Ewige Nacht
Gelähmt und bewegungslos auf die hölzerne Pritsche gebannt von entsetzlichem Grauen und alles verzehrender Trauer, vermochte der Gefangene nicht zu sagen, ob seit dem schicksalhaften Erscheinen des weinenden, wehklagenden Phönix Stunden oder Tage verstrichen waren. Vermochte nicht zu sagen, ob draußen vor dem fensterartigen Schlitz im Mauerwerk Sonnen und Monde auf- und wieder untergegangen waren, deren Licht doch weder das Zelleninnere noch das Herz des Gefangenen erreichen konnte.
Es schien als hätte sich eine ewige Nacht auf die eherne Festung gelegt und die karge Zelle im höchsten Turm von Nurmengard in undurchdringliche Finsternis gehüllt. Ewige, undurchdringliche Finsternis der Einsamkeit und des Todes. Bittere Tränen die einzigen kleinen Lichttropfen im Meer der Dunkelheit. Sternengleiche Blinkzeichen der Freundschaft und der ehrlichen, aufrichtigen Trauer auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht.
Undurchdringliche Finsternis der Einsamkeit und des Todes. Ewige Nacht. Selbst die Tränen versiegten allmählich. Keine Kraft mehr. Ewige Nacht. Trauer, zu allumfassend, zu entsetzlich für Tränen allein. Die Flamme im Inneren des Gefangenen, die ihn nunmehr über ein halbes Jahrhundert lang in der Dunkelheit des Verließes am Leben erhalten hatte, war drauf und dran, endgültig zu verlöschen. Ewige Nacht.
Nurmengard würde ihn nicht brechen.
Das hatte er sich einst vor so vielen Jahren geschworen. Einst am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Einst am anderen Ufer des Sonnenuntergangs, welcher seine Welt in ewige Nacht gehüllt hatte. Undurchdringliche Finsternis der Einsamkeit und des Todes. Ewige Nacht.
Und tatsächlich hatte der Gefangene gehalten, was er geschworen hatte. Einst am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Einst am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Einst am anderen Ufer jener ewigen Nacht. Nurmengard hatte ihn nicht gebrochen. Hatte ihn nicht gänzlich zu brechen vermocht. Denn am Ende jenes Tunnels hatte doch stets ein kleines, fernes Licht gebrannt. All die Jahre über. Doch nun war geschehen, womit niemand je gerechnet hatte. Nun war geschehen, was er niemals für möglich gehalten hätte. Das Licht am Ende des Tunnels war erloschen. Für immer. Ewige Nacht.
Neue Tränen stahlen sich aus den geröteten, eingesunkenen Augen des Gefangenen, rannen heiß und bitter über seine eingefallenen Wangen und tropften auf das Stoffbündel, welches der weinende Phönix gebracht hatte. Langsam senkte der Gefangene den Blick auf jene letzte Gabe und strich mit bebenden Fingern über das, was er zuvor in den golden glänzenden Klauen des prächtigen scharlachroten Feuervogels für ein Lumpenbündel gehalten hatte. Es war eine neue, dicke, warme, weiche Wolldecke.
„Ein wenig Wärme, das ist das einzige, was ich dir geben kann.“
Ja, es war das einzige gewesen. Und vielleicht war es auch nicht viel gewesen. Doch dem Gefangenen im höchsten Turm von Nurmengard hatte es die Welt bedeutet. Ein wenig Wärme. Die kostbarste Gabe in der kalten Einsamkeit des ehernen Verließes.
Die flauschige, warme Decke war schon ganz tränennass, als der Gefangene sie vorsichtig auseinanderfaltete und drei Gegenstände in seinen Schoß purzelten. Drei letzte kleine Lichtblicke auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht. Drei letzte kleine Lichtblicke in der undurchdringlichen Finsternis der Einsamkeit und des Todes. Drei letzte kleine Erinnerungen aus einer Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Drei letzte kleine Erinnerungen aus einer Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Drei letzte kleine Erinnerungen aus einer Ära am anderen Ufer jener ewigen Nacht.
Der erste Gegenstand war ein kleines, ungeheuer alt und abgegriffen aussehendes Kuscheltier. Ein grauer Teddybär mit einer rosafarbenen Schleife um den Hals. Arianas Teddy.
„Den schenke ich dir. Wenn du dich ganz einsam fühlst, dann kannst du ihn drücken und in den Arm nehmen. Aber du musst gut auf ihn aufpassen!“
Die abgemagerten Hände des Gefangenen zitterten fürchterlich, als er den kleinen grauen Teddybären mit der rosafarbenen Schleife unter Tränen sachte neben sich auf der hölzernen Pritsche absetzte.
Der zweite Gegenstand war eine Seite aus einem Buch. Verzweifelt versuchte der Gefangene, das brennende Nass aus seinen mittlerweile geschwollenen Augen wegzublinzeln, um die Worte auf dem Papier entziffern zu können. Jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer der ewigen Nacht.
„Sterben ist nur ein Uebergang aus dieser Welt in die andere, als wenn Freunde über See gehen, welche dennoch in einander fortleben. Denn Diejenigen, die im Allgegenwärtigen lieben und leben, müssen nothwendig einander gegenwärtig seyn. In diesem göttlichen Spiegel sehen sie sich von Angesicht zu Angesicht, und ihr Umgang ist so wohl frey als rein. Und wenn sie auch durch den Tod getrennt werden, so haben sie doch den Trost, daß ihre Freundschaft und Gesellschaft ihnen, dem besten Gefühle nach, beständig gegenwärtig bleibt, weil diese unsterblich ist.“
Hier endete der Text. Doch unter den gedruckten schwarzen Lettern des Autors fanden sich einige letzte Worte in dunkelblauer Tinte und in einer vertrauten feinen, schrägen, verschlungenen Handschrift. Einige letzte Worte aus der Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Einige letzte Worte aus der Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Einige letzte Worte aus der Ära am anderen Ufer der ewigen Nacht.
„Verzeih mir, dass ich es nicht über mich gebracht habe, dir die Wahrheit zu sagen, als ich mich von dir verabschiedet habe, Gellert. Sei jedoch versichert, dass dies kein Abschied für immer ist, alter Freund, dessen bin ich gewiss. Denk an meine Worte über das, was wir miteinander geteilt haben: eine Erfahrung für die Ewigkeit. Denk an mein Versprechen.
Mit meinem allerletzten Gedanken war ich hier bei dir in Nurmengard und bei uns damals in Godric's Hollow. Ich weiß, dass auch du, sofern du diese Worte gerade liest, mit deinen Gedanken bei mir warst, als es passiert ist, (denn andernfalls wäre Fawkes nie an deiner Seite erschienen), und ich danke dir von ganzem Herzen dafür.
Bis zu dem Tag, an dem wir uns irgendwann abseits der diesseitigen Wirklichkeit wiedersehen werden, sage ich nun also ein letztes Mal Lebewohl.
Albus“
Heiße, bittere Tränen tropften verzweifelt auf das Papier. Auf jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Auf jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer des Sonnenuntergangs. Auf jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer der ewigen Nacht. Auf jene letzten Worte aus einer Ära am anderen Ufer des schmalen Flusses zwischen Leben und Tod, welcher Gellert Grindelwald und Albus Dumbledore voneinander trennte. Heiße, bittere Tränen. Die einzigen kleinen Lichttropfen im Meer der Dunkelheit. Sternengleiche Blinkzeichen der Freundschaft und der ehrlichen, aufrichtigen Trauer auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht. Heiße, bittere Tränen, die sich mit der dunkelblauen Tinte vermischten und die feinen, schrägen, verschlungenen Buchstaben verschwimmen ließen. Jene letzten Worte. Jenen letzten Lichtblick auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht.
„Sei jedoch versichert, dass dies kein Abschied für immer ist, alter Freund, dessen bin ich gewiss. Denk an meine Worte über das, was wir miteinander geteilt haben: eine Erfahrung für die Ewigkeit. Denk an mein Versprechen.“
„Falls es doch so sein sollte und wir irgendwann alle gehen müssen, dann möchte ich dir etwas versprechen, Gellert: Sollte ich diese Reise irgendwann in ferner Zukunft vor dir antreten müssen, so werde ich auf dich warten und dir die Hand reichen, wenn es auch für dich so weit ist - damit du nicht alleine bist, damit wir diesen allerletzten Weg gemeinsam beschreiten können. Versprochen.“
„ … bis zu dem Tag, an dem wir uns irgendwann abseits der diesseitigen Wirklichkeit wiedersehen werden …“
Die heißen, bitteren Tränen der Verzweiflung, die über die eingefallenen Wangen rannen, erzählten davon, wie sehr der Gefangene im höchsten Turm von Nurmengard diesen Tag im Grunde seines Herzens herbeisehnte. Den Tag, der ihn wieder zurück ans andere Ufer bringen würde. Zurück ans andere Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Zurück ans andere Ufer des Sonnenuntergangs. Zurück ans andere Ufer jener ewigen Nacht. Zurück zu dem Einzigen, den er je Freund geheißen hatte. Zurück zu dem Einzigen, der bis auf den Grund von Gellerts Seele geblickt und ihn nie gänzlich aufgegeben hatte. Zurück zu Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore.
Wieder geht ein sehr trauriges Kapitel zu Ende und wieder hoffe ich trotzdem, dass es euch gut gefallen hat und nicht übertrieben sentimental, sondern der trostlosen Situation angemessen war. Wie immer würde ich mich sehr über eure Meinung und Rückmeldungen diesbezüglich freuen!
Wie ihr sicher bemerkt habt, war von drei Gegenständen die Rede und nur zwei davon habe ich bislang genauer beleuchtet - ihr könnt also bis zum nächsten Kapitel schon mal rätseln, was wohl die dritte Erinnerung an jene vergangene Ära ist, die noch ihren Weg zu Gellert Grindelwald gefunden hat … ;)
Bis zum nächsten Kapitel & alles Liebe,
eure halbblutprinzessin137
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