von yoho
Es geht uns mit BĂŒchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwĂ€hlen wir zu unseren Freunden. Ludwig Feuerbach
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Hermine hatte noch nie in ihrem Leben so viele BĂŒcher auf einem Fleck gesehen. Sie lagen scheinbar wahllos in der Auslage hinter dem kleinen Schaufenster. Wenn sie die HĂ€nde seitlich an den Kopf hielt und sich dann ganz dicht an die Scheibe drĂŒckte, dann erkannte sie dahinter Regale mit noch mehr BĂŒchern. Selbst auf dem FuĂboden stapelten sich schwere BĂ€nde, die wohl wegen ihrer sperrigen MaĂe keinen Platz mehr in den Regalen gefunden hatten.
Hermine zog an der Hand ihrer Mutter und strebte Richtung TĂŒr. âBitte!â
Sie hatten, weil ihr ĂŒblicher Nachhauseweg vom Supermarkt durch eine Baustelle versperrt wurde, einen kleinen Umweg durch NebenstraĂen genommen und wie immer gab es auf neuen Wegen neue Dinge zu sehen. Einen Baum, den sie noch nicht mit Namen kannte oder ein altes Haus, das sie gerne mal durchstöbert hĂ€tte, um festzustellen, ob darin Geister wohnten. Sie hatte schon einige Male in alten HĂ€usern Geister gesehen. Ihre Eltern wollten ihr das nicht glauben. Aber Hermine war sich ganz sicher, dass es Geister gab.
Und jetzt hatte sie gerade dieses GeschĂ€ft mit den vielen BĂŒchern entdeckt. Das war fast so gut, wie einem Geist zu begegnen.
âDein Vater wartet mit dem Essen auf unsâ, sagte ihre Mutter. âGuck mal, der Laden hier ist doch nur zwei StraĂen von zu Hause weg. Wenn du magst, darfst du dir ihn morgen ansehen. Okay?â
Hermine nickte zögerlich und löste ihren Blick schlieĂlich von den Verlockungen, die hinter der Scheibe auf sie warteten.
Am nÀchsten Morgen stand sie zusammen mit ihren Eltern auf, obwohl sie eigentlich Ferien hatte und ausschlafen durfte. Ihre ersten Sommerferien.
âWenn mir eines von den BĂŒchern gefĂ€llt, darf ich mir das dann kaufen?â
âNa klarâ, sagte ihre Mutter. âVon deinem Taschengeld darfst du dir kaufen, was du möchtest.â
Hermine hatte noch nie selber ein Buch ausgewĂ€hlt. Ihre kleine Bibliothek bestand aus Geschenken ihrer Eltern und einer Tante, die, genau wie Hermine, am BĂŒcher-Bazillus litt, wie ihre Mutter das nannte. Aber das waren eigentlich nicht IHRE BĂŒcher, genau wie sie zwischen Kleidung unterschied, die ihre Mutter fĂŒr sie gekauft hatte und der, die sie selber hatte aussuchen dĂŒrfen. Ihre Mutter liebte Kleider und Röcke. Hermine wĂ€hlte mit Vorliebe Jeans und bunt bedruckte Shirts aus. Nur was sie selber ausgesucht hatte, gehörte wirklich ihr.
Genauso wenig wie sie Röcke mochte, kam sie mit dem BĂŒchergeschmack ihrer Mutter und ihrer Tante zurecht. Sie schenkten ihr immer KinderbĂŒcher. Hermine hingegen bevorzugte eher die literarische Kost aus den BĂŒcherregalen ihrer Eltern.
Als sie noch kleiner war, und nicht alleine zu Hause bleiben durfte, hatte sie die Zeiten, in denen der Kindergarten geschlossen blieb, bei ihrer Oma verbracht. Die hatte das mit ihr gemacht, was Hermine am liebsten mochte: Vorlesen.
Mit der Zeit waren aus den Buchstaben vor ihren Augen zusammen mit der Stimme ihrer Oma Worte entstanden. Aus den Worten waren SĂ€tze geworden und irgendwann ĂŒberraschte sie sich damit, dass sie einfach selber weiter las, als ihre GroĂmutter vom Klingeln des Telefons beim Vorlesen unterbrochen wurden.
Als Hermine dann in die Schule kam, konnte sie, sehr zum Verdruss ihrer Lehrerin, schon lesen.
Kinderliteratur gefiel ihr lĂ€ngst nicht mehr. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich nachts unter der Bettdecke heimlich durch die BĂŒcher geschmökert, die im Wohnzimmer ihrer Eltern in den unteren Regalböden standen. An die oberen reichte sie nicht heran und es wĂ€re zu auffĂ€llig gewesen, eine Leiter ins Wohnzimmer zu tragen.
Ihre Mutter begleitete Hermine bis vor das GeschĂ€ft mit den vielen BĂŒchern und vergewisserte sich, dass der Laden geöffnet hatte. Ein alter Mann stellte gerade zusammen mit einer jungen Frau, die wie seine Tochter aussah, einige BuchstĂ€nder und WĂŒhlkisten neben der EingangstĂŒr auf. Die beiden machten einen netten Eindruck und so lieĂ sie Hermine schlieĂlich mit der Ermahnung, spĂ€testens mittags zum Essen nach Hause zu kommen, alleine. Wenn sie frĂŒher zurĂŒckkam, wĂŒrde sie ihre Eltern in der Zahnarztpraxis direkt neben dem Wohnhaus finden.
Hermine betrachtete das Ladenschild, das ĂŒber der EingangstĂŒr im Morgenwind schaukelte. An â ti â qua â ri â at buchstabierte sie. Der Mann, der gerade wieder eine Kiste vor die TĂŒr schleppte und auf einem Metallgestell absetzte, lĂ€chelte sie freundlich an.
âWas ist das, ein An â ti â qua â ri - at?â, fragte Hermine
âDas ist ein GeschĂ€ft, in dem alte BĂŒcher verkauft werden.â
âDarf ich mir die BĂŒcher ansehen?â
âNatĂŒrlichâ, sagte der Mann. âAber sei vorsichtig und nicht die Seiten verknicken!â
Hermine warf ihm einen empörten Blick zu: âIch weiĂ, wie man mit BĂŒchern umgeht.â
Der alte Mann lĂ€chelte: âNa dann viel SpaĂ.â
Als Hermine die TĂŒr aufdrĂŒckte, bimmelte ein altmodisches Glockenspiel. Sie blieb stehen und lieĂ ihren Blick ĂŒber die Regale schweifen. BĂŒcher. Ăberall BĂŒcher.
Die Luft hier im Laden roch anders. DrauĂen vor der TĂŒr duftete es nach Sommer. Hier drinnen roch es nach altem Leder, Papier, DruckerschwĂ€rze und Staub. GerĂŒche, die Hermine durchaus bekannt, in dieser Kombination und IntensitĂ€t aber neu waren.
Der Mann und die junge Frau lieĂen sie in Ruhe staunen und erst nachdem drauĂen alle Kisten und StĂ€nder aufgebaut waren, beugte sich die Frau zu Hermine herunter: âDie KinderbĂŒcher sind da drĂŒben.â
Hermine folgte der Frau, die sie zu einer Regalwand ganz hinten im Laden fĂŒhrte: âHier unten, die ersten drei Böden. Da kommst du an alles dran.
âFrag mich, wenn du Hilfe brauchstâ, sagte sie und verschwand in Richtung des kleinen Schreibtisches, der direkt neben der EingangstĂŒr stand.
Hermine zog das erste Buch aus der untersten Regaletage. âSusi und ihr Hundâ stand auf dem Titel. Sie schlug den Deckel auf und klappte ihn sofort enttĂ€uscht wieder zu. Es war ein Bilderbuch mit nur ganz wenig Text. Der zweite Band, den sie in die Hand nahm, versprach zwar mehr, weil er dicker war. Aber âMarcos Ferienâ war in GroĂbuchstaben geschrieben. Hermine las drei SĂ€tze und merkte, wie Langeweile aufkam.
Sie erforschte die anderen Regalböden. Doch das war alles fĂŒr kleine Kinder, die noch nicht lesen konnten oder es gerade gelernt hatten. Oder es waren die ĂŒblichen, wie sie fand, einfallslosen Kindergeschichten nach dem Strickmuster: Junge bekommt Hund, Junge verliert Hund, Junge sucht Hund, Junge findet Hund. BĂŒcher mit MĂ€dchen gab es auch. Da wurde der Hund dann durch ein Pony ersetzt.
SchlieĂlich fiel ihr Blick auf eine Bananenkiste, die wohl aus Platzmangel mitten im Gang zwischen den Regalen mit den KinderbĂŒchern abgestellt worden war. Zuoberst lagen billige Paperbacks. Meistens wohl Liebesromane, leicht erkennbar an den Umschlagfotos. Hermine nahm sie aus der Kiste und stapelte sie, ohne sie eines weiteren Blickes zu wĂŒrdigen, auf dem abgewetzten HolzfuĂboden. Darunter stieĂ sie auf eine Lage völlig zugestaubter BĂŒcher mit festen EinbĂ€nden.
Sie zog eines heraus und wischte mit einem Zipfel ihres T-Shirts den Staub vom Einband. Das Buch war jetzt sauber und der gelbe Stoff dreckig.
âMark Twain â Huckleberry Finns Abenteuerâ, las sie. Auf dem Umschlag waren zwei Jungen abgebildet, die in einem Fluss angelten. Sie trugen Hosen mit HosentrĂ€gern und hatten runde HĂŒte auf. Hermine kannte diese Kleidung aus einem Western, den sie zusammen mit ihren Eltern angeschaut hatte. Es war ein lustiger Western gewesen und deswegen hatte sie ihn sehen dĂŒrfen.
Hermine schlug das Buch auf und begann zu lesen: Ihr wisst noch nichts von mir, es sei denn, ihr habt ein Buch gelesen mit dem Titel âTom Sawyers Abenteuerâ, aber das tut hier nichts zur Sache. Dieses Buch hat ein gewisser Mark Twain geschrieben, und im groĂen ganzen hat er sich dabei an die Wahrheit gehalten âŠ.
Sie versank in die Geschichte und verfolgte amĂŒsiert die Versuche, die die Witwe und Miss Watson unternahmen, um Huckleberry Finn zu zivilisieren. Sie kam bis zu der Stelle, an der Huck sagte, er wĂ€re gerne in der Hölle, nur um mal wieder etwas Abwechselung vom Lernen und Bibelstudium zu haben. Ihr GelĂ€chter lockte die junge Frau herbei.
Sie betrachtete Hermine, wie sie da mit staubigem T-Shirt und lachendem Gesicht im Schneidersitz neben der halb geleerten BĂŒcherkiste saĂ.
Die Frau bĂŒckte sich zu ihr hinunter, neugierig, was Hermine so erheiterte.
âDarf ich das Buch mal sehen?â, fragte sie.
Hermine reichte ihr den Band.
âDas ist eine Erstausgabeâ, sagte die Frau, nachdem sie vorsichtig bis zur dritten Seite vorgeblĂ€ttert hatte.
âWas heiĂt das?â, wollte Hermine wissen.
âNunâ, sagte die Frau, âdas heiĂt, dass es sich um eine kleine Kostbarkeit handelt. Kein extrem wertvolles StĂŒck, aber doch, hmm, eine kleine Kostbarkeit. Ein guter Anfang, falls du BĂŒcher sammeln möchtest.â
âAber man kann es doch trotzdem lesen?â, fragte Hermine Ă€ngstlich und sah zu der Frau auf.
Die lachte: âJa, natĂŒrlich kannst du es lesen. Wobei ⊠wie alt bist du eigentlich?â
âFast acht.â
âEigentlich noch ein bisschen jung fĂŒr diesen Huckleberry Finn. Es gibt Fassungen, die sind fĂŒr Kinder umgeschrieben. Aber das hier ist eine Erwachsenen-Ausgabe. Sie ist sehr lang und ich glaube da sind auch ein paar Szenen drin, von denen du schlimme TrĂ€ume kriegen könntest.â
Hermine wirkte enttĂ€uscht: âAber ich findâs gut. Die Menschen in dem Buch reden wie echte Menschen und nicht so komisch verschraubt, wie in anderen BĂŒchern. Und auĂerdem ist das doch nur eine Geschichte. Von Geschichten krieg ich keine bösen TrĂ€ume.â
Falls die junge Frau beeindruckt war, lieĂ sie es sich nicht anmerken.
âWenn es dir gefĂ€llt, kannst du das Buch kaufen. Möchtest du es haben?â
Hermine zögerte und blickte verlegen.
âWas ist?â
Sie schluckte. âIch weiĂ nicht, ob ich es bezahlen kann. Ich hab nur ein halbes Pfund.â
Die Frau drehte das Buch und betrachtete es von allen Seiten. âNun, der Einband hat schon Stockflecken und auf der RĂŒckseite sind einige Kratzer.â Sie blĂ€tterte die Seiten um. âUnd die BlĂ€tter sind auch schon ziemlich stark vergilbt. Hier und da sind die Ecken verknickt.â
Sie setzte sich in die Hocke und drĂŒckte Hermine das Buch wieder in die HĂ€nde. âIch denke, es sollte nicht mehr als ein halbes Pfund kosten.â
Hermine trug den Band, der wie einen Schatz flach auf ihren beiden HĂ€nden lag, aus dem Laden. Ihr Gesicht war verschwitzt und hellgrau gepudert, weil sie die TaschenbĂŒcher etwas zu hastig wieder in die Kiste gerĂ€umt und dabei jede Menge Staub aufgewirbelt hatte.
Als sie ĂŒber die Schwelle war, rannte sie los.
Der alte Mann war gerade damit beschĂ€ftigt, eine eben angelieferte Kiste mit einer Komplettausgabe der Encyclopaedia Britannica zu begutachten. Er sah dem MĂ€dchen in dem gelben T-Shirt und den etwas zu groĂen Bluejeans nach und schĂŒttelte den Kopf. âMein Gott, die hatâs aber erwischt die Kleine.â
Er stemmte Band sieben âINE â KALâ aus der Kiste und strich liebevoll ĂŒber den aufwendig geprĂ€gten Ledereinband. âDas arme Kindâ, sagte er mehr zu sich selber.
Als seine Tochter ihm bei der Encyclopaedia zur Hand ging, bemerkte sie ein LĂ€cheln auf seinem Gesicht, das sie lange nicht mehr gesehen hatte.
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Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind mal eine Ă€hnliche, autobiographische Geschichte von Karl-Rolf Seufert gelesen habe. Leider weiĂ ich den Titel nicht mehr. Da ich aber die Idee fĂŒr âIhr erstes Buchâ bestimmt aus der Erinnerung an diese ErzĂ€hlung habe, möchte ich das hier nicht unerwĂ€hnt lassen. Kennt man den Autor eigentlich heute noch?
âThe Adventures of Huckleberry Finn (Tom Sawyerâs Comrade)â gilt als ein SchlĂŒsselwerk fĂŒr die amerikanische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Einen Ă€hnlichen Stellenwert hatte erst wieder J.D. Salingerâs âThe Catcher in the Ryeâ. Salinger lieĂ, genau wie Mark Twain, seinen Protagonisten Slang sprechen. Deswegen wurde âThe Catcher in the Ryeâ in einigen angelsĂ€chsischen LĂ€ndern zunĂ€chst verboten. Begriffe wie âgoddamâ und âfuckâ waren zu Anfang der fĂŒnfziger Jahre selbst in der Erwachsenenliteratur nicht salonfĂ€hig.
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