von Milo's Venus
Sie waren jung, sie waren unbekĂŒmmert, sie genossen das Leben. Und sie ahnten, dass sich das bald Ă€ndern könnte. Deshalb wollten sie dieses Halloween-Fest noch einmal voll auskosten â denn vielleicht war es ihr letztes.
Unbeschwertes GelĂ€chter und aufgeregte Stimmen erfĂŒllten den kleinen Hausflur in Godricâs Hollow. Dort standen James, Sirius, Remus und Peter und lieĂen sich von Lily den letzten Schliff an ihren KostĂŒmen verpassen.
Sirius hatte vor einer Woche die Idee gehabt, sich ins Muggel-Halloween zu stĂŒrzen, als sie zusammensaĂen, um Dumbledores Nachricht ĂŒber ihre erste Ordenssitzung, ihr DebĂŒt Mitte November, zu besprechen. Sie konnten es nicht erwarten, doch die Freude war auch getrĂŒbt. James dachte mit einem mulmigen GefĂŒhl an Lily, die sich ebenso in Gefahr begab â sie war im SpĂ€tsommer zu ihm gezogen und der Ring in seiner Tasche wurde immer schwerer. Am liebsten hĂ€tte er sie beim ZĂ€hneputzen oder Kartoffelnschnippeln gefragt, ob sie seine Frau werden wollte, anstatt auf einen magischen Augenblick zu warten. Peter hatte mit seinen eigenen Ăngsten zu kĂ€mpfen. Remus scheute den Schrecken des Krieges â er ahnte, dass dieses Kapitel seines Lebens zu den dunkelsten gehören sollte. Nur Sirius sah seiner Zukunft ohne ein flaues GefĂŒhl im Magen entgegen, als könnte er so den letzten Makel des Namen Black von sich werfen.
Lily zupfte Remusâ GespensterkostĂŒm zurecht, befestigte auf Peters Kopf noch einen KĂŒbisstiel, rĂŒgte Sirius, weil er es mit den leuchtenden Knochen auf seiner schwarzen Kleidung ĂŒbertrieben hatte, und malte in Jamesâ Gesicht noch ein paar Blutstropfen, damit er auch als authentisches Unfallopfer durchging. Sie hatte ihm in den letzten Tagen alles ĂŒber das typische Muggel-Halloween erzĂ€hlen mĂŒssen, damit sie auch gut gerĂŒstet waren. Besonders die Tatsache, dass ein Streich drohte, wenn SĂŒĂigkeiten verweigert wurden, hatte die Augen der Rumtreiber glĂ€nzen lassen.
âFertigâ, seufze Lily nach dem letzten Tropfen. âUnd jetzt raus mit euch.â
James hob mit einem Finger Lilys Kinn und kĂŒsste sie schnell. âWarte nicht auf uns.â
Lily sah, dass einige Blutstropfen schon wieder verwischt waren, aber sie nickte nur lĂ€chelnd und lehnte sich an den TĂŒrrahmen.
âKommst du nicht mit?â, fragte Remus erstaunt. Er erkannte, dass Lily nicht als Geisha oder indische Maharani mitkommen wollte, sondern einen bunt bedruckten Morgenmantel trug.
âNein, ich mache mir hier einen gemĂŒtlichen Abend. Ich bin mĂŒde.â
Lily war nicht mĂŒde. Sie wollte die Rumtreiber alleine ziehen lassen, denn auch sie konnte nicht ahnen, fĂŒr wie lange das ihr letzter gemeinsamer Abend sein sollte.
Lily und James blickten sich einen Moment stumm an, dann scheuchte Lily sie hinaus in die kalte Abendluft.
Aufgeregt plappernd schritten sie durch den kleinen Vorgarten, in dem die wenigen Blumen schon fast in den Winterschlaf gefallen waren, und tauchten ein ins Halloween der Muggel.
âLily hĂ€tte eine prima Todesfee abgegebenâ, brummte Sirius auf dem Weg in den Ortskern.
âDa bin ich mir sicherâ, schnaubte James.
Von weitem sahen sie schon buntes Gewusel auf der StraĂe. Fröhliche Kinderstimmen drangen an ihr Ohr. Wenig spĂ€ter waren sie mitten im Durcheinander der KostĂŒme.
âWarum trĂ€gst du deine Unterhose ĂŒber der Hose?â, fragte Sirius einen kleinen Wicht, der an ihnen vorbeihĂŒpfte.
Er verzog das Gesicht. âIch bin Superman!â
Eine Frau trat an die Seite des Jungen, sie hatte eng anliegende Kleidung an und ihre Haare standen noch mehr ab als Jamesâ. Vielleicht war sie Supermans unattraktive GroĂtante. Misstrauisch sah sie die Rumtreiber an.
âOh â Ă€h.â Jamesâ Hand schnellte zu Peters Kopf und verwuschelte das Haar sorgsam um den KĂŒrbisstiel herum. âUnser Sohn erbeutet bestimmt mehr SĂŒĂigkeiten als Ihrer.â
Remus nickte möglichst filigran unter dem Bettlaken.
Die Frau öffnete kampfeslĂŒstern den Mund, doch Sirius zog seine Freunde weiter. âNa kommt schon. Wollt ihr euch mit DreijĂ€hrigen anlegen oder Muggel-Halloween feiern?â
âVielleicht gehört es zum Muggel-Halloween dazu, sich mit DreijĂ€hrigen anzulegen, sinnierte James.
âHat Lily was davon erwĂ€hnt?â
âHm â nein.â
Sirius blieb unvermittelt auf der StraĂe stehen und sie krachten fast in ihn.
âBei Merlins graukarierten ââ
âUnser erstes Hausâ, sagte Sirius feierlich und gestikulierte enthusiastisch in Richtung eines kleinen Anwesens mit grĂŒn gestrichenen FensterlĂ€den. Er hĂŒpfte durch das tote Laub, erklomm die wenigen Stufen, klingelte und hielt erwartungsvoll inne.
Sie folgten ihm.
âSĂŒĂes oder saures!â, riefen sie der alten Frau mit den hochgesteckten grauen Haartollen entgegen, wie Lily es ihnen aufgetragen hatte.
âWas fĂŒr entzĂŒckende KostĂŒme!â Die Frau klatschte in die HĂ€nde. âMal sehen, was ich fĂŒr euch finde.â
Sie grinsten sich an. Muggel-Halloween war gar nicht so ĂŒbel.
âMuggel-Halloween ist langweiligâ, klagte Sirius nach dem siebten Haus. âDie haben alle ihren sĂŒĂen Kram schon bereitstehen. Niemand wagt, âsauresâ zu sagen.â
âIn der Tat ein bisschen eintönigâ, stimmte Remus zu.
Sie standen vor dem achten Haus, das hell erleuchtet war. Neben dem Briefkasten flackerte ein KĂŒrbis.
Auf einmal lachte Sirius bellend auf. âĂberlasst mir das Reden, ja?â LĂ€ssig klopfte er an die TĂŒr.
Sie mussten eine Weile warten, bis ein etwa 15-jĂ€hriger Junge die TĂŒr öffnete. Es war seinem gelangweilten Gesichtsausdruck anzusehen, dass er sich zu erwachsen fĂŒr Halloween hielt.
âSaures oder saures!â, schrie Sirius.
Der Junge öffnete den Mund verdattert und schloss ihn wieder. Dann setzte er noch einmal zum Sprechen an. âĂh â was?â
âSaures oder Saures?â, wiederholte Sirius und sprach weiter, als der Junge keine Anstalten machte zu antworten. âGanz einfach, du hast zwei Möglichkeiten. Möglichkeit A: Saures oder Möglichkeit B: Saures. Was nimmst du, A oder B?â
âĂhm, A-â
âWeise gesprochenâ, nickte Sirius. âAlso dann.â
Er wandte sich zum Gehen und die Rumtreiber folgten ihm erwartungsvoll.
Hinter sich hörten sie die TĂŒr zuschlagen. Sie hatten den Jungen offensichtlich in gröĂte Verwirrung gestĂŒrzt.
âIrgendwelche VorschlĂ€ge?â Sirius sah das Haus mit glĂ€nzenden Augen an. Sie kannten diesen Blick, und sie sahen vermutlich nicht viel anders aus.
âWir wickeln sein Haus mit Klopapier ein.â
âUnkreativ, James!â Sirius sah ihn enttĂ€uscht an.
âDas machen die Muggel so, sagt Lilyâ, verteidigte sich James beleidigt.
Sirius schnaubte. âNein, ernsthafte VorschlĂ€ge?â
Remus wollte gerade etwas vorschlagen â etwas besseres, etwas kreativeres â, als ihn jemand von hinten am KostĂŒm zog.
âSĂŒĂes oder saures?â, quiekte ein Knirps â er trug seine Unterhose ĂŒber der Hose.
âSuperman hĂ€ngt an meinem Rockzipfel.â Remus schĂŒttelte den Kopf. âSehe ich etwa aus wie ein Haus?â
âSĂŒĂes oder saures?â, wiederholte der Kleine. âIhr habt so viel.â Er deutete auf die prall gefĂŒllten Taschen der Rumtreiber und hob dann seinen eigenen, viel kleineren Plastikbeutel hoch.
Peter verbarg ein LĂ€cheln. âNa ja, diese Brownies, Lutscher und GummibĂ€rchen haben wir uns auch hart verdient, genauso wie die Schokolade, Lakritzstangen, BonbonsâŠâ
âWenn du uns versprichst, morgen deine UnterwĂ€sche unter der Hose zu tragen, wie es sich gehört, lassen wir vielleicht Gnade vor Recht ergehen.â
Der Kleine nickte eifrig.
âWas meint ihr?â Sirius sah abwartend in die Runde.
Die Rumtreiber nickten eintrĂ€chtig. âWir wollen Nachwuchs-Halsabschneidern schlieĂlich keine Steine in den Weg legenâ, meinte James.
âGanz genauâ, stimmte Sirius zu. âMoony, wĂ€rst du so freundlich?â
Remus wĂŒhlte in seinen Taschen und zog eine Handvoll SĂŒĂigkeiten hervor, die er in den Beutel des Jungen gab. Obendrauf legte er noch ein Monstrum von Bonbon, das sich der Knirps gleich in den Mund stopfte. âManke.â
âSchon gut. Sollen wir uns zur ungestörten Lagebesprechung in diese BĂŒsche dort schlagen?â Sirius zeigte auf ein kleines WĂ€ldchen auf einer Anhöhe. Denn Rumtreiber planen gern im Verborgenen, nicht auf dem PrĂ€sentierteller vor dem Haus des nĂ€chstes Opfers.
Als sie bei dem dunklen GebĂŒsch angekommen waren, hörten sie den Schrei. Erst leise, dann markerschĂŒtternd.
Sirius und James wollten nach vorn stĂŒrzen, doch Remus hielt sie zurĂŒck.
âDa.â Peter zeigte auf die StraĂe, wo der kleine Junge sein Bonbon wieder herauswĂŒrgte. BeiĂender Rauch stieg um ihn herum auf und da war etwas langes in seinem Mund, etwas fleischiges. Schreckerstarrt erkannten sie, dass es die Zunge des Jungen war.
Dann war seine Mutter an seiner Seite, sie waren zu weit weg, um zu hören, was sie oder er sagten, aber die Gestiken ihres Sprösslings waren unmissverstĂ€ndlich. Er deutete auf seine TĂŒte, auf den Rauch und schlussendlich auf das kleine WĂ€ldchen.
Er war offensichtlich, dass die Mutter ihm glaubte, und schon stiefelte sie den kleinen HĂŒgel zu dem GebĂŒsch hinauf.
âLeuteâ, sagte James leise. Sie rissen den Blick von dem glĂŒhenden Bonbon aus dem Honigtopf, von dem Dutzend Menschen, das der Schrei angelockt hatte, und von der Gestalt, die zĂŒgig nĂ€her kam. âWir mĂŒssen verschwinden.â Er hatte seinen Zauberstab aus der Tasche geholt. âAccio, Besen, accio, Motorrad!â
Sie hatten GlĂŒck, dass sie nicht weit entfernt von Jamesâ Haus waren, dass Jamesâ Besen und Siriusâ Motorrad nicht gerade wenig Besen- bzw. PferdestĂ€rken hatten, dass die Frau auf dem nassen Boden strauchelte.
Sie arbeiteten Hand in Hand, oft hatten sie sich schon aus brenzligen Situationen hinausmanövriert. Sirius lieĂ das Motorrad an, James brachte die SĂŒĂigkeitenpapiere auf dem Erdboden zum Verschwinden, Remus, der âdas wollte ich nicht, das wollte ich nichtâ vor sich hermurmelte, schrumpfte die TĂŒten, Peter fluchte das Bonbon unten auf der StraĂe weg und sie erhoben sich in die LĂŒfte.
âDas hĂ€tte auch schief gehen könnenâ, seufzte Peter, der hinter Sirius auf dem Motorrad saĂ, erleichtert.
âNein, man hat uns gesehenâ, wisperte Remus und krallte die HĂ€nde in Jamesâ HĂŒfte.
Sie erstarrten und schauten unwillkĂŒrlich hinab zum Boden.
Noch flogen sie ziemlich tief und wĂŒrden erst in einer Weile in sicherer Entfernung sein. Immer mehr Muggel auf der StraĂe hielten inne, deuteten nach oben und wandten die Gesichter zum Himmel. Doch weder schrien sie, noch brachen sie in Panik aus.
Die Muggel in Godricâs Hollow blickten dem fliegenden Motorrad und dem Besen mit den merkwĂŒrdigen Gestalten darauf nach, bis sie verschwunden waren, schĂŒttelten die Köpfe und hatten die Halloween-Geschichte ihres Lebens zu erzĂ€hlen.
Denn an Halloween, dem Tag der schaurig-schönen Geschichten, Kobolde, Feen und des ĂbernatĂŒrlichen, sind sich Zauber- und Muggelwelt am nĂ€chsten.
Auch die Welt der Lebenden und der Toten ist sich Halloween am nÀchsten.
Die TĂŒr zum Friedhof quietscht, wie jedes Jahr, und Remus ist auf das Ziehen in den Ohren gefasst. Nur Sirius an seiner Seite, mit nachtschwarzem Umhang, nachlĂ€ssig rasiert und sich behutsam bewegend, zuckt zusammen.
Remus manövriert Sirius schnell an dem Kriegerdenkmal vorbei, bevor es seine wahre Erscheinung zeigen kann. DafĂŒr haben sie spĂ€ter noch Zeit.
Und dann stehen sie vor dem Grab, das Remus einmal im Jahr besucht, immer am gleichen Tag, und eine schneeweiĂe Lilie und einen Mahagonizweig niederlegt. Zusammen starren sie einen langen Moment auf den weiĂen Marmorstein. Remus kennt die Wörter darauf inzwischen auswendig, doch Sirius liest sie zum ersten Mal.
Kinderlachen dringt an ihr Ohr, die Nacht ist erfĂŒllt von Leben, die StraĂen sind belebt. Auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche herrscht Stille.
Und dann bricht es aus Sirius heraus, er fÀllt auf die Knie, er ringt mit den HÀnden.
Remus wartet, bis sich Sirius beruhigt hat, bis Sirius wieder an seiner Seite steht und sie ihr Mitbringsel gemeinsam auf das Grab legen können.
Als die Lilie und der Mahagonizweig ineinander verschlungen auf dem Grab liegen, können sie sich noch nicht losreiĂen, blicken unverwandt auf die verblassten Buchstaben.
Dann durchbricht Sirius die Stille. âWeiĂt du noch?â, fragt er. âUnser letztes Halloween?â
Ja, Remus weiĂ noch. Er sieht noch Lily vor sich, in ihrem Kimono-Sari-Morgenmantel-Unfall, er riecht noch Rauch, SĂŒĂigkeiten, faule Eier, er fĂŒhlt noch die schneidend kalte Luft, als sie davonfliegen.
âJaâ, antwortet Remus, âich weiĂ noch.â
Damals haben sie die Worte âletztes Halloweenâ nicht in den Mund genommen, doch genau das ist es gewesen.
Plötzlich gluckst Sirius neben ihm und Remus fÀhrt wegen des unerwarteten GerÀuschs herum.
âWeiĂt du noch, Superman, die lĂ€cherlichen Halloween-BrĂ€uche, Saures oder Saures?â
âJaâ, antwortet Remus wieder und lĂ€chelt. Dann muss auch er lachen. âWeiĂt du noch, dass James dieses Haus mit Klopapier einwickelt wollte?â
Sie lachen im Einklang miteinander.
âMoony, weiĂt du noch den Pub hier? Mit ein wenig GlĂŒck bekommen wir noch einen Platz.â
Damit hat Remus nicht gerechnet, dass sie ihn alten Zeiten schwelgen, bittersĂŒĂe Erinnerungen hervorholen. Gerade hier, gerade heute. Doch vielleicht ist es genau der richtige Moment, zu den hellen Seiten eines dunklen Kapitels zu blĂ€ttern.
Remus nickt, sie blicken noch einmal, ein letztes Mal, auf den Grabstein, bevor sie ihre Freunde allein lassen, mit dem Versprechen, im nÀchsten Jahr wiederzukommen. Zu zweit.
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