Die Wahrheit über die Wollsocken
Gespannt wartete der Gefangene auf Albus' Antwort, was besagter Erstklässler ihn denn gefragt habe, doch zu seiner Verblüffung zog Dumbledore den Zauberstab aus einer Innentasche seiner purpurroten Robe, tippte sich damit leicht an die Schläfe und als er ihn wieder wegzog, leuchtete die Spitze des Stabs silbrig weiß.
Sachte ließ Dumbledore den Elderstab schnippen und plötzlich erhoben sich zwei Stimmen und hallten in der Zelle des Gefangenen wider. Die eine Stimme gehörte zu Albus, wie Gellert sofort erkannte, die andere erkannte er nicht. Es war die Stimme eines Jungen.
Und dann verstand Gellert: Albus ließ ihn besagtes Gespräch mit anhören. Es war seine Erinnerung daran, die von den Mauern widerhallte.
„Du bist zurückgekommen, Harry? Wie ich sehe, kennst du nun, wie hunderte Menschen vor dir, die Freuden des Spiegels Nerhegeb. Ich bin sicher, du hast inzwischen erkannt, was er tut ... Ich gebe dir eine Hilfestellung: Angenommen, der glücklichste Mensch auf Erden würde in diesen Spiegel blicken, er sähe nur sich selbst vor sich, ganz genauso wie er ist.“
„Ach so, dann ... zeigt er uns also, was wir uns wünschen ... egal, was wir uns wünschen ...“
„Ja und nein. Er zeigt uns nicht mehr und nicht weniger als das allertiefste und verzweifeltste Sehnen unseres Herzens. Und du, Harry, der du deine Familie nie getroffen hast, du siehst sie an deiner Seite ... Aber vergiss eines nicht: Dieser Spiegel gibt uns weder Wissen noch Wahrheit. Viele, die davorstanden, haben sich völlig vergessen, sind verrückt geworden! Deswegen kommt er morgen an einen neuen Platz - auf eines muss ich bestehen: Lass dich nicht hinreißen, noch einmal danach zu suchen! Es tut nicht gut, wenn du nur deinen Träumen nachhängst und vergisst zu leben ...“
„Sir, Professor Dumbledore? Darf ich Sie etwas fragen?“
(Gellert Grindelwald spitzte die Ohren und lauschte gespannt. Albus Dumbledore schmunzelte, aber es wirkte ein wenig schmerzlich.)
„Nun hast du ja eine Frage schon gestellt. Du darfst mich aber noch etwas fragen.“
„Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?“
„Oh, verstehe ...“, murmelte der Gefangene.
Sein Einwurf schien den Bann gebrochen zu haben, denn die Stimmen aus der Erinnerung verstummten schlagartig, doch Gellert nahm davon kaum Notiz. Er blickte Albus direkt in die Augen und sagte ungewöhnlich leise und ernst: „Wenn es stimmt und dieser seltsame Spiegel einem wirklichen seinen tiefsten Herzenswunsch zeigt, dann ... dann siehst du deine Familie, heil und unversehrt und glücklich beisammen ... Hab ich Recht?“
Albus Dumbledore sagte weder ja noch nein. Vielleicht lag es daran, dass er in diesem Moment nicht antworten konnte. Seine strahlend blauen Augen schimmerten verdächtig. Diesmal war es Gellert Grindelwald, der die Hand tröstend nach seinem alten Freund ausstrecken musste und ihm unbeholfen den Rücken tätschelte.
Um die wehmütige Stille irgendwie zu durchbrechen, ergriff der Gefangene erneut das Wort und erkundigte sich vorsichtig: „Also, falls ich richtig liege und es wirklich deine Familie ist ... Das wirst du diesem kleinen Jungen wohl kaum alles erzählt haben, nicht wahr? Was hast du geantwortet?“
Ein leichtes schmerzliches Lächeln lag auf Dumbledores Lippen, als er erwiderte: „Ich glaube, meine Antwort lautete Ich? Ich sehe mich dastehen, ein Paar dicke Wollsocken in der Hand haltend.“
Der Gefangene starrte ihn zutiefst verblüfft an. Für einen kurzen Moment schien er sprachlos zu sein. Dann platzte er los: „Ein Paar Socken? Ehrlich, Albus, ich weiß, dass du erfinderisch bist und alles, aber wie um Himmels willen bist du nur auf so etwas Haarsträubendes, so etwas Absurdes wie ein Paar Wollsocken gekommen?“
Seine Augen weiteten sich noch mehr vor Erstaunen, als Dumbledore antwortete: „Das könnte daran liegen, dass meine Antwort gar nicht gänzlich erfunden war. Ich habe nicht gelogen, zumindest nicht wirklich. Es war eher eine Art Halbwahrheit ... ein verschlüsseltes Bild für das, was ich tatsächlich sehe, wenn ich in diesen Spiegel blicke, und was du bereits so treffend erraten hast, dass ich es selbst gar nicht besser ausdrücken kann.“
Er nickte Gellert zu und dessen Worte schienen noch einmal in der Zelle nachzuhallen wie ein geisterhaftes Echo.
„ ... dann siehst du deine Familie, heil und unversehrt und glücklich beisammen ...“
Nach einer Weile gab Grindelwald zu: „Ehrlich gesagt ... ich verstehe immer noch nicht.“
Albus Dumbledore öffnete den Mund, als wollte er zu einer Erklärung ansetzen, schloss ihn jedoch wieder und schüttelte mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck den Kopf.
Etwas ungeheuer Trauriges und Verletzliches lag in seinem Blick, als er den Gefangenen ansah und leise sagte: „Verzeih. Ich dachte wirklich, nach nunmehr beinahe hundert Jahren des Schweigens würde ich es schaffen, darüber zu sprechen. Ich habe mich geirrt. Es tut mir leid. Du musst wissen, seit ... seit deinem Fortgang -"
(Gellert Grindelwald warf seinem alten Freund einen schuldbewussten und zugleich mitleidigen Blick zu. Er spürte, welche Worte kurz in der Luft gehangen waren, und er spürte auch, dass Albus sie ganz bewusst vermieden hatte - „seit Arianas Tod“ ...)
„ - habe ich es stets vorgezogen, mit anderen Leuten nicht mehr über meine Familie zu sprechen, nicht einmal über die glücklichen Zeiten ganz am Anfang. Es tat und tut zu weh. Langsam befürchte ich, dass diese Wunden wohl nie verheilen werden, wenngleich man sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt ...“
Etwas hilflos strich der Gefangene seinem Besucher tröstend über die Schulter und fand sich zugleich damit ab, dass es nun eine weitre rätselhafte Frage gab, deren Antwort er nie erfahren würde. Doch zu seiner Überraschung sagte Albus Dumbledore plötzlich: „Ich könnte es dir aber zeigen, wenn du möchtest.“
Für einen kurzen Augenblick schien Gellert verwirrt und setzte an zu fragen: „Wie ... ?“
Doch Albus Dumbledore antwortete nicht. Stattdessen blickte er seinem Gegenüber direkt in die Augen und es war einer jener langen, intensiven und oftmals röntgenden Blicke. Da verstand der Gefangene. Legilimentik.
Er erwiderte den Blick aus leuchtend blauen Augen ohne zu blinzeln und noch im selben Moment stieg in ihm eine Erinnerung auf, die nicht seine eigene war ...
Es war Weihnachten im Hause Dumbledore. Die ganze Familie, die zu dieser Zeit tatsächlich noch vollständig gewesen war, wie Gellert bemerkte, hatte sich rund um den prächtig geschmückten Christbaum versammelt. Gerade reichte das winzig kleine, blonde Mädchen, welches Ariana sein musste, dem zehnjährigen Albus (Gellert erkannte ihn sofort, auch wenn sein Haar kürzer war und er noch keine Brille trug) ihr Geschenk. Lächelnd strich er ihr über ihr blondes Haar, bevor er das Geschenk vorsichtig öffnete.
Langsam zog er ein unförmiges, unidentifizierbares Etwas in bunten, nicht zusammen passenden Farben hervor und dann ein zweites.
„Socken“, piepste Ariana stolz, „ich hab dir ganz allein Socken gestrickt. Mama wollte mir helfen, aber ich hab alles selber gemacht! Es sind ganz warme, dicke Wollsocken, damit du es warm hast nächstes Jahr, wenn du weg bist, in der Schule. Mama meint zwar, die Farben passen nicht zusammen, aber sie haben doch eine Bedeutung! Blau, falls du nach Ravenclaw kommst, das glaubt Mama; Rot, falls du nach Gryffindor kommst, das glaubt Papa und da war er ja auch; und das Rosa, damit du an mich denkst, wenn du weg bist, weil es doch meine Lieblingsfarbe ist ...“
Gespannt und ein wenig atemlos blickte sie zu ihrem Bruder auf. „Gefallen sie dir?“
Albus betrachtete die unförmigen ... nun ja ... Socken ... in seiner Hand, die nach allen gängigen Maßstäben hässlich waren. Doch seine Stimme klang aufrichtig und liebevoll, als er versicherte: „Natürlich gefallen sie mir, sehr sogar! Danke, meine Kleine.“
Stolz schlang Ariana ihre zarten, fast zerbrechlich wirkenden Arme um den Bruder und er zog sie ebenfalls mit einer Hand an sich und umarmte sie, in der anderen Hand noch immer das Paar Wollsocken haltend, das diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient hatte. Aber das spielte keine Rolle. Jeder in der kleinen Familie war zufrieden.
Das war die tiefere Wahrheit hinter diesem unförmigen Paar Wollsocken aus einer längst vergangenen Zeit: Erinnerungen an ein zerbrechliches, längst unwiederbringlich zerstörtes Glück ...
Ganz langsam verblassten die Bilder und in der Zelle im höchsten Turm von Nurmengard kehrte Gellert Grindelwald wieder in seinen eigenen Geist zurück.
Eine nostalgisch wehmütige Stille breitete sich zwischen den beiden Männern aus. Derart in Schweigen gehüllt, blickten sie einander stumm an, während sie über die kleine und doch so bedeutsame Szene nachdachten, die sie eben beobachtet hatten. Die Erinnerung, die Albus ihm anvertraut hatte und dem Jungen nicht, dachte der Gefangene und spürte eine leichte wohlige Wärme in seinen Fingerspitzen.
Erst nach einer Weile bemerkte Gellert Grindelwald, dass Albus Dumbledores blaue Augen verdächtig feucht schimmerten und dass stummer, aber tiefer Schmerz in jede einzelne Falte seines Antlitzes geschrieben stand. Er war offenbar noch immer versunken in Erinnerungen an das, was ihm genommen worden war und was er so sehr vermisste. Gellert schluckte. Gerne hätte er seinen alten Freund getröstet, doch ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Rein gar nichts.
Einige Augenblicke herrschte ein äußerst betretenes Schweigen in der kargen Zelle. So still war es, dass man jeden einzelnen Atemzug deutlich vernehmen konnte. Der Gefangene suchte nach den passenden Worten, ohne sie zu finden. Dann jedoch kam ihm etwas in den Sinn, was er einst irgendwo gehört oder vielleicht auch gelesen hatte.
„Trösten ist eine Kunst des Herzens.
Sie besteht oft nur darin, liebevoll zu schweigen.“
Vielleicht, dachte Gellert unsicher, stimmte das ja wirklich, und so streckte er stumm die Hand aus und nahm Albus' schmale Hand wortlos in seine.
Eine ganze Weile saßen die beiden Männer einfach nur so nebeneinander mit ineinander verschlungenen Fingern auf der harten Holzpritsche und schwiegen. Doch das Schweigen veränderte sich tatsächlich. Es war plötzlich leichter und freier und lastete nicht mehr so schwer auf ihnen.
Erst nach einer langen Zeit zog der Gefangene seine Hand vorsichtig wieder zurück und blickte sein Gegenüber direkt an. Noch immer spiegelte Albus Dumbledores Miene eine stille Traurigkeit wider, jedoch wirkte er gefasster als zuvor und seine Augen waren vollkommen trocken. Diesmal fiel es Gellert leichter, die Stille zu durchbrechen.
„Irgendwie muss ich gerade an damals zurückdenken ... an unseren Sommer ... Wenn du damals so niedergeschlagen und mutlos warst wegen deiner Familie und deiner ganzen Verantwortung, dann habe ich es doch immer wieder geschafft, dich abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen, weißt du noch? Mal sehen, ob ich mir wenigstens dieses eine Talent bewahrt habe - Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Einverstanden?“
Wie Gellert wohl auf den Gedanken kommt, Albus ausgerechnet eine Geschichte zu erzählen? Und was für eine Geschichte wird das wohl sein? Hat sie auch irgendeine Wahrheit, die sich hinter einer märchenhaften Handlung verbirgt, so wie es bei dem Märchen von den drei Brüdern und den Heiligtümern des Todes ist und war?
Im nächsten Kapitel verrate ich es! ;)
Ich hoffe, dass euch dieses Kapitel gut gefallen hat und meine persönliche Erklärung für die Wollsocken euch zugesagt hat, zumal es da wirklich viele berührende Varianten gibt, die in allen möglichen FFs rumgeistern ...
Umso mehr freue ich mich wieder darauf, eure Meinungen und Reaktionen zu lesen!
Alles Liebe und bis demnächst,
eure halbblutprinzessin137
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