von Lady Gryffindor
So gewissenhaft, verantwortungsbewusst und vernünftig Remus Lupin auch war, so hatte er doch eine große Schwäche, und das war eine unbändige Sucht nach Schokolade.
Früher einmal hatte es den ernst dreinblickenden Jungen mit dem vernarbten Gesicht und den tiefen Ringen unter den hellen Augen abgestoßen, sich einer derart banalen Leidenschaft hinzugeben.
Banal, weil sie so leicht befriedigt werden konnte.
Abstoßend, weil der Wunsch nach mehr allein durch die Befriedigung immer größer wurde, bis man zu einem Schokolade verschlingenden Monster mutierte – und von Monstern hatte Remus Lupin wirklich bei weitem genug.
Hinzu kam, dass er von Haus aus nur mit wenig Geld ausgestattet war und sich das zartschmelzende Vergnügen zumeist nicht ohne Weiteres leisten konnte.
Wie er dann doch in den Genuss des kleinen Wunders kam, geschah eher durch einen Zufall, als er eines Tages in der Bibliothek auf ein Buch über einfache Hausmittel gegen schwarze Magie stieß.
Seit seiner ersten Woche an der Zauberschule hatte Remus seine Zeit schon immer gern in der großen Bibliothek von Hogwarts verbracht, in der sich Jahrhunderte altes Wissen in Leder und Pergament gebunden und in Regalen gereiht bis an die Decke türmte. Die Magie schien hier die staubige Luft förmlich zum Knistern zu bringen, wenn er andächtig Reihe um Reihe entlang schritt, mit den Fingerspitzen im Vorbeigehen über die Buchrücken fahrend, bis ein verborgener Mechanismus in seinem Inneren einzurasten schien, der ihn nahezu zwang, bei einem bestimmten Wälzer Halt zu machen. Madam Pince sah es gar nicht gern, wenn man ihre wertvollen Schätze anfasste, ohne sie lesen zu wollen, aber konnte sich Remus, der sonst sehr auf die Einhaltung von Vorschriften bedacht war, einfach nicht mehr beherrschen, wenn man ihn mit den Büchern allein lies. Tatsächlich schienen sie ihn in gewisser Weise besser zu leiten, als es die geierartige Bibliothekarin je gekonnt hätte, denn immer, wenn er von Faszination gepackt durch die Regalreihen ging, schienen ihn die Buchrücken automatisch zu den Büchern zu führen, wegen denen er ursprünglich hergekommen war.
So kam es, dass ihn eine Leidenschaft zur nächsten brachte, als er für seine Hausaufgaben einmal zufällig nach einer Art Übersicht über Gegenmittel und -Flüche suchte.
Einfache Mittel gegen das Böse – Effektiv im Haushalt und unterwegs schien keine neue Ausgabe zu sein, wirkte es doch für das Buch einer magischen Schülerbibliothek erstaunlich unberührt, was Remus nicht weiter überraschte, als er tatsächlich das Wort „Schokolade“ an erster Stelle einer Liste mit Gegenmitteln zum Einnehmen mit sofortiger Wirkung fand.
Der Verzehr von Schokolade setzt Endorphine frei, und wird verstärkt zur Behandlung von Zuständen wie Angst und Panik – zum Beispiel nach der Begegnung mit einem Dementor oder Irrwicht – eingesetzt. Ihr hoher Fettgehalt macht sie sehr nahrhaft, weshalb sie außerdem gerne nach großer körperlicher wie geistiger Anstrengung eingenommen wird, ferner gilt Schokolade als Entspannungsmittel bei seelischer Unausgeglichenheit.
Grundsätzlich ist die Anwendung magischer Schokolade wirksamer, im Notfall kann jedoch auch einfache Muggelschokolade äußerst effektiv sein.
Die Wirksamkeit verschiedener Geschmacksrichtungen entspricht den Vorlieben der zu behandelnden Person.
In erster Linie Zauberer, an zweiter Stelle Werwolf hatte Remus nicht viel für Aberglauben und billigen Muggel-Hokus-Pokus übrig, aber da er von Natur aus wissbegierig war, siegte nach einigem – ebenfalls angeborenem – Zögern schließlich doch die Neugier.
Als seine Freunde Peter, James und Sirius ihm das nächste Mal etwas von der schokoladenbraunen Sünde in Silberfolie mit Knalleffekt anboten, schluckte er seine übliche Ablehnung hinunter und ließ sich stattdessen eines der kleinen, schon leicht angeschmolzenen Rechtecke auf der Zunge zergehen.
Seine Augen wurden groß, sein sonst so ernster Gesichtsausdruck verzog sich zu einem verzückten Lächeln, und tatsächlich war er nun bereit zu glauben, dass Schokolade wirklich gegen das Böse half, was ihm zuvor nie aufgefallen war.
Ihr Genuss wärmte von innen heraus, erfüllte mit zartbitterem Glück und nussig-krokantiger Zufriedenheit. Was gab es nach einer mehr schlecht als recht überstandenen Vollmondnacht besseres, als ein großes Stück Schokolade?
Das war in der ersten Klasse gewesen, und seitdem pflegte Remus sich einen beträchtlichen Vorrat für Notfälle anzulegen, von dem er einen Großteil stets mit sich herumschleppte.
Seine Freunde konnten über die plötzlich entfachte Leidenschaft des sonst so verschlossenen Jungen nur den Kopf schütteln, zahlte es sich für sie andererseits aus, ihn in aller Ruhe seiner neuen Sucht frönen zu lassen:
Obwohl Remus nie viel Geld zur Verfügung hatte und sich seinen Vorrat dementsprechend mühselig zusammensparen musste (was ihn häufig auch einiges an Willenskraft kostete, wenn ihn wieder einmal ein besonders dringendes Bedürfnis nach Schokolade überfiel), so hatte er immer einen Riegel für seine Freunde übrig, wenn diese selbst ein wenig Aufmunterung in zartschmelzender Form gebrauchen konnten.
Zwar hatten James, Sirius und Peter nie ein Problem damit gehabt, an Schokolade heranzukommen, denn sie besaßen genug Geld und bekamen von James‘ Eltern, Peters Mutter und Sirius‘ Onkel ohnehin des Öfteren Süßigkeiten zugeschickt, doch war es etwas ganz anderes, mit jemandem zu teilen, bei dem die Geste aus tiefstem Herzen kam.
Und Remus kannte ihre Vorlieben.
Hatte Peter einen schlechten Tag, weil ihm seine eher mangelhaften Leistungen in Verwandlungen (die James liebevoll als „trollisch“ bezeichnete) wieder einmal einen Tadel von Professor McGonagall eingebracht hatten, so konnte er sich eines tröstenden Stücks Marzipanschokolade sicher sein.
Versuchte Sirius wieder einmal krampfhaft zu verbergen, wie sehr ihn die Abneigung seiner Eltern und deren menschenverachtende Ansichten mitnahmen, fand er am Abend meistens ein Stück Kaffee-Sahne auf seinem Nachttisch im Jungenschlafsaal – unauffällig hinter dem Bilderrahmen mit dem sich bewegenden Foto der 4 Freunde versteckt, denn Remus wusste, dass Sirius nicht viel von offenen Mitleidsbekundungen hielt, und dass er aus dieser diskreten kleinen Geste seine ganz eigene Art von Trost zog.
James war von Natur aus unbekümmert, und von Haus aus als einziger Erbe einer vermögenden, doch, im Gegensatz zu Sirius‘, toleranten Zauberfamilie mit wenig Sorgen vorbelastet und Schokolade zählte auch nicht unbedingt zu seinen größten Vorlieben.
Aber sollte er einmal Kummer haben, konnte er sich eines Stücks seiner Lieblingssorte (Haselnusskrokant) sicher sein.
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