von ChrissiTine
8. Dezember: Freundinnen
2021
"Sag mal, lernst du eigentlich nur noch?", fragte Lily Potter ihre Cousine Rose mit gerunzelter Stirn, während sie sich in den Sessel neben sie fallen ließ. "Ich kann mich nicht erinnern, wann ich dich das letzte Mal ohne Buch gesehen habe."
Rose zuckte mit den Schultern und blätterte eine Seite in ihrem Verwandlungsbuch um. "Der Unterricht ist schrecklich anspruchsvoll geworden. Und ich brauche gute Noten, wenn ich die ZAGs mit Ohnegleichen bestehen will. Sonst kann ich doch nie eine Heilerin werden." Rose konnte sich nicht daran erinnern, dass es irgendwann eine Zeit gegeben hatte, in der sie nicht gewusst hatte, dass sie einmal eine Heilerin werden würde. Es war schon immer ihr Traum gewesen und wenn sie hart arbeiten musste, um ihr Ziel zu erreichen, dann war das eben so. Sie würde sich von nichts und niemandem aufhalten lassen.
"Ich weiß", erwiderte Lily versöhnlich. Sie nahm sich Roses Zaubertrankbuch und blätterte wahllos darin herum. "Aber du musst doch trotzdem mal eine Pause machen. Sonst fällst du noch um. Du siehst so schon blass aus."
Rose seufzte. Lily war nicht die erste, die sie auf ihre ungesunde Gesichtsfarbe ansprach. Sowohl Al als auch Hugo hatten schon ihre Bedenken darüber geäußert, dass sie sich vielleicht übernahm. Und in den Weihnachtsferien würde ihr Dad sicher auch keine Ruhe geben und sie ständig an die frische Luft zerren. Sie sollte sich dringend mal in die Sonne setzen, damit sie wenigstens der Überfürsorglichkeit ihres Vaters entkommen konnte. Sie liebte ihn sehr, aber manchmal übertrieb er einfach schrecklich.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. "In einer Stunde bin ich mit Joseph verabredet. Dann mach ich Pause. Zufrieden?"
Lily machte den Schmollmund, mit dem sie von ihrem Dad alles bekam, was sie wollte. "Nein", erwiderte sie. "Ich will, dass du jetzt Pause machst. Ich muss mit jemandem reden."
"Ach darum geht's", sagte Rose grinsend und schlug ihr Buch zu. Sie legte ihre Feder hin und lehnte sich zurück. Lily hatte Glück, dass sie mit ihrem Aufsatz gerade fertig geworden war und morgen noch genügend Zeit haben würde, das Kapitel einmal zu wiederholen. "Es geht dir gar nicht um meine Gesundheit. Du brauchst nur jemanden, bei dem du dich ausheulen kannst. Was ist mit deinen Freundinnen?"
Lily hatte sich in der ersten Klasse mit zwei äußerst nervigen Mitschülerinnen angefreundet, die nichts anderes taten als pausenlos zu kichern (zumindest hatte Rose diesen Eindruck). Lily versicherte ihr zwar, dass die beiden wirklich nett und intelligent waren und Rose einen völlig falschen Eindruck von ihnen hatte, aber bisher hatte Rose nur fünf Minuten in der Gegenwart von Callie und Candy (die beiden hießen wirklich so) verbringen können, bevor sie Kopfschmerzen von dem Gekichere bekommen hatte.
Lily verdrehte die Augen. "Mit denen kann ich nicht über Jungs reden. Ich muss nur einen erwähnen und sie fangen sofort von James an. Wie toll und sexy und heiß er ist und ob er sie schon bemerkt hat und ob er sie mir gegenüber erwähnt hat und wer von ihnen bessere Chancen hätte und ob ich ihnen dabei helfen kann, bei James zu landen. Wenn ich das noch einmal höre, dann muss ich kotzen."
Rose konnte sie voll und ganz verstehen. Ihr wurde schon schlecht von dem eben gehörten. Wie in aller Welt konnte eine klar denkende Frau auch nur in Erwägung ziehen, etwas mit James Sirius Potter anzufangen? Wie?
Rose schaute Lily mitfühlend an. "Also, was ist los?" Sie hatte nicht gewusst, dass Lily einen Freund hatte. Vielleicht hatte sie sich wirklich zu sehr hinter ihren Büchern vergraben. Hätte James nicht vor zwei Tagen dieses unsägliche Nikolaustheater veranstaltet, dann hätte sie auch keine Ahnung davon, wie es um Als und Scorpius' Liebesleben stand. Vielleicht sollte sie etwas weniger Zeit für Joseph und etwas mehr Zeit für ihre Freundin Lily einplanen.
Lily seufzte und strich sich ihre feuerroten Haare aus der Stirn. "Da ist dieser eine Junge ... Er ist so süß, Rose, so schrecklich süß. Und er ist nett und lieb und er hat keine Ahnung, dass ich existiere." Sie seufzte erneut gequält und schloss die Augen.
Rose tätschelte ihr tröstend die Hand. "Das bezweifle ich, Lils." Sie war Lily Potter. Sie war die Tochter des Mannes, der die ganze Zauberwelt gerettet hatte. Jeder, wirklich jeder wusste, dass Lily existierte.
"Aber es stimmt, Rose", beharrte Lily. "Er lächelt zwar immer so wahnsinnig niedlich, wenn er mich sieht, aber er sieht mich nicht wirklich, verstehst du? Er sieht mich nicht als jemanden, mit dem er zusammen sein kann."
"Das tut mir Leid", erwiderte Rose aufrichtig. Sie hatte keine Ahnung, was sie sonst sagen sollte. Sie war nie in Lilys Situation gewesen. Vor Joseph war sie nur mit einem Jungen zusammen gewesen und da war sie einfach irgendwie reingestolpert. Daniel Harris war ein Muggeljunge aus der Nachbarschaft gewesen, der neu in ihre Gegend gezogen war. Rose hatte ihn zufällig zu Beginn ihrer letzten Sommerferien getroffen und angeboten, ihm die Gegend zu zeigen. Er war ein intelligenter Junge gewesen, der genauso leidenschaftlich Klassiker verschlang wie sie und so hatten sie lange über Shakespeare und Kafka und Tolstoi diskutieren können. Irgendwann hatte er sie dann einfach geküsst. Zuerst war sie überrumpelt gewesen, weil sie ihn überhaupt nicht als jemanden gesehen hatte, mit dem sie herumknutschen konnte. Aber es hatte ihr gefallen und er war wirklich nett und sie hatte keinen Grund gefunden, der dagegen sprach.
Sie hatte ihrem Dad bald gesagt, was sich zwischen ihr und Daniel entwickelt hatte, weil sie ihn nicht anlügen wollte und er es sowieso herausgefunden hätte. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er ausgeflippt war, als sie es ihm erzählt hatte und wie ihre Mutter auf ihn einreden musste, damit er sich wieder beruhigte. Danach hatte er strenge Regeln festgelegt. Sie musste bis zum Sonnenuntergang Zuhause sein und wenn Daniel sie besuchte, dann mussten sie im Wohnzimmer oder im Garten in Sichtweite sein. Und Hugo sollte am besten auch dabei sein. Hugo hatte das zweimal mitgemacht und dann war ihm die ganze Diskussion über Bücher zu langweilig geworden. Außerdem hatte ihre Mutter ihr noch einmal sehr ausführlich alle Verhütungssprüche erklärt und das Für und Wider von Sex in ihrem Alter erörtert. Darauf hätte Rose wirklich verzichten können.
Trotzdem hatten Daniel und sie noch genug Zeit gefunden, miteinander herumzuknutschen. Es gab eine leerstehende Scheune in der Nähe, in die sie sich verzogen, wenn ihnen Roses Dad zu viel wurde. Die Küsse wurden leidenschaftlicher und ihre Hände wanderten immer tiefer. Aber als Rose klar wurde, dass Daniel wirklich wollte, dass das alles irgendwann auf Sex hinauslief, hatte sie ihm gesagt, dass sie dazu noch nicht bereit war. Sie war erst fünfzehn gewesen und das war ihr alles viel zu schnell gegangen. Und Daniel war verständnisvoll und lieb gewesen, so wie immer. Ihr war klar geworden, dass sie sich doch ein bisschen in ihn verliebt hatte.
Aber dann war Hugo eines Abends nach Hause gekommen und hatte ihr schweren Herzens erzählt, dass er Daniel mit einem anderen Mädchen gesehen hatte, mit dem der sich recht leidenschaftlich geküsst hätte. Rose hatte Hugo im ersten Moment kein Wort geglaubt, weil das einfach nicht zu Daniel passte, aber ihr kleiner Bruder hatte sie so ernst und mitfühlend angesehen, dass es einfach stimmen musste. Hugo würde sich so etwas nicht ausdenken. Er hatte nichts gegen ihre Beziehung gehabt und selbst wenn doch, dann hätte er niemals zu solchen Mitteln gegriffen, um sie auseinander zu bringen. So war er nicht.
Also hatte sie Daniel bei ihrem nächsten Treffen auf das angesprochen, was Hugo gesehen hatte. Daniel hatte die Vorwürfe zwar wortreich abgestritten, aber es war zwecklos. Rose hatte erkannt, wie er wirklich war. Er war nicht nur der liebe Junge mit einer Vorliebe für Shakespeare. Er hatte Sex von ihr gewollt und als klar wurde, dass er ihn nicht kriegen würde, hatte er sich sofort nach jemand anderem umgeschaut.
Er war es nicht wert gewesen, dass sie sich tagelang in ihrem Zimmer die Augen wegen ihm ausheulte, also hatte sie es auch nicht getan. Es hatte ihr sehr leid getan, dass sie die Freundschaft zu dem Jungen verloren hatte, für den sie ihn gehalten hatte und die eine oder andere Träne hatte sie schließlich doch vergossen, aber sie war noch nicht richtig in ihn verliebt gewesen und hatte das alles gestoppt, bevor ihr Herz wirklich gebrochen werden konnte.
Ihre Beziehung zu Joseph Corner war völlig anders. Er war ein unglaublicher Charmeur und aus irgendeinem Grund hatte er sich Rose dieses Schuljahr ausgesucht und zu seiner Freundin auserkoren. Er hatte ihr Komplimente gemacht und Witze erzählt und jedes Mal, wenn sie sich sahen, spürte sie, wie der ganze Druck, den sie sich wegen den bevorstehenden ZAGs machte, von ihr abfiel. Sie war so entspannt wie sonst nie und es war ein herrliches Gefühl. Deshalb war es ihr auch herzlich egal, dass der Rest der Familie sich so abfällig über ihre Beziehung und Joseph äußerte. Sie hatte ihm sofort klar gemacht, dass sie ihn nicht liebte und es für mehr als unwahrscheinlich hielt, dass das jemals der Fall sein würde und sie deshalb auch nie im Leben mit ihm schlafen würde. Wenn er nur das von ihr wollte, dann würde er sich gleich eine andere suchen können. Zu ihrer eigenen Überraschung schien ihn das nicht weiter zu stören. Er sagte ihr mit seinem schiefen Grinsen, dass er ihre Meinung irgendwann vielleicht würde ändern können und wenn nicht, war das auch nicht weiter schlimm. Und so war es Rose am liebsten. Sie hatte ein gutes Gefühl und musste keine Energie in eine Beziehung stecken, die unbedingt funktionieren sollte, sondern konnte sie in ihre ZAGs investieren.
Es war auf jeden Fall hundert Mal besser als das, was Lily gerade durchzumachen schien. Ihr Herz war gebrochen, ohne dass der Junge überhaupt etwas davon ahnte.
"Hast du schon mal versucht, ihm zu sagen, was du empfindest?", schlug Rose schließlich vorsichtig vor.
Lily biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. "Es würde doch zu nichts führen. Ich hätte sowieso keine Chance."
Rose wagte das zu bezweifeln. Lilys schokoladenbraune Augen, ihre feuerrote Mähne und ihr recht großer Busen (zumindest, wenn Rose ihn mit ihrem eigenen verglich) brachten ihr für ihre dreizehn Jahre schon einiges an Aufmerksamkeit ein. Rose würde jede Wette eingehen, dass es viele Jungen gab, die überhaupt nicht abgeneigt davon waren, Lily als Freundin zu haben.
"Wer ist es denn?"
Lily wandte den Blick ab. "Das kann ich dir nicht sagen. Du würdest mich nur auslachen."
Rose schüttelte den Kopf. "Bestimmt nicht." Man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte. "Ich versprech's dir, okay? Ich werde nicht lachen."
Lily schaute sie unentschlossen an. Schließlich nickte sie. "Na schön." Sie setzte sich im Schneidersitz hin. "Aber du darfst es niemandem sagen. Nicht Al, nicht Hugo, niemandem." Rose nickte neugierig. Wer war dieser geheimnisvolle Junge? Etwa Neville? "Es ist Phillip Macmillan."
"Phillip?", wiederholte Rose erstaunt. Phillip war bereits in der siebten Klasse. Der Hufflepuff war Schulsprecher, wodurch Rose als Vertrauensschülerin häufiger mit ihm ins Gespräch kam. Er war ein netter gewissenhafter Junge, der seine Pflichten sehr ernst nahm, aber auch leidenschaftlich gerne als Sucher für seine Hausmannschaft flog. Rose hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Phillip Lilys Typ war. Sie hatte immer gedacht, dass Lily lieber jemand temperamentvollen hätte, mit dem sie sich hitzige Diskussionen liefern konnte und der sie jeden Tag aufs Neue herausfordern würde. Phillip kam ihr viel zu ruhig vor. Doch wie schon gesagt, man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte.
Aber Lily hatte leider Pech. "Er hat schon eine Freundin."
"Maddie Dupre aus Ravenclaw, ich weiß", erwiderte Lily traurig. Maddie war eine ruhige Ravenclaw aus Phillips Jahrgang. Sie war die Schulsprecherin. Die beiden ergänzten sich fantastisch. "Ich hab sie heute zusammen gesehen. Ich hab dir doch gesagt, dass ich keine Chance hab. Ich bin erst in der dritten Klasse. Selbst wenn er nicht mit Maddie zusammen wäre, würde er mich nicht sehen. Ich weiß, wie unrealistisch ich bin. Genauso unrealistisch wie Callie und Candy, wenn sie sich ihren Hoffnungen hingeben, dass aus einer von ihnen und James mal irgendetwas werden würde." Sie seufzte erneut und wischte sich eine Träne weg, die ihr in die Augen gestiegen war. "Es tut einfach weh. Und ich wollte mit jemandem sprechen."
"Das kann ich gut verstehen", versicherte Rose ihr. Mit sowas konnte Lily unmöglich zu ihrem besten Freund Hugo gehen. Hugo hatte von sowas keine Ahnung. Und Callie und Candy waren viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. "Es tut mir nur Leid, dass ich dich nicht wirklich trösten kann. Nichts, was ich sage, wird es besser machen."
"Ich weiß", murmelte Lily. "Aber es hat mir schon geholfen, darüber zu sprechen." Sie zog die Knie an und legte ihren Kopf darauf. "Ich wünschte, ich könnte so etwas haben wie Molly und Justin. Das ist die ganz große Liebe. Und du weißt, dass sie es schaffen werden. So eine Beziehung will ich auch."
Rose legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Irgendwann wirst du so eine auch haben. Du bist doch erst dreizehn. Gib nicht gleich beim ersten auf. Wer findet so jung schon die große Liebe?"
"Mum hat mit zehn Jahren gewusst, dass Dad der Richtige für sie ist", widersprach Lily.
"Ja, aber sie war fünfzehn, als sie zusammen gekommen sind.", erwiderte Rose. "Und dazwischen hatte sie zwei andere Beziehungen. Und dein Dad hatte auch eine." Die beiden hatten es sich nicht allzu leicht gemacht, wenn sie nach den Geschichten ihrer Eltern ging. Allerdings hatten ihre eigenen Eltern es sich noch um einiges komplizierter gemacht. Rose grinste. "Wer weiß, was noch alles passiert. In fünf Jahren ist Phillip vielleicht unsterblich in dich verliebt."
Lily lächelte hoffnungsvoll. "Meinst du?"
Rose zuckte mit den Schultern. "Es sind schon ganz andere Sachen passiert." Sie hielt es zwar für mehr als unwahrscheinlich, aber wenn es Lily ein besseres Gefühl gab ... Außerdem würde sie in fünf Jahren bestimmt jemand anderen haben, in den sie verliebt war und der ihre Gefühle hoffentlich auch erwiderte.
"Ja", stimmte Lily ihr zu. Sie warf einen Blick über die Schulter. James war gerade im Gemeinschaftsraum aufgetaucht. Er hatte klatschnasse Haare und seinen Rennbesen geschultert. Wegen hohen Schneetreibens war das Quidditchtraining schon lange eingestellt worden, aber James ließ sich davon nicht abhalten. Er wollte Profi werden und flog bei jedem Wetter. Jetzt trug er sein charmantestes Lächeln zur Schau und flirtete gleich mit drei Mädchen. "Zum Beispiel, dass James immer noch jemanden in Hogwarts findet, der willig ist, mit ihm ins Bett zu steigen."
/-/
2041
"An diese Mittagessen könnte ich mich gewöhnen", sagte Rose grinsend. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Mann Scorpius flüchtig auf den Mund. Scorpius war das allerdings nicht genug. Besitzergreifend schlang er den Arm um ihre Hüften und zog sie näher zu sich. Der Kuss, den er ihr gab, dauerte schon um einiges länger. Lächelnd löste sich Rose von ihm. "Wir sind im Krankenhaus!", sagte sie mit leicht geröteten Wangen. Sie standen mitten in der Eingangshalle des St. Mungos. Aber außer der Empfangshexe war niemand da, der sie sehen konnte und die Hexe war viel zu beschäftigt mit der Hexenwoche.
"Na und?", erwiderte Scorpius abenteuerlustig und versuchte, noch einen Kuss zu erhaschen. "Darf ich dich daran erinnern, dass du einmal bei mir auf der Arbeit mit nichts als einem Mantel bekleidet aufgetaucht bist?"
Jetzt wurde Rose wirklich rot. "Das war bereits nach Feierabend!", widersprach sie. "Außerdem hast du ein eigenes Büro und warst völlig allein!" Es war eine ihrer abenteuerlustigsten Ideen gewesen, die sie je gehabt hatte. Ihre Eltern hatten auf ihre Kinder Diana und Aiden aufgepasst und sie dankte Gott dafür, dass sie nicht wussten, wofür sie die freie Zeit genutzt hatte. Damals war das Sexleben von Scorpius und ihr ziemlich eingeschlafen gewesen und sie hatte versucht, es so ein wenig aufzupeppen. Es hatte wunderbar funktioniert.
"Deshalb beschränke ich mich hier ja nur auf einen kleinen Kuss", konterte Scorpius und zog sie wieder zu sich. Rose gab jeglichen Protest auf. Sie war diesem Mann seit neunzehn Jahren mit Haut und Haaren verfallen und das wusste er ganz genau. Aber es machte ihr nichts aus. Ohne ihn wäre ihr Leben nicht das, was es war und sie wollte wirklich mit niemandem auf der Welt tauschen.
"Wir sehen uns heute Abend", sagte er schließlich schweren Herzens und trat einen Schritt zurück. Sanft strich er mit seiner Hand über ihre erhitzte Wange.
"Du bringst Aiden heute Abend zu Jonah?", versicherte Rose sich noch einmal. Aiden würde heute Nacht bei seinem besten Freund schlafen und sie würden das ganze Haus für sich haben. Darauf freute Rose sich jetzt schon den ganzen Tag. Und seit Scorpius spontan zum Mittagessen bei ihr im Krankenhaus aufgetaucht war, wurde sie noch ungeduldiger. Sie konnte es kaum noch erwarten, endlich mal wieder mit ihm allein zu sein.
"Auf jeden Fall", nickte Scorpius und schenkte ihr ein verführerisches Lächeln, von dem ihre Knie weich wurden.
Sie schlug ihm auf den Arm. "Hör auf damit. Die Warterei ist so schon schwer genug."
Scorpius hob unschuldig die Hände. "Ich hab doch gar nichts gemacht.", verteidigte er sich grinsend.
Rose schüttelte den Kopf. "Hau schon ab!", sagte sie lachend.
Scorpius warf ihr eine Kusshand zu und drehte sich schwungvoll um. Dabei stieß er in Lily Mitchell, geborene Potter, die mit tränenüberströmten Gesicht soeben in der Halle aufgetaucht war. Rose war im ersten Moment so erstaunt, Lily zu sehen, dass ihr erst auf den zweiten Blick auffiel, dass sich Lilys Tochter Liz ebenfalls mit tränenüberströmten Gesicht am Pullover ihrer Mutter festklammerte und Lily ihren schlafenden Sohn Robert im Arm hielt.
"Rose!", rief Lily sofort, als sie ihre Cousine erblickte. Sie streckte die Arme aus. "Hilf mir! Bitte, hilf mir!"
Rose eilte sofort zu ihr und schaute auf das einjährige Kind. Robert schlief nicht, wie sie zuerst vermutet hatte, sondern war offensichtlich bewusstlos. Sofort wechselte Rose in den Heilermodus. Sie ergriff Roberts Handgelenk und tastete nach seinem Puls. Schwach konnte sie ihn spüren. "Was ist passiert?", fragte sie Lily mit lauter Stimme, während sie Robert nach offensichtlichen Verletzungen absuchte. Sie stieß einen lauten Pfiff aus, um die Empfangshexe auf sich aufmerksam zu machen, die sofort nach ihrem Zauberstab griff und Verstärkung rief. "Lily, was ist passiert?", wiederholte Rose eindringlich, als Lily nicht antwortete.
"Ich weiß es nicht genau", schniefte Lily. "Ich hab einen Kuchen gebacken und hatte meinen Zauberstab auf der Anrichte liegen lassen. Liz hat ihn sich irgendwie geschnappt, ohne dass ich es bemerkt habe. Und im nächsten Moment hat sie laut geschrien und mir gesagt, dass Robbie sich nicht mehr bewegt. Vor fünf Minuten ging es ihm noch gut. Es ging ihm noch gut, Rose!"
Rose nahm Lily das Baby aus dem Arm und eilte zu ihren Kollegen, die gerade in der Halle erschienen waren. Lily folgte ihr so schnell wie möglich, während Liz so unter Schock stand, dass sie wie angewurzelt stehen blieb. Scorpius, der das ganze entsetzt beobachtet hatte, beugte sich zu Liz hinunter und hob sie hoch. Das kleine Mädchen schlang die Arme um seinen Hals und fing laut an zu schluchzen.
Rose legte Robert auf die Trage, die die Heiler mitgebracht hatten. "Seine vierjährige Schwester hat den Zauberstab ihrer Mutter in der Hand gehabt und ihn höchstwahrscheinlich mit irgendeinem Zauber belegt", informierte Rose ihre Kollegen. Sie drehte sich zu Lily um und streckte die Hand aus. "Gib mir deinen Zauberstab. Vielleicht können wir so herausfinden, was ihn getroffen hat. Wir bringen ihn auf meine Station. Du kannst dort warten." Lily suchte hektisch in ihren Taschen nach ihrem Zauberstab. "Wahrscheinlich ist es nichts schlimmes", sagte Rose in beruhigendem Tonfall. Normalerweise hütete sie sich davor, Patienten irgendwelche Versprechungen zu machen, die sie möglicherweise nicht halten konnte, aber das hier war immerhin Lily, die so aussah, als würde sie gleich durchdrehen. Und wenn Kinder solche Unfälle hatten, dann war es ihrer Erfahrung nach meistens auch nichts schlimmes. Dazu waren Kinder gar nicht im Stande.
Lily hatte ihren Zauberstab endlich gefunden und reichte ihn Rose. Sobald Rose ihn in der Hand hatte, disapparierte sie mit ihren Kollegen in einen Behandlungsraum. Lily blieb wie vom Donner gerührt in der Halle stehen und starrte auf die Stelle, an der Rose und ihr Sohn gerade noch gewesen waren. Dann spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Sie schaute auf. Scorpius war mit einer immer noch schluchzenden Liz im Arm neben sie getreten.
"Rose weiß, was sie tut. Sie kriegt das schon wieder hin", sagte er zuversichtlich.
Lily schluckte. Vor fünf Minuten war alles noch in bester Ordnung gewesen. Liz hatte am Küchentisch gesessen, ein Bild gemalt und ihr beim Backen zugesehen, während Robbie in seinem Laufstall fröhlich mit ein paar Kuscheltieren gespielt hatte. Es war alles in Ordnung gewesen. Und als sie sich das nächste Mal umdrehte, lag Robbie regungslos in seinem Laufstall und Liz stand mit Lilys Zauberstab in der Hand direkt davor und hatte keine Ahnung, was sie getan hatte. Lily konnte sich nicht daran erinnern, wie sie den Notfallportschlüssel zum Mungos gesucht und aktiviert hatte, aber sie musste es getan haben, denn sonst wären sie jetzt nicht hier.
Sie spürte, wie Scorpius den Arm um sie legte. Sie lehnte sich dankbar an ihn. Sie glaubte nicht, dass sie im Stande war, noch einen Schritt alleine zu tun. Die Angst lähmte alles in ihr. Sie konnte nicht mehr klar denken. Sie sah nur noch ihren Sohn vor sich, der leblos in ihren Armen lag.
Wie hatte sie nur so versagen können? Sie war seine Mutter, sie musste ihn beschützen. Ihrer Großmutter war es zu verdanken, dass ihr Dad Lord Voldemort hatte töten können und nicht schon als Einjähriger gestorben war. Und ihr eigener Sohn würde vielleicht sterben, weil sie auf ihre Tochter nicht aufgepasst hatte.
"Ich bring dich zu Roses Station. Dort können wir warten. Weiß Henry schon Bescheid?"
Lily konnte nur den Kopf schütteln. Henry wusste nicht Bescheid. Er war in der Mysteriumsabteilung und hatte keine Ahnung davon, dass sein Sohn in Lebensgefahr schwebte. Wie sollte sie ihm das nur sagen? Wie sollte sie ihm sagen, dass sie Schuld daran war, dass ihr Kind tot war?
Sie ließ sich von Scorpius zu den Aufzügen führen und ehe sie sich versah, saß sie in einem der Stühle, die vor den Behandlungszimmern aufgestellt waren und starrte auf die Tür. Scorpius saß neben ihr und spielte mit Liz das Spiel "Ich sehe was, was du nicht siehst". Sie war ihm dankbar, dass er ihre Tochter ablenkte. Sie war nicht dazu im Stande.
Wie sollte sie ohne ihr Kind weiterleben? Wie sollte sie damit fertig werden, dass sie ihr eigenes Kind auf dem Gewissen hatte? Sie würde ihn nie zum Hogwartsexpress bringen können. Sie würde nicht sehen, wie er seinen Abschluss machte. Sie würde bei seiner Hochzeit nicht dabei sein. Und es war ihre Schuld. Sie hatte sein ganzes Leben zerstört. Dabei hatte sie sich doch geschworen, ihn immer zu beschützen, damit ihm nie etwas passierte. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können?
Sie wandte ihren Blick erst von der Tür ab, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. "Lily, was ist passiert?" Außer Atem war Henry vor ihr zum Stehen gekommen. Besorgt schaute er sie an. Sie Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
"Liz hat sich meinen Zauberstab geschnappt. Robbie ist von irgendeinem Zauber getroffen worden. Ich weiß nicht, wie das alles passiert ist." Tränen liefen ihr über die Wangen, die sie nicht zurückhalten konnte. "Es tut mir so Leid. Es ist alles meine Schuld." Sie spürte, wie Henry seine Arme um sie legte und sie fest an sich drückte. Vielleicht würde es das letzte Mal sein, dass sie in seinen Armen lag. Wie könnte er ihr jemals verzeihen, dass sie sein Kind umgebracht hatte? Wie konnte sie sich das verzeihen? Ihre Kinder waren ihr ein und alles. Sie hatte sich ein Leben lang gewünscht, Mutter zu sein und jetzt hatte sie alles kaputt gemacht. Sie würde sich das nie verzeihen können. Und sie hatte Henrys Liebe nicht verdient.
"Es war ein Unfall", sagte Henry beruhigend. "Du kannst nichts dafür." Seine Hände strichen über ihr Haar.
Wenn es doch nur so wäre! Aber Lily hatte nicht die Kraft, ihm zu widersprechen. Ihre ganze Kraft verwendete sie darauf, nicht vor Liz zusammen zu brechen, bevor sie etwas endgültiges wusste. Liz sollte sie nicht so sehen.
"Außerdem passiert sowas doch bestimmt andauernd.", fuhr Henry fort. "Die Heiler wissen, was sie tun. Und Liz kann doch noch gar nicht richtig zaubern, ich glaube nicht, dass sie Robbie wirklich umbringen könnte. Wie denn? Diese Magie kriegen doch nicht mal ausgebildete Zauberer hin." Sie konnte sich daran erinnern, dass ihr Dad mal erzählt hatte, dass die Unverzeihlichen Flüche eine Art von Entschlossenheit erforderten, die viele Zauberer glücklicherweise nicht aufbringen konnten. Liz war ein unschuldiges kleines Mädchen. Sie konnte bestimmt nicht aus Versehen einen Unverzeihlichen Fluch aussprechen. Aber es konnte dennoch so viel schief gehen ...
"Lily? Henry?"
Henrys starke Arme ließen sie wieder los. Sie würden ihr so sehr fehlen. Ohne seine Hilfe konnte sie kaum Stehen.
Rose stand in der Tür. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen. "Liz hat Robbie mit einem einfach Lähmfluch belegt. Wir haben ihn rückgängig gemacht und Robbie einen Stärkungstrank gegeben. Soweit wir festgestellt haben, haben ihn keine weiteren Zauber getroffen. Zur Sicherheit würden wir ihn aber gerne über Nacht hier behalten."
"Es geht ihm gut?", fragte Lily schniefend. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich nicht verhört hatte. Sie war überzeugt davon gewesen, dass sie ihn umgebracht hatte.
Rose nickte. "Ja, es geht ihm gut. Er ist sogar schon wieder ganz munter. Wir haben ihm Pudding gegeben, während er auf euch wartet. Kommt, ich zeige euch sein Zimmer."
/-/
"Ist alles in Ordnung?", fragte Rose Lily ein paar Stunden später. Müde sah Lily ihre beste Freundin an.
"Ist es in Ordnung, dass ich ihn aus dem Gitterbett geholt habe?", fragte sie besorgt. Sie hatte darauf bestanden, die Nacht bei ihrem Sohn zu verbringen, also hatten ihr die Heiler ein Bett ins Zimmer gestellt. Das Gitterbett, in dem Robbie gelegen hatte, stand direkt neben Lilys Bett. Lily lag in ihrem Schlafanzug in ihrem Bett und hielt ihren schlafenden Sohn fest. "Ich musste einfach sehen, dass er wirklich am Leben ist." Er hatte so leblos ausgesehen, wie vorhin, als er bewusstlos in seinem Laufstall gelegen hatte. Sie musste das Schlagen seines Herzens spüren, das Heben und Senken seiner Brust, sonst würde sie nur glauben, dass es ein Traum gewesen war, dass er doch tot war.
"Natürlich ist das in Ordnung", erwiderte Rose verständnisvoll und setzte sich auf die Bettkante. Sie nahm Lilys Hand und drückte sie aufmunternd. "Du musst dir keine Sorgen machen. Er ist kerngesund. Wir haben alles überprüft. Wir wollen ihn nur zur Sicherheit hierbehalten, für den Fall, dass er irgendwelche allergischen Reaktionen auf die Tränke aufweist." Sie musterte das friedlich schlafende Kind prüfend. Der kleine Kerl hatte keine Ahnung, was für ein Chaos er heute angerichtet hatte. "Es ist alles gut, Lily, wirklich.", versicherte sie ihr zum zehnten Mal.
"Ich weiß", sagte Lily leise. "Aber ich fühle mich einfach besser. Ich hab gedacht, ich hätte ihn wirklich verloren. Das waren die schlimmsten Stunden meines Lebens."
Rose hatte schon einiges mit ihrem Sohn Aiden erlebt, der es noch keinen Monat geschafft hatte, sich nicht irgendwo zu verletzen. Sie hatte mit der Zeit gelernt, sich nicht jedes Mal verrückt zu machen, wenn ihm irgendetwas passierte, denn meistens war es halb so schlimm, wie es aussah. Und dennoch ... Die Liebe zu einem Kind war das stärkste, was eine Mutter empfinden konnte. Alles andere rückte in den Hintergrund, wenn es um das Kind ging. Sie wollte sich nicht vorstellen, was für eine Hölle Lily durchgemacht hatte.
"Merlin sei Dank hat Liz sich wieder beruhigt, nachdem sie Robbie gesehen hat", seufzte Lily. Sobald Liz gesehen hatte, dass es ihrem kleinen Bruder gut ging, waren ihre Tränen getrocknet und sie war wieder so fröhlich geworden wie sonst. Henry und sie waren erst vor einer halben Stunde gegangen und würden gleich morgen früh wiederkommen, um Lily und Robbie abzuholen.
Lily strich Robbie ein paar dunkle Strähnen aus dem Gesicht und küsste ihn dann auf die Stirn. "Weißt du noch, wie ich mich vor zwanzig Jahren bei dir ausgeweint habe, weil ich unglücklich in Phillip Macmillan verliebt war?"
Rose nickte. Phillip hatte drei Jahre nach seinem Schulabschluss Maddie geheiratet und war mittlerweile wieder von ihr geschieden. In Lily war er trotzdem nie verliebt gewesen.
"Damals hab ich gedacht, dass das das Ende der Welt ist, dass er meine Gefühle nicht erwidert", fuhr Lily fort, während sie weiterhin auf ihren Sohn schaute. "Ich hab gedacht, dass es nichts geben könnte, das schlimmer ist. Ich hab mich noch nie in meinem Leben so getäuscht." Sie drückte Robbie noch fester an sich. "Nichts ist schlimmer als das hier."
"Ich weiß", nickte Rose. Sobald es um das Leben eines anderen Menschen ging, rückten alle anderen Probleme in den Hintergrund. Besonders, wenn es sich um das eigene Kind handelte. Alles andere wurde unwichtig. "Aber es ist doch jetzt alles wieder gut. Du hast Henry und Robbie ist nichts passiert und wie ich dich kenne, wirst du nicht zulassen, dass sowas noch einmal passiert."
Lily nickte entschlossen. "Nie wieder. Ich werde meine Kinder nie wieder so in Gefahr bringen."
"Liz würde das auch kein zweites Mal machen", wandte Rose ein. Die Kleine hatte mindestens genausoviel aus dem Ereignis gelernt wie Lily und Henry. Rose selbst konnte von Glück sagen, dass weder Aiden noch Diana sich je getraut hatten, Scorpius' oder ihren Zauberstab zu nehmen. Denn auch wenn man noch so vorsichtig war, dass die Kinder nicht an den Zauberstab herankamen, irgendwann ließ man ihn trotzdem mal liegen, wenn es schnell gehen musste oder man mit den Gedanken so woanders war, dass man einfach nicht daran dachte, ihn außer Reichweite zu legen. Es war schon vielen Eltern passiert, dass ihre Kinder sich an ihren Zauberstäben vergriffen hatten und bisher waren alle Kinder, die Rose behandelt hatte, mit dem Schrecken davon gekommen. Zu wirklich gefährlicher Magie war keines von ihnen im Stande gewesen.
"Danke, Rose", sagte Lily schließlich mit Tränen in den Augen. "Danke, dass du immer für mich da bist, wenn ich dich brauche. Ich könnte mir keine bessere Freundin wünschen."
Rose schluckte bewegt und drückte Lilys Hand. "Gern geschehen. Dafür sind Freunde schließlich da, oder?"
TBC...
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A/N: Morgen befinde ich mich mit einem Kurs aus meiner Uni auf einer Exkursion, von der ich erst wieder am späten Abend zurückkommen werde. Es kann gut sein, dass das nächste Kapitel morgen entweder sehr spät oder heute noch vor Mitternacht kommen wird, ich weiß noch nicht. Sollte morgn früh nichts da sein, wisst ih also Bescheid, warum es später wird.
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