange schon ihr Gefährte in diesem leeren Weiß ist.
Auch wenn Alice längst nicht mehr weiß, wie man es nennt und wie man es richtig genießt, vergisst ihr Körper doch nicht, was es ist:
Liebe.
Alice hört auf den Namen Mrs Longbottom. Sie hört auf Alice. Ganz automatisch hört sie, auch wenn sie nicht weiß, was das bedeutet. Ihr Blick sucht dann den, der spricht.
Aber am liebsten hört Alice das Wort Mum.
„Muuuuuuum.“ Neville kreischt vor Freude über seinen Erfolg und augenblicklich erschrickt er, als Alice in das Kreischen einfällt. „FRANK! NEVILLE HAT MUM GESAGT!“ Sie lacht, hebt ihren Sohn auf und wirbelt ihn in der Luft. Frank kommt lächelnd herbei. „James sagt, Harry sagt auch schon Mum und Dad.“ „Harry sagt Momis und Dada“, widerspricht Alice, denn sie will jetzt nichts anderes hören, als das Neville das klügste Baby der Welt ist.
*
Wenn Neville traurig guckt, gibt Alice ihm ein Karamellbonbon und Neville sagt leise „Danke Mum.“
Alice ist Mrs Longbottom und Alice, aber am liebsten ist sie Mum.
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