Spuren des Verlustes und der Verzweiflung
Die nächsten Tage und Wochen erlebte der Gefangene im höchsten Turm von Nurmengard wie in einer Art Trance, als würde er fortwährend durch einen dichten grauen Nebelschleier starren. Die Minuten und Stunden trieben an seinem geschundenen Geist vorbei, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Zu betäubend war der alles verzehrende Schmerz und Kummer, der schwer auf seinem Gemüt lastete. Zu tief und klaffend war das schmerzliche Loch, welches der Verlust des einzigen Gefährten und Freundes in Gellert Grindelwalds Herz gerissen hatte. Zu tief und klaffend war die tödlich anmutende Wunde, die der Verlust Albus Dumbledores in Gellert Grindelwalds Herz gerissen hatte.
Diese unnatürliche Starre der Trauer und Trostlosigkeit zu durchbrechen und für einen winzigen Augenblick lang abzuschütteln, gelang ihm nur, indem er sich verzweifelt in die nun vollends verlorene Vergangenheit flüchtete.
Wie ein Pilger auf Spurensuche irrte sein Herz in der kalten Einsamkeit des kargen Verließes um Trost und Halt flehend ziellos durch die alten Briefe und Fotographien. Wie ein Ertrinkender den rettenden Anker, so umschlossen seine abgemagerten, knochigen Finger zitternd den kleinen aquamarinblauen, tränenförmigen Edelstein, klammerten sich verzweifelt an den warmen rot-goldenen Schal und strichen bebend über das abgegriffene Köpfchen des kleinen grauen Teddybären mit der rosafarbenen Schleife um den Hals.
Stumme, Musik gewordene Trauer, Tränen als Melodie, in Erinnerung an das schicksalhafte Erscheinen des wehklagenden Phönix und in seinem eigenen Herzen, das leise aufschluchzte, während er trauernd alte Zeitungen durchforstete und stets einen ungeheuer schmerzhaften Stich in seinem Inneren und zugleich einen freudigen Anflug tröstender Nostalgie verspürte, wann immer das vertraute Antlitz und der wohlbekannte Name ihm entgegenzwinkerten, für immer gebannt auf das gleichgültige schwarz-weiße Zeitungspapier. Verblassende Erinnerungen aus einer Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Verblassende Erinnerungen aus einer Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Verblassende Erinnerungen aus einer Ära am anderen Ufer der ewigen Nacht. Verblassende Erinnerungen an Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore. Für immer gebannt auf das gleichgültige schwarz-weiße Zeitungspapier.
Unzählige Tränen waren bereits auf ein besonders großes Bild des vertrauten Antlitzes getropft und hatten ihre Spuren auf dem gleichgültigen schwarz-weißem Zeitungspapier hinterlassen. Heiße, bittere Tränen. Spuren des Verlustes und der Verzweiflung. Die einzigen kleinen Lichttropfen im Meer der Dunkelheit. Sternengleiche Blinkzeichen der Freundschaft und der ehrlichen, aufrichtigen Trauer auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht. Spuren des Verlustes und der Verzweiflung auf dem gleichgültigen schwarz-weißen Zeitungspapier. Spuren des Verlustes und der Verzweiflung auf dem Bildnis des vertrauten Antlitzes, dessen Lippen zu dem üblichen gütigen Lächeln verzogen waren und dessen durchdringende Augen dem Gefangenen, über die halbmondförmigen Brillengläser spähend, sogar auf dem gleichgültigen Zeitungspapier das Gefühl gaben, geröntgt und bis auf den Grund seiner Seele durchleuchtet zu werden.
Über jenem Bild prangten die Worte „Erinnerungen an Albus Dumbledore“ und erfüllten die kleine Zelle mit dem geisterhaften Echo einer schrecklich schmerzlichen Gewissheit, erfüllten sie mit Kummer und Leid und bittersüßen Erinnerungen an die wenigen kostbaren Augenblicke, welche der Baum des Lebens für Gellert Grindelwald und Albus Dumbledore bereit gehalten hatte.
Der zu jenem Bild gehörige Zeitungsartikel war nach einmaligem Lesen verächtlich schnaubend zusammengeknüllt und in eine entfernte Ecke des kargen Verließes verbannt worden. Jene nichtssagenden Worte aus jemandes Feder, der sich über ein Jahrhundert lang „zu den Glücklichen“ gezählt hatte, „die Albus besonders nahestanden“ und „die die Ehre hatten, seine Freunde zu sein“ und der Albus offenbar doch kaum gekannt hatte. Jene nichtssagenden Worte, die sich anmaßten, das Bild eines ganzen Lebens malen zu wollen, und die doch nicht mehr waren als die schwärmerische Kunstkritik eines Bewunderers, der ein prächtiges Gemälde aus der Ferne bestaunte und beschrieb.
Jene nichtssagenden Worte waren fein säuberlich von dem kostbaren Bild des teuren Antlitzes getrennt und dann in eine entfernte Ecke des kargen Verließes verbannt worden.
Und während der Gefangene mit einem traurigen Lächeln den durchdringenden Blick der aus dem Foto funkelnden Augen erwiderte, wurde ihm endgültig und vollständig bewusst, wie nahe er Albus gestanden war, wie gut er ihn gekannt hatte, wie gut er ihn in nur zwei kurzen Sommermonaten und in den darauffolgenden gelegentlich gestohlenen Augenblicken kennen gelernt hatte. Besser als all die Glücklichen, die ein ganzes Jahrhundert lang Zeit dazu gehabt hätten. Gellert Grindelwald wurde endgültig und vollständig bewusst, dass er vermutlich Albus Dumbledores einzig wahrer Freund gewesen war, mit Ausnahme des weinenden Feuervogels vielleicht, der diese Welt mit seinem Herrn zusammen verlassen hatte. Gellert Grindelwald wurde endgültig und vollständig bewusst, dass Albus Dumbledore nicht nur der einzige gewesen war, der bis auf den Grund von Gellerts Seele geblickt hatte, sondern dass Albus auch ihm als einzigem erlaubt hatte, tiefe Einblicke in seine Seele zu gewinnen. Gellert Grindelwald wurde endgültig und vollständig bewusst, dass er vermutlich als einziger tatsächlich die Ehre gehabt hatte, Albus Dumbledores Freund zu sein.
Und was hatte er getan?
Er hatte diese Ehre, diese kostbarste aller Gaben, nach nur zwei Monaten so schmählich mit Füßen getreten und aufgegeben. Hatte diese kostbare Freundschaft verspielt für nichts als leere Worte, für nichts als trügerische Träume und Illusionen. Verspielt für leere Worte vom Größeren Wohl und trügerische Träume von Heiligtümern und Unsterblichkeit. Verspielt und mit Füßen getreten. Diese kostbarste aller Gaben. Diese kostbare Freundschaft. Die Freundschaft zu Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore.
Der ausgezehrte Leib des Gefangenen wurde von einem neuerlichen Schluchzen erfasst und geschüttelt, schmerzhafter als jemals zuvor. Neue Tränen fanden ihren Weg über seine eingefallenen Wangen. Heiße, bittere Lichttropfen im Meer der Dunkelheit. Sternengleiche Blinkzeichen der Reue und der Verzweiflung auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht.
Undurchdringliche Finsternis der Einsamkeit und des Todes. Heiße, bittere Tränen der Reue und der Verzweiflung. Alles verschlingende, blendende Schwärze der Scham und der Schmach. Ewige Nacht.
Bis sich drei einzelne Worte aus den Tiefen seiner Erinnerung lösten und sachte, Welle um Welle, Woge um Woge, an sein trauerndes Herz drangen. Drei einzelne kleine Worte aus der Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Drei einzelne kleine Worte aus der Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Drei einzelne kleine Worte aus der Ära am anderen Ufer der ewigen Nacht. Drei einzelne kleine Worte, welche den Schmerz und die Schmach zu lindern vermochten.
„Verziehen, Gellert, verziehen.“
Noch immer lief ein Zittern ums andere durch den entkräfteten, ausgezehrten Körper des Gefangenen. Noch immer wurde die bleierne Stille im höchsten Turm von Nurmengard hin und wieder von trockenem Schluchzen zerrissen und unsanft durchbrochen. Doch allmählich kam Grindelwald wieder halbwegs zu sich. Allmählich versiegten die heißen, bitteren Tränen.
„Verziehen, Gellert, verziehen.“
Am ganzen Leib zitternd holte der Gefangene tief Luft und lauschte diesen versöhnlichen, tröstenden Worten nach, schöpfte verzweifelt Kraft und Hoffnung aus ihnen, wie er sie nur aus Worten Albus Dumbledores schöpfen konnte. Worte aus der Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Worte aus der Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Worte aus der Ära am anderen Ufer der ewigen Nacht. Worte, welche den Schmerz und die Schmach zu lindern vermochten. Worte, die Kraft und Hoffnung gaben, wie das Lied des Phönix.
Ausnahmsweise mal ein etwas weniger tristes, hoffnungsvolleres Kapitelende …
Wie immer hoffe ich sehr, dass es euch zugesagt hat, und ich hoffe, ihr empfandet den Nachruf nicht als zu sehr verunglimpft, aber ich bin mir doch relativ sicher, dass ich Gellert hier ganz gut in seinen Gedanken getroffen habe.
Ich hoffe, dass mir das auch im nächsten Kapitel gelingen wird, zumal die Gedanken da mal wieder um einiges zorniger und wütender werden - ich glaube, ihr ahnt alle, auf welchen Zeitungsartikel ich unseren Gefangenen als nächstes stoßen lasse …
Bis dahin wünsche ich euch alles Liebe & Gute und würde mich natürlich freuen, von euch zu hören! ;)
Eure halbblutprinzessin137
P.S.: @ Elbe: Danke für den langen und kritischen Kommentar ;) Tut mir leid, dass die beiden Kapitel deine Erwartungen nicht so ganz erfüllen konnten, und ich verstehe das, was du zu bemängeln hattest, auch. Allerdings möchte ich die Wiederholungen gerne beibehalten, weil ich mir halt wirklich etwas dabei gedacht habe ... Mit dem Tod Dumbledores geht die FF einfach in eine vollkommen neue Phase, in der nichts mehr so ist, wie es zuvor war, und die bestimmt wird von einer gewissen Monotonie, und das wollte ich mit diesem sich ewig wiederholenden Absatz rüberbringen. Er ist ein bisschen zu verstehen wie ein Leitthema in einem Musikstück, das sich immer wieder wiederholt und dadurch den Charakter und die Melodie des Stücks entscheidend prägt. Zumindest für mich. Und deswegen muss er drinbleiben und sich auch durch die kommenden Kapitel noch weiter ziehen wie ein roter Faden. Ich hoffe, dass dies das Lesevergnügen nicht allzu sehr trübt - zur Not überspringst du diese Absätze halt wirklich, ja? ^^
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