von DoubleTrouble
Sam rannte die Wendeltreppe des Astronomieturms hinunter, so schnell sie konnte, die Hand immer noch fest mit Maggies verschlungen. Sie übersprang gleich mehrere Stufen und achtete nicht auf Maggies Protestieren, die nicht so schnell hinterherkam. Jetzt ging es um wichtigeres als um ein paar blaue Flecken oder Seitenstechen. Mit einem Sprung nahm sie die letzten fünf Stufen auf einmal. Maggie hatte ihre Absicht früh erkannt und sie landeten katzengleich im Korridor des siebten Stocks.
„Die Eulerei ist in dieser Richtung, oder?“, fragte Sam Maggie verunsichert und zeigte nach links. Maggie musste erst einmal tief Luft holen. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Rechtsrum ist es kürzer“, keuchte sie.
Ohne richtig zu Puste zu kommen, rannten sie los. Durch ihren schnellen Lauf schienen die dunklen Korridore, die von beiden Seiten des Ganges abzweigten, nur so vorbeizufliegen, und das Getrappel ihrer Schuhsohlen hallte fast unerträglich laut von den steinernen Wänden.
„Wir – wecken – noch – das – ganze – Schloss – auf“, keuchte Maggie.
„Scheiß â€“ egal“, erwiderte Sam und bremste so abrupt ab, dass Maggie mit ihr zusammenkrachte und sich das Kinn an Sams Hinterkopf stieß.
„Spinnst du?“, nuschelte sie undeutlich, da sie mit der Hand ihre schmerzende Kinnpartie bedeckte.
„Schtscht!“, zischte Sam und wedelte mit der Hand nach Maggie, ohne sie anzusehen. Maggie lehnte sich zurück, um ihre Finger nicht ins Gesicht zu bekommen.
„Jetzt auf einmal?“, flüsterte sie verwirrt.
„Psst!“, machte Sam noch einmal und schloss die Augen, um zu lauschen. In einiger Entfernung war dumpfes Knallen zu hören.
„Das klingt nach einem echt heftigen Kampf“, flüsterte Maggie. „Sollen wir nicht lieber - “
„Jetzt komm!“, zischte Sam und lief weiter in Richtung der Kampfgeräusche, aber diesmal achtete sie darauf, möglichst geräuschlos zu laufen.
Je näher sie der Eulerei kamen, desto lauter wurden die Geräusche. Zwischendurch waren auch unverständliche Schreie zu hören. Die Mädchen schlitterten gerade auf den abzweigenden Korridor zur Eulerei, als ein heller Lichtblitz die Wendeltreppe zum Turm erhellte. Dutzende Eulen kreischten panisch durcheinander, dann wurde Gepolter auf den Stufen laut. Rumms - rumms - rumms - Stufe für Stufe fiel jemand oder etwas die Treppe hinunter. Plötzlich rollte ein schwarzes, formloses Etwas aus dem Dunkel heraus und blieb am Fuße der Treppe liegen. Sam hielt vor Schreck die Luft an und Maggie schlug die Hände vor den Mund. Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen und mit ihr Sam, Maggie und das am Boden liegende, in sich verhedderte Bündel, dann regte sich etwas in dem schwarzen Stoff und stöhnte. In diesem Moment setzte Maggies wild schlagendes Herz einen Schlag aus, um dann nur noch umso heftiger gegen ihren Brustkorb zu pochen.
„Das - das - das lebt!“, stammelte sie durch ihre auf den Mund gepressten Finger hindurch. Sam stand bewegungsunfähig da und konnte nichts anderes tun, als auf das große, schwarze Ding zu schauen. Ein weiteres, tiefes Stöhnen ertönte und es rappelte sich auf und drehte den Kopf in alle Richtungen. Sam musste sich beherrschen nicht laut aufzuschreien. Mit Sicherheit war das ein Zauberer, der dort am Boden lag. Und ein Erwachsener noch dazu. Gerade, als sein Kopf in ihre Richtung zeigte, konnte sie im fahlen Mondschein erkennen, dass er ein dunkles Halstuch trug, um Mund und Nase zu verdecken, das durch den unsanften Sturz aber verrutscht war und ihm nun auch noch die Sicht nahm. Sam riss die Augen auf und packte Maggie am Handgelenk.
„Das ist er“, hauchte sie.
„Wer?“, fragte Maggie automatisch, obwohl sie die Antwort längst kannte.
„Der Vermummte“, flüsterte Sam und presste Maggies Hand so fest, dass es wehtat.
Gerade wollte der Vermummte seine Hände heben, um sich das Tuch vom Gesicht zu reißen, da sprang ein Schatten von der Treppe, landete hart auf ihm und er stürzte auf den Boden zurück, wo er sich schwer den Kopf stieß. Der Andere war sofort wieder auf den Beinen. Für einen Moment beleuchtete der Mond sein Gesicht und ließ tiefe Aknenarben auf seinen Wangen erscheinen, dann hatte er sich auch schon umgedreht und war davongerannt.
„Eugene!“, stieß Sam aus. „Los, wir müssen ihm helfen!“
Sie wollte schon aus dem sicheren Dunkel heraustreten, aber Maggie zerrte sie in den Korridor, aus dem sie gekommen waren. „Warte! Wenn er uns nun bemerkt?“
Sam biss sich auf die Unterlippe und sah Maggie an. Sie konnte sehen, dass Maggie sich ebenso sehr fürchtete wie sie selbst, doch aus ihren braunen Augen funkelte ihr Vernunft entgegen. Sam ballte die Hände zu Fäusten und linste um die Ecke. Der Vermummte lag immer noch am Boden und rührte sich nicht. „Aber wir müssen doch irgendwas tun, Maggie!“
„Vielleicht... wenn wir zu Professor Sprout gehen und Bescheid sagen?“, schlug Maggie zögernd vor.
„Die schläft doch bestimmt schon! Außerdem hab ich keine Ahnung, wo ihr Büro ist, du etwa?“, erwiderte Sam verunsichert.
„N-nein“, gab Maggie zerknirscht zu. „Und was ist mit Professor Longbo - Oh verdammt!“
Der Vermummte zappelte plötzlich heftiger als zuvor und befreite sich mit einem Ruck aus seinem langen verhedderten Umhang. Er rückte Kapuze und Halstuch zurecht und tastete auf dem Boden nach seinem Zauberstab. Vorsichtig streckten die beiden die Köpfe vor, gerade rechtzeitig um zu beobachten, wie er ihn mit einem triumphierenden „Ha“ von der ersten Treppenstufe auflas und die Treppe hinunter rannte.
„Und jetzt?“, fragte Maggie. Sie tänzelte nervös auf der Stelle und betete, dass Sam nicht das vorschlagen würde, von dem sie wusste, dass sie es vorschlagen würde.
„Na, wir folgen ihm, was sonst?“, sagte Sam auch prompt. Sie versuchte Maggie aufmunternd anzulächeln, die sich nichts sehnlicher wünschte, als selig schlafend in ihrem Himmelbett im Schlafsaal zu liegen. Sollten sich doch die Lehrer um den ganzen Schlamassel kümmern, die konnten sicher mehr ausrichten als sie. Aber hier war weit und breit kein Lehrer in Sicht, und wenn sie nicht bald etwas taten, würden Eugene und der Vermummte nicht mehr einzuholen sein.
„Na schön“, seufzte Maggie und ergab sich in ihr Schicksal. Kaum hatte sie ausgeredet, lief Sam auch schon los. Maggie hastete ihr hinterher, doch als Sam gleich in den ersten Korridor links abbog, blieb sie irritiert zurück.
„Wo willst du denn hin? Er ist doch da lang!“, stammelte sie verwirrt und zeigte geradeaus. Sam musste umkehren und sie erst am Arm ziehen, bis sie ihr folgte.
„Und Eugene hier entlang!“, schnaufte Sam und verfiel wieder in Laufschritt. Nach einigen hundert Schritten nahmen sie auch schon eine schmale Wendeltreppe in hohem Tempo und stolperten einen Stock tiefer in einen breiten Korridor.
Maggie blinzelte verdutzt. „Das Pokalzimmer? Bist du sicher, dass Eugene hier lang gekommen ist?“
Sam bückte sich plötzlich und hob eine kleine Pergamentrolle auf. Sie öffnete sie und überflog den Inhalt.
„Absolut“, sagte sie dann ernst und gab Maggie die Rolle, die leise murmelnd las, was darin stand.
„Keila, es tut mir so leid, dass du nur meinetwegen angegriffen wurdest... Es wird immer gefährlicher. Ich hoffe, dass ich die eine Woche bis zum Schuljahresende noch überstehe... Womöglich muss ich vorher schon fliehen und untertauchen... Okay, er ist hier lang gelaufen“, sagte Maggie und rollte Eugenes unvollendeten Brief wieder zusammen. „Und offensichtlich will er wirklich Hogwarts ver - “
„Schhh!“, zischte Sam. Maggie verstummte und lauschte mit weit aufgerissenen Augen. Draußen auf dem Gang vor dem Pokalzimmer wurden hastige Schritte laut.
„Das ist er!“, hauchte Sam. „Verdammt, was wenn er hierdurch will?“
Maggie betrachtete die Pokale in ihren Vitrinen. Filch musste jeden einzelnen tausendmal geputzt haben, so schön, wie sie glänzten... Groß und schwer sahen sie aus. Sie zückte ihren Zauberstab.
„Was hast du vor?“, fragte Sam. „Maggie, mach keinen Scheiß!“
Aber auf Maggies Lippen lag ein schmales Lächeln, sie reckte das Kinn entschlossen vor und in ihren Augen stand so etwas wie eiskalte Berechnung. Sie richtete den Zauberstab auf einen der offenen Schränke und flüsterte: „Wingardium Leviosa!“
Drei, vier, fünf Pokale flogen heraus und schwebten bis unter die Decke. Ganz langsam, den Blick fest auf die in der Luft hängenden Pokale gerichtet, ging sie rückwärts, bis sie halb verdeckt in der Nische hinter einem der Schränke stand. Sam tat es ihr nach. Auch sie starrte nur nach oben. Einen Moment lang herrschte atemlose Stille. Maggies Zauberstabhand war ganz ruhig, aber auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen von der Anstrengung, gleich mehrere Objekte schweben zu lassen. Dann wurden die Schritte auf dem Flur lauter und lauter, bis sie direkt vor der Tür zum Pokalzimmer verstummten. Sam sah klopfenden Herzens, wie sich die Tür langsam öffnete und der Vermummte hereinkam. So nah und in voller Größe hatten sie ihn bisher noch nicht gesehen. Er humpelte leicht, aber er bewegte sich dennoch leicht und geschmeidig durch den Raum. Er ging langsam, als wäre er auf der Hut und als ahnte er, dass etwas hier nicht stimmte. Als er direkt unter den schwebenden Pokalen stand, zischte Sam: „JETZT!“ und Maggie ließ mit einer raschen, abrupten Bewegung die Pokale auf den Vermummten hinunter fallen. Er sah auf, sah sein Unheil kommen und konnte nur noch den Arm über den Kopf ziehen, um sich ein wenig zu schützen. Aber gegen einen fünf Kilogramm schweren Quidditchpokal aus Silber mit einem Marmorsockel half das wenig. Der Vermummte ging stöhnend und schreiend zu Boden. Maggie blieb erschrocken stehen. „Hab ich - hab ich ihn jetzt umgebracht?“
„Nee, der lebt noch - Los, komm, weiter jetzt!“, rief Sam und zog sie am Ärmel weiter durch die andere Tür.
Die Tür am Ende des Pokalzimmers lag nahe einer breiten Treppe in die unteren Stockwerke. Maggie und Sam rannten so schnell sie ihre Füße trugen, um weit weg von dem Vermummten zu kommen. Doch auf halber Höhe der Treppe blieb Sam stehen und lehnte sich weit über das Geländer hinaus.
„Was machst du denn?“, fauchte Maggie ein paar Stufen weiter unten. Sam legte den Finger auf die Lippen und winkte sie zu sich heran. Sie deutete auf einen breiten Korridoreingang im unteren Stock, wo ein Schatten an der Wand sich rasch fortbewegte. „Das muss Eugene sein, sieh mal!“
Maggie lehnte sich übers Treppengeländer und starrte in die Richtung, in die Sam zeigte.
„Komm, wir müssen ihn einholen!“, rief Sam und rannte die Treppe hinunter. Maggie folgte ihr. Sie schwangen sich um den Treppenpfosten und bogen in den Korridor ein, in dem sie Eugene vermuteten. Doch der Korridor war verdächtig still und friedlich. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte Maggie, auch wenn sie nicht bestimmen konnte, was. Doch sie machte sich keine weiteren Gedanken, schließlich stimmte heute Nacht so einiges nicht. Sam lief ihr voraus und wollte gerade um die Ecke biegen, als sich plötzlich eine Tür am Ende des Korridors öffnete, jemand heraussprang, „STUPOR!“ brüllte und ein roter Lichtblitz den Gang erhellte.
Maggie schrie erschrocken auf, Sam warf sich auf den Boden und der Lichtblitz traf das Porträt direkt hinter Sam und brannte ein Loch in die Leinwand.
„Oh verdammt!“, sagte derjenige, der sie angegriffen hatte.
„EUGENE! WIR SIND'S, DU IDIOT!“, brüllte Sam und wedelte mit den leeren Händen durch die Luft.
„Wir?“, fragte Eugene misstrauisch, wagte sich aber einen halben Schritt aus der Tür heraus.
„Maggie und Sam!“, rief Maggie schnell, und stieß Sam mit dem Fuß in die Rippen, damit sich sie mit ihren Flüchen nicht heiser brüllte und alle auf sie aufmerksam machte.
„Was habt ihr denn hier zu suchen?“, wollte er mit einem resignierenden Seufzen wissen. Maggie war klar, dass er sich im Moment jemand anders als zwei neugierige Erstklässlerinnen an seiner Seite wünschte, dennoch sagte sie: „Wir wollen dir helfen!“
„Ihr helft mir am besten, wenn ihr abhaut!“, entgegnete Eugene mit gehetztem Blick und machte Anstalten, sie stehen zu lassen. Sam rappelte sich mit eselssturem Gesichtsausdruck auf die Beine, verschränkte die Arme und knurrte: „Das hättest du wohl gerne!“
Eugene stöhnte auf und sah die beiden fassungslos an, die sich mit verschränkten Armen vor ihm zu ihrer vollen Größe aufgereckt hatten.
„Ihr seid doch total - Geht sofort wieder in den Gryffindorturm! Oder ich ziehe jeder von euch 50 Punkte ab!“, sagte er und versuchte, sie so streng anzusehen, wie es ihm bei seiner Panik möglich war.
Sam fing so breit an zu grinsen, dass Maggie beinahe versucht war, selbst loszulachen.
„Schön, dann helfen wir dir eben nicht. Dann verrate ich dir aber auch nicht, wo der nächste Geheimgang ist, der dich direkt aus dem Schloss rausbringt“, sagte Sam beiläufig, zuckte mit den Schultern und wollte sich abwenden.
„Geheimgang? Und woher weißt du überhaupt, dass ich - “, fragte Eugene überrascht, doch dann brach er ab und richtete sich wieder auf. „Ich komm schon klar. Und ihr verschwindet.“
Sam wollte anfangen zu protestieren, aber Maggie legte den Finger auf die Lippen und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die drei lauschten angespannt. Irgendwo über ihnen polterte und stöhnte es.
„Ich glaub, er ist wieder richtig wach“, murmelte Maggie.
„Warum stehen wir hier dann noch so blöd rum?“, fragte Sam und begann zu laufen. „Los, folgt mir!“
Sam lotste sie den Korridor hinunter, bog im nächsten Gang rechts ab, dann wieder links und ganz am Ende wieder nach links. Schließlich stand sie vor der Statue von Gregor dem Kriecher und deutete strahlend darauf. „Filch hatte ihn zugegipst, aber wir haben von Max und Owen erfahren, dass hier ein Geheimgang sein muss. Fragt bloß nicht, woher die das wissen. Jedenfalls funktioniert er. Gabriel, Jonathan, Millard und ich haben ganze zwölf Wochen gebraucht, bis wir ihn frei hatten, und nochmal drei Wochen, bis wir rausgefunden haben, wie man reinkommt.“
Sam hämmerte mit der Faust auf Gregors Marmorschuh, dann ertönte ein Knacken und auf der Rückseite der Statue glitt der Sockel auf. „Er ist nicht sehr hoch, aber man kann durchkriechen...“
„Wahnsinn!“, hauchte Eugene verdutzt. „Und der bringt mich sicher aus dem Schloss? Wo komme ich dann raus? In Hogsmeade?“
Sam zuckte ratlos die Schultern. „Keine Ahnung, so weit sind wir nie gekrochen, das ist nämlich echt anstrengend. Aber es gibt frische Luft da unten, also muss er irgendwo ein Ende haben.“
Maggie starrte Sam ungläubig an. „Warte mal - du weißt nicht, wo der endet?“
„Nee, aber - “
„Geht's dir noch gut? Du kannst doch Eugene nicht in einen Geheimgang schicken, obwohl du nicht mal weißt, wo er rauskommt! Und vielleicht ist der Gang ja irgendwo so eng, dass man gar nicht mehr durchkommt! und dann steckt Eugene da fest und - also, du bist doch manchmal echt total bescheuert, Sam!“
Sie schüttelte fassungslos den Kopf.
Plötzlich wurden hinter ihnen Schritte laut. Maggie drehte sich erschrocken um und Eugene wich die restliche Farbe, die er noch gehabt hatte, aus dem Gesicht, als der Vermummte am Ende des Korridors erschien. Sie sahen, wie der Vermummte für einen Moment irritiert stehen blieb, dann zuckte sein Arm plötzlich und er riss seinen Zauberstab hoch.
„Worauf wartet ihr noch?! Los, weg hier!“, schrie Eugene, packte beide Mädchen an den Umhängen und sprang mit ihnen um die Ecke. Hinter ihnen explodierte der Fluch des Vermummten gegen eine Wand und der violette Lichtblitz erhellte den Flur und warf bizarre Schatten an die Wände. Maggie, Sam und Eugene rannten buchstäblich um ihr Leben. Wenn er sie jetzt erwischte ... Bloß nicht dran denken, ermahnte sich Maggie.
Der nächste Fluch traf ein Fenster, auf dessen Höhe Eugene sich gerade eben noch befunden hatte, und ließ es zersplittern. Keuchend erreichten sie den vierten Stock. Der Vermummte war immer noch dicht auf, hatte es aber aufgegeben ihnen Flüche nachzujagen, da sie in der Dunkelheit schlechte Ziele abgaben. Die Helme der Rüstungen im Verwandlungskorridor drehten sich mit quietschenden Scharnieren ihnen nach, als sie vorbeijagten. Maggie nahm Eugene, der allmählich erschöpft war, am Arm, damit er nicht in die Rüstungen hineinlief. Sam drehte den Kopf, um den Abstand zwischen ihnen und dem Vermummten abzuschätzen, da sah sie, dass er erneut den Zauberstab zog. Ohne nachzudenken riss sie ihren eigenen aus der Tasche, schwang ihn über die Schulter nach hinten und brüllte: „Petrificus totalus!“
Ein Scheppern ertönte und ihr war klar, dass sie ihr Ziel verfehlt hatte. Doch kurz darauf ertönte ein ohrenbetäubendes, blechernes Krachen, zwei Schritte später ein Weiteres und dann noch eins und noch eins. Sam wagte verdutzt erneut einen Blick zurück und sah Einzelteile von Rüstungen auf dem Boden des Ganges liegen. Mit lautem Scheppern und Krachen fielen immer mehr von ihnen, rissen dabei die nächste mit sich und bildeten eine fast endlose Reihe. Der Vermummte war mittendrin, musste über die Brustpanzer und Beinschienen springen, stieß immer wieder mit den Füßen gegen die klirrenden Blechteile und geriet ins Straucheln. Sam holte zu Maggie und Eugene auf und ließ sich zu einem kurzen Jubelschrei hinreißen, als ein weiteres Geräusch den Lärm hinter ihnen übertraf.
„PEEEEEVES!“, dröhnte der Jagdruf des Hausmeisters durch die Korridore.
„Na, der hat uns gerade noch gefehlt!“, keuchte Sam und stolperte über ihre eigenen Füße, als sie sich hastig umsah, ob der Vermummte wieder aufholte. Eugene konnte sie gerade noch auffangen.
„Obwohl - vielleicht kann Filch uns ja helfen!“, rief Maggie ihr zu. Sam versuchte, Maggie genervt anzuschauen, aber bei all dem Gerenne und Gekeuche wirkte das überhaupt nicht wie beabsichtigt.
„Filch - kann - nicht - zaubern!“, schnaufte sie und schlitterte um eine Säule herum. „Aber - vielleicht - ist - ja - Peeves - hier - wirklich - irgendwo!“
„Hat hier jemand nach dem guten alten Peevsie gerufen?“
Direkt vor ihnen kam der Poltergeist von Hogwarts aus einem Klassenzimmer geschwebt, machte einen Purzelbaum in der Luft und blieb mit dem Kopf nach unten hängen. In der Hand hielt er Kreide, womit er offenbar die Tafel verschönert hatte.
„Peeves! Merlin sei Dank!“, rief Maggie und lief direkt auf den Poltergeist zu.
„WAS?“
Peeves, Sam und Eugene starrten Maggie fassungslos an. Peeves, weil sich noch nie jemand gefreut hatte, ihn zu sehen, Sam, weil sie wusste, dass Maggie von Peeves die Nase voll gehabt hatte nach ihrer Unglückswoche, in der sie mehrere unerfreuliche Begegnungen mit ihm gehabt hatten, und Eugene, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, wie Maggie sich über etwas freuen konnte, wenn doch der Vermummte hinter ihnen her war.
Maggie achtete nicht auf sie, duckte sich unter dem mitten im Gang kopfüber hängenden Peeves hindurch und rannte weiter. Über die Schulter schrie sie Peeves zu: „Bleib gefälligst genau dort und halt alles auf, was hinter uns herkommt!“
Peeves schlug verdutzt ein paar Purzelbäume, dann schlitterte der Vermummte in den Korridor und wie durch ein Wunder schoss Peeves mit gehässigem Gegacker auf ihn zu und begann Kreide nach ihm zu werfen.
„Ich fass es nicht! Er hat auf dich gehört!“, krächzte Sam. Ihr Mund war staubtrocken und ihre Lunge brannte. Erst jetzt bemerkte sie, wie geschlaucht sie war.
„Die Treppe!“, keuchte Eugene, ihnen voran. Mit seinen langen Beinen war er ihnen einige Schritte voraus. Gerade als er die erste Stufe erreicht hatte, ertönte ein Knarzen und Schaben und die Treppe fing an sich von ihrem oberen Absatz zu lösen, um ihre Richtung zu wechseln, wie es die Treppen in Hogwarts so an sich hatten.
„Mist, Mist, Mist!“, riefen Sam und Maggie im Chor. Eugene hatte angehalten und sich erschrocken umgedreht.
„Das schaffen wir noch!“, rief Sam und dachte nicht daran ihren Lauf zu bremsen.
„Bist - du -?“, keuchte Maggie entsetzt. Aber Sam hatte sie schon am Arm gepackt und das „-verrückt?!“ blieb ihr im Halse stecken. Sie erreichte den Absatz und drückte sich mit aller Kraft ab. Der Spalt war noch nicht sehr groß, aber Maggie war vor Schreck langsamer geworden und nicht richtig abgesprungen. Sam verlor das Gleichgewicht, ließ Maggie los und landete mit dem linken Fuß hart auf einer Stufenkante. Ihr Fuß knickte um, sie prallte gegen das Treppengeländer und rollte ein paar Stufen nach unten. Eugene fing Maggie mehr schlecht als recht auf, der Schwung riss ihn beinahe um, doch er schaffte es sich auszugleichen und setzte Maggie auf den Stufen ab.
„Sam!“, stieß Maggie hervor. Sam hatte sich aufgesetzt. Ihr Knöchel brannte, aber sie hatte kein Knacken gespürt, also war alles in Ordnung. Maggie und Eugene zogen sie auf die Beine.
„Das war wirklich - wirklich die allerdümmste Idee, die du jemals hattest!“, fuhr Maggie auf.
„Stimmt, das war gefährlich und dumm!“, pflichtete Eugene ihr bei. „Aber jetzt haben wir wenigstens einen kleinen Vorsprung. Los, kommt!“
Maggie legte Sams Arm um ihre Schultern und humpelte mit ihr die ersten Schritte in den nächsten Korridor, bis der Schmerz nachließ und sie wieder allein gehen konnte. Eugene ging ihnen voraus, mit angespannter Haltung, und schaute vorsichtig in jeden Gang hinein.
„Warte!“, sagte Sam, als sie das große Portrait eines bärbeißigen, alten Zauberers wiedererkannte. Sie ließ Maggie los, humpelte näher heran und legte die Hand an den abblätternden Goldrahmen. Nach einem leichten Zug schwang er auf und gab den Blick auf einen steinernen, breiten Geheimgang frei.
„Du kennst dich viel besser aus, als du immer sagst!“, meinte Maggie erstaunt. Manchmal war sie fast ein bisschen enttäuscht, dass Sam ihr solche Dinge einfach vorenthielt. Sam zuckte nur verlegen die Schultern.
„HIERGEBLIEBEN, SCHWARZER MANN! Sieh dir an, was Peevsie kann!“, ertönte plötzlich ein Schrei ganz in ihrer Nähe.
„Los, rein da!“, zischte Eugene, drängte die Mädchen in den dunklen Gang und schlug das Portrait zu. Um sie herum wurde es stockdunkel. Sie hörten Eugenes Umhang rascheln, dann einen dumpfen Klang von Holz auf Holz und Eugene flüsterte: „Colloportus!“
Mit einem glucksenden Geräusch versiegelte sich der Eingang.
Atemlos blieben sie stehen und lauschten. Genau in diesem Moment hörten sie laute Schritte, die sich in ihre Richtung bewegten, immer näher kamen - und sich wieder entfernten. Peeves rauschte gackernd vorbei und Maggie stellte sich vor, wie er den Vermummten mit Kreide bombardierte. Das würde ihm ganz recht geschehen, fand sie.
„Hoffentlich weißt du wenigstens, wo der Gang hier endet“, sagte Eugene, bevor er mit einem hastig gemurmelten „Lumos!“ die Spitze seines Zauberstabs leuchten ließ und den Gang und ihre schweißüberströmten Gesichter in helles Licht tauchte.
„Klar weiß ich das!“, sagte Sam empört und ging voran.
Sie stapften eine Weile durch den abschüssigen Geheimgang und schwiegen, bis Eugene plötzlich verärgert zischte: „Verflucht, wieso müsst ihr euch eigentlich überall einmischen?!“
„Hätten wir uns nicht eingemischt, hätte dich der Vermummte schon lang gekriegt“, sagte Sam hochmütig, drehte sich um und lief rückwärts weiter, damit sie Eugene ansehen konnte.
„Weißt du, wer es ist?“, wollte Maggie wissen. Eugene runzelte die Stirn und schien zu überlegen. Er kaute auf seiner Unterlippe.
„Nein...“, antwortete er schließlich langsam. „Und selbst wenn,-“
„Würdest du es uns nicht sagen“, beendete Maggie genervt seinen Satz. Sam wandte sich wieder um, blieb stehen und machte sich an einem Spalt in der Wand zu schaffen. Ein leises Klicken ertönte und das Portrait, das den Ausgang verbarg, schwang zur Seite.
„Dritter Stock, Endstation!“, verkündete Sam lächelnd und ließ Maggie und Eugene heraustreten.
„Mal den Teufel nicht an die Wand!“, warnte Maggie und sah sich wachsam im Gang um.
„AHA!“, ertönte auf einmal ein raues Keuchen ganz in ihrer Nähe. Ein Schatten sprang aus dem Dunkeln.
„Verdammt, Sam!“, schrie Maggie auf und riss sie zur Seite, bevor der Vermummte seine Flüche auch nur aussprechen konnte. Zu Sams Überraschung fielen sie direkt durch einen dunkelgrünen Wandbehang, hinter dem eine steile Treppe weiter nach unten führte. Im Korridor blitzte und knallte es zweimal. Sie rissen ihre Zauberstäbe gerade aus den Taschen, als der Wandteppich sich erneut öffnete und Eugene hereinstürzte. Er rannte direkt an ihnen vorbei, unfähig etwas zu sagen, sondern nur mit den Armen fuchtelnd. Maggie folgte ihm, doch Sams Blick war immer noch auf den Wandbehang gerichtet. Wenn der Vermummte ihnen folgte...
„Sam, worauf wartest du?!“, donnerte Eugene. Sam starrte auf die dunkelbraune Rückseite, den Zauberstab fest in der Hand. Sie wusste, dass sie Handbewegung immer noch falsch ausführte, doch wenn es einen Zauber gab, den sie mehr als alle anderen beherrschte... Der Wandteppich dellte sich in der Mitte ein, da riss sie ihren Zauberstab in die Höhe, ließ ihn nach vorne schnellen und brüllte: „Incendio!“
Blendend helle, sattgelbe Flammen brachen aus dem sicherlich Jahrhunderte alten Teppich hervor und direkt dahinter hörte sie den Vermummten einen gellenden Schrei ausstoßen. Hoffentlich hat er sich verbrannt, dachte sie gehässig, als sie sich umdrehte um Maggie und Eugene hinterher zu rennen. Und hoffentlich tut es richtig hässlich weh.
Und weiter rannten sie, die Treppe hinab, durch eine weitere hinter einem Wandteppich verborgene Tür in einen düsteren Korridor, in dem weder Maggie noch Sam jemals gewesen waren. Sie überließen Eugene die Führung, der sich nach kurzem Zögern nach rechts wandte, in einen weiteren Flur einbog, der schließlich einen hohen, von Säulen gesäumten Korridor kreuzte. Geradeaus endete der Weg auf einem Balkon, also blieben ihnen nur zwei Möglichkeiten.
„Wo lang jetzt?“, fragte Maggie. „Rechts oder links?“
„Links!“, rief Sam und wandte sich bereits in diese Richtung.
„Da lang!“, rief Eugene und rannte nach rechts. Nach kurzem Zögern folgte Maggie ihm. Sam mochte zwar Geheimgänge kennen, von denen sie keine Ahnung hatte, aber dennoch traute sie Eugenes Orientierungssinn ein wenig mehr zu. Sam stoppte sofort, wechselte die Richtung und jagte Maggie und Eugene hinterher. Sie war sich sicher gewesen, dass es nach links zur Marmortreppe ging, aber Eugene war schon seit sieben Jahren in Hogwarts, daher hatte sie sich wohl getäuscht. Sie holte zu den beiden auf und merkte dabei, wie ihr linker Knöchel, mit dem sie umgeknickt war, zu stechen anfing. Vor ihnen wurde der Korridor immer schmaler und dunkler und endete schließlich in einer schweren Eichenholztür. Sie konnte gerade noch stoppen, bevor sie in Maggie hineinkrachte, die erwartungsvoll auf der Stelle tänzelte, während Eugene mit aller Kraft an der Tür rüttelte.
„Verschlossen!“, keuchte Eugene überrascht.
„Na, toll!“, zeterte Sam sofort los. „Hättet ihr mal auf mich gehört!“
„Ach, halt die Klappe, Sam!“, fuhr Maggie ihr dazwischen. Sam schüttelte sich vor Empörung. Zuerst warf sie Maggie einen giftigen Blick zu, dann stierte sie Eugene an, verpasste ihm einen harten Schlag in die Rippen und fauchte: „Das ist deine Schuld, Blödmann!“
Ein roter Lichtstrahl sauste knapp über ihren Köpfen entlang, ließ ihre Haare zu Berge stehen und explodierte hinter ihnen an der Wand. Der Vermummte hatte wieder aufgeholt, und obwohl sein schwarzer Umhang schon ziemlich lädiert aussah, schien er immer noch im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein und schoss einen Zauber nach dem anderen auf sie, während er immer näher kam. Eugene stellte sich schützend vor Maggie und Sam und brüllte: „Protego!“.
„Jetzt sitzen wir echt in der Falle!“, wimmerte Sam, während die Schockzauber an Eugenes magischem Schutzschild abprallten.
„Sei jetzt endlich ruhig und geh da weg!“, fauchte Maggie und zog Sam unsanft von der Tür weg. Sie richtete den Zauberstab auf das Schloss und sagte: „Alohomora!“
Ein beruhigendes Klicken war zu vernehmen. Maggie legte die Hand an die Klinke.
„Und jetzt hilf Eugene, damit wir hier wegkönnen!“, wies sie Sam an. Die fackelte nicht lange, sie zielte mit ihrem Zauberstab auf den Vermummten und rief: „Petrificus Totalus!“
Der Zauber traf nicht, der Vermummte konnte ihn abwehren, doch diese eine kurze Sekunde reichte ihnen, um Eugene zu packen und durch die Tür zu ziehen. Sie schlugen sie hinter sich zu und Eugene murmelte hastig „Colloportus!“.
Die verschlossene Tür würde ihren Verfolger nicht lange aufhalten, aber auf jeden Fall würde es ihnen Zeit verschaffen.
Sie gelangten in einen breiten, fackelbeleuchteten Gang, von dem etliche Türen abzweigten. Ohne auch nur eine von ihnen weiter zu beachten, spurteten sie ihn entlang, und ganz unvermittelt standen sie vor der breiten, hellen Marmortreppe.
„Ja!“
Maggie und Sam klatschten beieinander ein. Zu beiden Seiten des großen Siebtklässlers stiegen sie die Stufen hinab, die Zauberstäbe fest in der Hand. Sie drehten die Köpfe in alle Richtungen, der Vermummte konnte jederzeit wieder auftauchen. Die Mädchen wollten die Eingangshalle an einer im Schatten liegenden Seite durchqueren, doch Eugene tippte ihnen auf die Schultern, öffnete eine schmale Tür zu ihrer Rechten und drängte sich mit ihnen hinein. Sam wurde schlagartig bewusst, wie klein der Raum dahinter war, als sie mit dem Gesicht an eine Wand gepresst wurde und Maggie sich den Kopf an einem hölzernen Regalbrett stieß. Es roch nach scharfem Putzmittel und abgestandenem Schmutzwasser und als Eugene sich zu ihnen quetschte und die Tür zuzog, stieß sie etwas mit dem Knie um und kaltes Wasser schwappte über drei paar Schuhe. Sie konnte Maggie neben sich angeekelt quietschen hören.
„Was zum Teufel machen wir in Filchs Besenschrank?“, murmelte Sam dumpf der Wand zu.
„Sch!“, machte Eugene. „Wir können nicht zum Portal raus! Das ist viel zu offensichtlich! Außerdem hatten wir kaum Vorsprung! Schsch! Hört ihr?“
Sie lauschten und konnten schnelle, forsche Schritte ausmachen, die von den steinernen Wänden widerhallten. Kurz darauf folgte ein lautes Ächzen von Holz und Eisen. Sam spürte einen Luftzug und unvermittelt wurde ihr bewusst, wie eklig sich ihre Füße in den überschwemmten Schuhen anfühlten.
Sie hörten, wie die schwere Portaltür leise ins Schloss fiel, dann war alles still. Die drei warteten noch ein paar Minuten, um ganz sicher zu gehen. Dann öffnete Eugene vorsichtig die Tür des Besenschrankes, den Zauberstab kampfbereit vorgestreckt, falls der Vermummte doch versuchte, sie zu überlisten.
„Alles klar“, murmelte er dann und stieß die Tür ganz auf. Aufatmend stolperten sie aus dem engen, nach magischem Fleckenreiniger stinkenden Kabuff.
„Schnell, hier lang“, flüsterte Eugene und führte sie an der Marmortreppe vorbei zu dem Korridor, der auf den kleinen Pausenhof hinausführte. Sie schlichen zu der Tür zum Pausenhof und zogen sie leise auf.
„PEEEEEEEVES! DAFÜR FLIEGST DU RAUS!“, brach Filchs Zorn ein paar Stockwerke über ihnen urplötzlich aus. „DER VERWANDLUNGSKORRIDOR VERWÜSTET! DIE RÜSTUNGEN IN TRÜMMERN! ÜBERALL KREIDE, DRECK, CHAOS! DAS WAR DAS LETZTE MAL! ICH GEHE ZUR SCHULLEITERIN UND DANN WERFEN SIE DICH AUS DER SCHULE!“
„Uuuups“, machten Maggie und Sam gleichzeitig. Dann begannen sie zu lachen. Die ganze Anspannung, Angst und Sorge entlud sich in befreiendem Gelächter, in das Eugene einfach einstimmen musste, so ansteckend war es.
„Gute Idee, nicht das Portal zu nehmen“, sagte Maggie anerkennend, als sie sich wieder gefangen hatte.
„Danke!“, nickte Eugene milde lächelnd.
„So ziemlich die einzige gute, die du hattest“, fügte Maggie etwas kühler hinzu. Sam verschränkte die Arme und nickte.
„Was für ein Glück, dass wir da waren. Wir haben dir den Arsch gerettet, Mann“, sagte sie.
Eugene seufzte und verdrehte die Augen. „Das sehe ich anders, aber lasst uns jetzt nicht darüber streiten. Sagen wir, wir haben uns gegenseitig gerettet?“
Maggie und Sam schauten einander an, dann nickten sie kurz.
„Danke übrigens“, sagte Eugene und es klang, als hätte er einen ziemlichen Kloß im Hals. „Das mit dem Geheimgang und mit Peeves... ohne euch, da wär ich jetzt – vielleicht-“
„Jaja, wir wissen schon“, schnitt Maggie ihm hastig das Wort ab. Sie wusste bei so schrecklich emotionalen Szenen nie, was sie sagen sollte.
Eugene schaute betreten auf seine Füße. Sam trat näher an ihn heran und sah zu ihm auf. Sie hielt es nicht mehr aus und das war vielleicht die letzte Gelegenheit.
„Was will der Kerl von dir?“, fragte sie. „Was hat der Kram mit den Siegeln auf sich? Warum ist er so... wieso tut er dir und Keila weh?“
Eugene seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Der Kampf und die Flucht durch das ganze Schloss hatten deutliche Spuren hinterlassen, sein Gesicht war schweißüberströmt, zerkratzt und aufgeschürft.
„Bitte“, sagte er schließlich flehend. Seine Stimme klang unendlich müde. „Bitte haltet euch da raus. Ihr wisst eh schon viel zu viel und ihr habt selbst gesehen, wie weit dieser Kerl geht... Wirklich, es ist besser so.“
„Na toll, um dir den Arsch zu retten und dabei selbst fast draufzugehen, dafür sind wir gut genug, aber nicht für die Hintergründe?“, empörte sich Sam. „Das kannst du vergessen, dass wir uns da raushalten! Stimmt's, Maggie?“
„Genau“, bekräftigte ihre beste Freundin. „Wenn ich mich schon fast umbringen lasse, dann will ich wenigstens wissen, wofür.“
Eugene trat einen Schritt nach hinten. Er sah aus, als wollte er sich umdrehen, weglaufen und die Mädchen einfach stehen lassen, doch er zauderte. Seine Augen waren glasig geworden und er blinzelte heftig. Sam hatte die Befürchtung, er würde gleich anfangen zu weinen.
„Ich - “, krächzte er, schluckte und atmete tief durch. „Das ist ein Familiengeheimnis. Ich kann nicht-“
„Keila war doch nicht aus deiner Familie!“, unterbrach ihn Maggie und hob zweifelnd eine Augenbraue. Sam bewunderte sie manchmal dafür, wie ihr selbst in solchen Situationen diese Kleinigkeiten auffielen.
„Hört auf, ihr beiden!“, sagte er mit gebrochener Stimme und legte ihnen die zitternden Hände auf die Schultern. „Ich - wir - sind noch nicht außer Gefahr. Ich muss Hogwarts auf der Stelle verlassen und ihr solltet zusehen, dass ihr-“
„Und wie willst du hier rauskommen?“, warf Sam ein. „Man kann hier nicht einfach rausapparieren oder fliegen oder so. Maggie hat's mir erzählt. Sie hat die Geschichte Hogwarts gelesen!“
Maggie nickte bestätigend.
„Toll, dass du dir auch mal was gemerkt hast, was ich dir erzählt habe“, sagte sie grinsend und wich Sams Schubser blitzschnell aus. Eugene lachte zittrig. „Das weiß ich doch alles. Ich muss es nur bis zur Grenze des Schulgeländes schaffen, hinter dem Portal kann ich apparieren.“
„Und das willst du ganz allein schaffen? Wo doch dieser Verrückte draußen rumläuft?“, entgegnete Sam mit unverhohlenem Spott. „Du brauchst ein Ablenkungsmanöver!“
„Ich hab kein...“, sagte Eugene langsam. Maggie stöhnte genervt auf.
„Wir machen das! Wir lenken ihn ab, du verschwindest!“
Eugene schüttelte heftig den Kopf.
„Das ist zu gefährlich. Das kann ich nicht von euch verlangen!“, sagte er entsetzt und wich ablehnend noch weiter zurück.
„Musst du auch nicht. Wir wollen dir helfen!“, beteuerte Maggie.
„Wir machen es freiwillig!“, stimmte Sam zu. Eugene wechselte mit den Blicken zwischen den Mädchen. Er sah verzweifelt aus.
„Wenn ihr das wirklich für mich tun wollt... Wie kann ich euch bloß danken?“, stammelte er.
„Vielleicht erzählst du uns einfach bei Gelegenheit, wofür wir das alles getan haben“, seufzte Sam nach einem kurzen Blickwechsel mit ihrer besten Freundin. Maggie nickte. Sie sah blass, aber entschlossen aus.
Gryffindor, ermahnte sie sich selbst, du bist in Gryffindor. Du schaffst das.
„Schön“, sagte sie laut. „Wollen wir's hinter uns bringen?“
Eugene nickte stumm, trotzdem stand er einfach nur hilflos im Pausenhof und betrachtete ein Büschel Gras mit unnötiger Aufmerksamkeit.
„Sam und ich locken den Vermummten, so weit wir können, vom Portal weg. Aber auch nicht zu weit, das wird sonst verdächtig“, nahm es Maggie in die Hand. „Lauf am Waldrand entlang, wir versuchen es bei den Gewächshäusern.“
„Ihr beide...“, sagte Eugene rührselig und fuhr sich durchs Haar. „Ihr seid die wunderbarsten Mädchen, denen ich je begegnet bin!“
„Oh, Gott, hör sofort auf damit, sonst muss ich kotzen!“, sagte Sam und rollte mit den Augen, doch sie strich sich die langen blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, was sie nur tat, wenn sie verlegen war.
Eugene kam auf sie beide zu, drückte Maggie und Sam an sich und flüsterte: „Ich stehe wirklich in eurer Schuld. Wie kann ich mich nur je dafür bedanken?“
Sam knallte ihm erneut den Ellbogen in die Rippen, dass er nach Luft schnappte, wand sich von ihm los und meinte: „Schick uns einfach 'ne verdammte Eule, wenn du heil davongekommen bist!“
Der picklige Junge fing leise an zu glucksen. „Vielleicht seid ihr auch die schlimmsten Mädchen, denen ich je begegnet bin. Maggie ist viel zu klug für eine einzige Hexe und du, Sam, du fluchst schlimmer als mein Urgroßvater!“
Maggie fing haltlos an zu kichern. „Er hat recht, Sam, du bist furchtbar!“
Sam klappte die Kinnlade runter und sie sah beide entgeistert an. „Ich bin - ich bin - gestresst!“
Eugene grinste, dann straffte er sich.
„Seid ihr wirklich sicher?“, fragte er nochmals.
„JAHA!“, riefen Sam und Maggie im Chor. Eugene lächelte schmal, dann drückte er ihnen unbeholfen die Hände.
„Wir hören voneinander, versprochen“, sagte er.
„Jetzt geh schon“, drängte Maggie und schob ihn zum Ausgang des Pausenhofes, der auf das offene Schlossgelände führte.
Sie warteten noch, bis Eugene sich einige Schritte entfernt hatte und in der Dunkelheit der Schlossmauer verschwunden war, dann rannten sie los, in Richtung der Gewächshäuser.
„Da lang! Hier links!“, fing Maggie auf einen Wink hin an zu schreien, als sie auf halbem Weg zu den dunkel schimmernden Gewächshäusern waren.
„Nein, das ist die falsche Richtung! Zu den Gewächshäusern!“, brüllte Sam so laut, dass das halbe Schloss aufwachen müsste.
„Eugene, lauf schneller!“, kreischte Maggie.
„Wartet auf mich! Wartet!“, rief Sam. Sie rannten an den Gewächshäusern vorbei und sahen sich einen Moment von hellem Mondlicht beleuchtet ins Gesicht.
„Können - nur - hoffen - dass - uns - jemand - hört!“, keuchte Sam.
„Dachte - ich - auch - gerade!“, hechelte Maggie.
Die beiden drehten noch eine Runde um die Gewächshäuser und Maggie begann plötzlich zu überlegen, ob der Vermummte wohl wirklich auf ihre Show hereinfallen würde. Er war schließlich nicht dumm. War das wirklich sinnvoll, was sie hier taten? War der Vermummte nicht vielleicht doch ganz woanders? Hatte er Eugene eine Falle gestellt und ihn bereits überwältigt? Würden sie das überhaupt merken? Oder würden sie die ganze Nacht über das Schlossgelände rennen, ohne dass der Vermummte sie beachtete? Wäre alles vergebens?
Maggie war fast erleichtert, als scheinbar aus dem Nichts ein Schockzauber geflogen kam und Sam um Haaresbreite verfehlte.
Er hat es uns abgekauft, dachte sie erleichtert, bevor der nächste Schockzauber sie mitten ins Kreuz traf und sie vornüber kippte und mit dem Kopf direkt auf einer Wurzel aufschlug.
Gelbe und rote Flüche sirrten links und rechts an Sam vorbei, ein paar flogen über sie hinweg und einige explodierten kurz hinter ihren Fersen.
„Was für eine Scheißidee!“, brüllte sie wütend. Sie erwartete eine Antwort von Maggie, irgendetwas, das ihr wieder Hoffnung gab, oder zumindest Trotz hervorrief, doch Maggie war stumm. Sam drehte den Kopf, ein weiterer Schockzauber schoss an ihr vorbei. Aber Maggie war nicht da. Sie war ganz allein.
Lass es Eugene geschafft haben, betete sie im Stillen. Lass es ihn geschafft haben. Ich muss Maggie finden.
Sie schlug einen Haken, suchte die dunkle Wiese nach Maggie ab, konnte aber nichts entdecken.
„Ich brauche Licht!“, heulte sie auf. Plötzlich schossen aus allen Richtungen Zauber und Flüche auf sie zu. Mit einem Aufschrei warf sie sich aus dem Weg. Ihr linker Schuh blieb in einem Erdloch stecken, während sie fiel. Sie spürte ein unerträgliches Ziehen, hörte ein Knacksen und in ihrem Fuß breitete sich glühend heißer Schmerz aus. Doch dann sah sie einen dunklen Haufen im Gras liegen. Maggie...
Mit tränenverschleiertem Blick kroch sie die letzten Meter zu ihr, fand eine ihrer Hände und drückte sie.
Wenn sie nur nicht tot war, dachte sie fieberhaft. Bitte, lass sie nicht tot sein.
Sie versuchte fahrig, einen Puls zu fühlen, aber es war nicht leicht, sich zu konzentrieren, wenn Flüche über den eigenen Kopf hinwegsausten.
Es schienen immer mehr zu werden. Das konnte doch nicht nur ein Mensch sein, dachte Sam. Der pochende Schmerz in ihrem Fuß schien nun auch ihr Gehirn zu lähmen, so langsam dachte sie. Hatte der Vermummte einen Komplizen?
Rufe vom Schloss her wurden laut und kamen näher.
„Stehen bleiben!“, rief jemand.
Merkwürdig vertraut schien ihr die Stimme zu sein und langsam hob sie den Kopf und blickte mit schmerzvernebeltem Blick hinüber zum jetzt hell erleuchteten Schlossportal. Davor stand jemand, nur schemenhaft zu erkennen, und feuerte Flüche auf jemanden ab, der außerhalb ihres Blickfeldes stand.
Das Blitzen und Knallen wurde zu flackerndem, bunten Leuchten und dumpfen Wummern. Sam hatte das Gefühl, dass sich der Kampf von ihr entfernte, doch vielleicht wurde sie nur langsam ohnmächtig. Ihr Bein schmerzte höllisch und ihr wurde mit einem Mal kotzübel. Die Gestalt kam humpelnd vom Schlossportal herüber. Humpelnd... Sams Verstand regte sich ein bisschen. Der Vermummte war einmal gehumpelt... Sie drehte sich auf den Rücken und hob den Kopf an, um nach dem Kampf zu sehen. Es konnte nicht der Vermummte sein, der war doch dort drüben und schoss Flüche auf die anderen... Sam sank zurück auf das kühle Gras.
Im sternbedeckten Himmel erschien ein hartes, narbenbedecktes Gesicht.
„Alles in Ordnung, Mädchen?“, knurrte Professor Seaver.
„Mmhm, schaffen 's schon, -fessor!“, nuschelte Sam.
„Wartet hier! Bewegt euch nicht!“, wies Professor Seaver sie an. Sam nickte schwach, fragte sich aber mit unverständlicher Belustigung, wie Maggie und sie wohl von hier fliehen sollten. Doch sie hatten nichts mehr zu befürchten. Die Lehrer kämpften gegen den Vermummten, sogar zwei richtige Auroren waren dabei. Professor Seaver nickte ihnen zu und kehrte zum Schloss zurück. Das Kämpfen hatte aufgehört, es blitzte nicht mehr, aber eine gewisse Spannung lag immer noch in der Luft.
„Die Mädchen sind hier!“, rief der alte Auror einem anderen Lehrer zu, der auf sie zugelaufen kam.
„Geht es ihnen gut?“, rief der zurück, und Sam erkannte Professor Longbottom. „Der Kerl ist verschwunden, wir müssen eine Suchaktion starten, aber lass uns erst die Mädchen aus der Gefahrenzone schaffen.“
„Ich kümmer mich drum, Neville“, sagte eine tiefe und vertrauenerweckende Stimme. Ein großer Schatten fiel über Sam, die immer noch krampfhaft Maggies Hand festhielt. Hagrid beugte sich nieder und hob Maggie auf, als wäre sie eine Puppe.
„Kannst du laufen?“, fragte er Sam besorgt. Sie nickte müde und ließ sich von ihm auf die Beine stellen. Ihr Fuß schmerzte, als sie ihn belastete, aber sie biss die Zähne zusammen und humpelte Hagrid hinterher. Der Schmerz vernebelte ihre Sinne so sehr, dass sie den Weg ins Schloss kaum mitbekam. An den Treppen musste sie sich dennoch an Hagrids Hemdärmel festklammern, damit sie nicht stürzte. Hagrid steuerte sie direkt auf den Krankenflügel zu. Auf halbem Weg kam ihnen die Schulkrankenschwester in Nachthemd und plüschigen Pantoffeln entgegen.
„Du meine Güte, Hagrid, was ist denn da draußen nur los?“, rief sie aufgebracht, als sie ihn unschwer im Licht ihrer Laterne erkannte. Dann fiel ihr Blick auf Maggie in Hagrids Armen und auf Sam, die neben ihm her schwankte, und sie stieß einen spitzen Schrei aus.
„Erstklässler! Was habt ihr denn bloß dort draußen gemacht! Jetzt aber ab in den Krankenflügel!“, rief sie und griff resolut nach Sams Arm, um sie zu stützen.
Dankbar lehnte Sam sich auf sie und wankte den Gang und die Treppen mehr entlang als dass sie ging. Als sie die Marmortreppe hinaufstiegen, fiel ihr Blick auf Mr Filch, der sich mit hochrotem Kopf und zitternden Wangen bei einer sehr verschlafen dreinschauenden Sprout über Peeves angebliche Schandtaten dieser Nacht beschwerte. Selbst in ihrem benebelten, halb ohnmächtigen Zustand wurde ihr die Komik des Augenblicks bewusst und sie begann leise zu kichern. Hagrid und Madam Pomfrey sahen sie besorgt an, als befürchteten sie, dass sie nun vollkommen den Verstand verloren hatte.
Endlich erreichten sie den Krankenflügel und Madam Pomfrey verfrachtete Sam in ein Bett. Hagrid legte Maggie in das Bett daneben und verließ dann den Krankenflügel.
Madam Pomfrey wuselte hin und her, holte Tränke, Flaschen und Bandagen herbei, flößte Maggie eine dunkelgrüne Flüssigkeit ein, und murmelte unentwegt vor sich hin.
„Malaclaws, Duelle, Poltergeister... wenn das so weitergeht, brauch ich Verstärkung...“
Sam lächelte leicht vor sich hin und drehte den Kopf auf die Seite. Maggie hatte die Augen einen Spalt weit geöffnet und schaute sie erschöpft an.
„Hey“, murmelte sie.
„Hey“, murmelte Sam.
„Du hast echt nur Scheißideen, Sam“, nuschelte Maggie.
„Ich weiß“, gähnte Sam und knautschte ihr Kissen unter dem Kopf zurecht. „Du aber auch.“
Sie bekam undeutlich mit, wie Maggie leise lachte und irgendetwas erwiderte, aber da war sie auch schon fest eingeschlafen.
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