Zur Erinnerung:
Er wandte sich wieder der geheimnisvollen alten Frau zu, die ihn die ganze Zeit über aufmerksam aus ihren wachen eisblauen Augen gemustert hatte. Neugierig fragte er: „Wie heißen Sie?“
... und Einsicht
Doch die Frau lachte nur leise und fragte ihrerseits: „Was würde Ihnen das schon sagen, Junge? Nein, nein, schauen Sie nicht so empört drein. Ich weiß ganz genau, dass es Sie nur interessiert, weil Sie sich davon einen Hinweis auf den Verbleib der zwei anderen Heiligtümer erhoffen. Aber die Nachkommen der Peverells sind so verstreut, dass es Ihnen kaum weiterhelfen würde, glauben Sie mir, mein Junge. Jedoch kann ich Ihnen etwas anderes erzählen, wenn Sie wünschen. Wissen Sie, was Sie da haben?“
Und mit diesen Worten deutete sie auf den goldenen Anhänger.
„Ich war bisher der Auffassung, dass es eine Kette mit einem Anhänger in Form des Zeichens der Heiligtümer ist“, gab Gellert amüsiert und mit einer winzigen Spur Ironie in der Stimme zurück.
„Nun, da kann ich Ihnen natürlich nicht widersprechen. Aber ist Ihnen sonst nichts daran aufgefallen? Nichts Besonderes?“
Gellert spürte, wie sein Puls sich etwas beschleunigte, als er zögernd erwiderte: „Nun ja, manchmal ... manchmal scheint es fast so, als ... als würde Leben in ihm stecken ... eine Flamme ... ein Stück Magie ... irgendetwas Lebendiges.“
Würde sie ihn auslachen?
Im Gegenteil, die alte Frau nickte und auf ihrem faltigen Gesicht breitete sich ein ermutigendes Lächeln aus.
„Oh ja. Hinter diesem Anhänger verbirgt sich nicht nur ein außerordentliches Stück Magie, sondern auch eine bedeutungsvolle Geschichte. Wollen Sie sie hören?“
„Ja! Natürlich!“, stieß Gellert begeistert hervor.
Die Augenbrauen der alten Frau bewegten sich immer weiter ihre Stirn hinauf und Gellert Grindelwald verstand. In diesem Moment, in diesem seltsamen Gespräch, war er wieder nur Gellert, der Junge, und nicht der große Grindelwald, der Herrscher.
„Bitte“, setzte er daher rasch und ein wenig kleinlaut hinzu.
Sie nickte zufrieden.
„Wunderbar. Dann hören Sie zu. Es ist ein wenig schwierig zu erklären, aber ich werde mein Bestes tun und Sie scheinen mir ohnehin ein ungewöhnlich kluger Kopf zu sein.“
Sie lächelten einander kurz an. Dann begann sie zu erzählen.
„Die ganz besondere und bestimmt einzigartige Macht dieses magischen Schmuckstücks liegt darin, dass es seinem Träger durch uralte, mysteriöse Magie dabei helfen wird, instinktiv den Weg einzuschlagen, an dessen Ende das eine Heiligtum warten wird, welches der Träger von den dreien am meisten begehrt.“
Gellert strich gedankenverloren mit dem Daumen über das Holz des Elderstabs.
„Natürlich kann das Schmuckstück seinem Besitzer die Arbeit nicht abnehmen. Er muss klug, geschickt, begabt und mutig genug sein, um an das Heiligtum zu gelangen - und das aus eigener Kraft. Doch der Anhänger wird einen jeden Besitzer, der wahrhaftig das Zeug dazu hat, auf diesem Weg führen und leiten wie eine unsichtbare Hand, wie eine lautlose innere Stimme, wie der ureigene Instinkt ... Allerdings wird der Anhänger diese einzigartige Macht, diese unvergleichliche Magie nur und wirklich nur dann entfalten, wenn sein Besitzer wirklich zu allem bereit ist und auch wirklich alles hinter sich lassen würde, um in den Besitz des Heiligtums zu kommen ...
Es ist also nicht nur ein sehr mächtiger, sondern in gewisser Weise auch ein sehr gefährlicher Talisman - gefährlicher als verblendete Geister es abzuschätzen vermögen, viel gefährlicher ...
Wie auch immer, die Legende, die sich um jenen Anhänger rankt und von der selbst unter Gläubigen nur die wenigsten wissen, besagt, dass dieser einzigartige Talisman von keinem Geringeren als Cadmus Peverell selbst gefertigt wurde.
Zu dem Zeitpunkt, da er spürte, dass er an den Verlockungen des von ihm geschaffenen Steins zerbrechen und seiner Geliebten früher oder später ins Jenseits folgen würde, zu dem Zeitpunkt, da sein älterer Bruder Antioch bereits in einem aufsehenerregenden Duell gefallen war und den von ihm geschaffenen Zauberstab verloren hatte - da beschloss Cadmus, einen magischen Talisman zu erschaffen mit der Macht, andere zu den von ihnen geschaffenen Gegenständen zu führen, sofern jemand ihrer wirklich würdig sei ...“
...
Noch während die Worte der geheimnisvollen Fremden im Inneren des Gefangenen nachhallten, wurde jene Erinnerung von einer anderen, schmerzlicheren abgelöst.
...
Gellert Grindelwald hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gezögert. Doch in einem Duell wie diesem waren Sekundenbruchteile von entscheidender Bedeutung und durften keinesfalls unterschätzt werden. Es war dieses Zögern, das Grindelwalds Niederlage einläutete.
Der machtvolle Lichtblitz, blendend weiß und gezackt und von unermesslicher Kraft, traf ihn völlig unvorbereitet.
Gellert Grindelwalds Augen weiteten sich in erstauntem Entsetzen, als er hart auf den Rücken fiel und es ihm den Elderstab aus der Hand riss. Die goldene Kette um seinen Hals zerriss bei dem Aufprall und der Anhänger löste sich und fiel scheppernd zu Boden. Das Metall glühte nicht mehr. Es war kalt und leblos.
Gellert Grindelwald war zu betäubt, um auch nur den Versuch zu unternehmen, sich wieder aufzurichten.
~*~*~*~
Der Gefangene kauerte reglos in dem kargen steinernen Verließ und starrte gedankenverloren vor sich hin, während die Flut von Erinnerungen an den goldenen Anhänger nur langsam verblasste und ihn nur widerwillig losließ.
Erst jetzt begriff Gellert Grindelwald, was die alte Frau ihm hatte sagen wollen. Erst jetzt begriff Gellert Grindelwald, wie gefährlich der goldene Anhänger eigentlich gewesen war, wie gefährlich seine eigene Besessenheit und blinde Fixierung auf die Heiligtümer eigentlich gewesen war. Erst jetzt begriff Gellert Grindelwald, dass es vielleicht gar nicht so bewundernswert gewesen war, wirklich alles und jeden zurückgelassen zu haben auf der verbissenen Suche nach dem Unbesiegbaren Zauberstab.
Wieder sah er Albus vor sich, wie er benommen und fassungslos und gebeutelt von Trauer und Entsetzen neben dem Leichnam seiner Schwester kauerte. Wieder sah er sich selbst davonlaufen und die Türe hinter sich zuschlagen wie ein gewöhnlicher Straßendieb.
Zum ersten Mal sah Gellert Grindelwald wirklich ein, wie weh er seinem Freund damals getan hatte und wie schändlich er ihre Freundschaft mit Füßen getreten hatte. Wie unverzeihlich er sich damals benommen hatte. Und während diese Einsicht, diese bittere Erkenntnis über ihn hereinbrach, wurde der Gefangene von einer neuerlichen Welle der Reue erfasst und ergriffen. Schmerzlicher fast als jemals zuvor.
Und es hörte nicht auf.
Wofür, fragte sich der Gefangene beschämt und verbittert, hatte er all das hinter sich gelassen ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen? Wofür hatte er den Elderstab benutzt, als er ihn endlich in Händen gehalten hatte?
Zum Töten und Morden.
Dazu, unzählige Menschenleben zu zerstören, so wie das Leben der kleinen Ariana an jenem verhängnisvollen Tag zerstört worden war. Dazu, unzähligen unschuldigen Kindern ihre Eltern zu nehmen, so wie das Schicksal ihm seine Mutter genommen hatte. Dazu, unzählige Familien gewaltsam zu zerreißen, so wie die Familie seines alten Freundes schon damals, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, zerrissen gewesen war.
Der Gefangene zitterte am ganzen Leib, als er daran dachte, was er getan hatte.
Und mit diesen Erinnerungen an seine Verbrechen kam plötzlich auch die Einsicht. Die Einsicht, dass der Elderstab nun einen würdigeren Besitzer gefunden hatte als zuvor. Gellert Grindelwald gestand sich zum ersten Mal ein, dass jenes Heiligtum, welches er so verzweifelt begehrt hatte, bei Albus Dumbledore wohl in besseren Händen war als bei ihm selbst.
Und zum ersten Mal begriff Gellert Grindelwald auch die Worte, welche vor so langer Zeit gesprochen worden waren.
„Ich habe vor, ihn mit mir ins Grab zu nehmen, unbesiegt, als sein letzter Besitzer, um seine blutige Geschichte endgültig zu beenden.“
...
„Ich fürchte es gibt Dinge, die zerstört werden müssen. Dinge, die so viel Elend und Unheil anrichten können, dass es besser ist, die Menschheit vor ihnen zu bewahren. Und dieser Zauberstab, der nicht umsonst auch als Todesstab bezeichnet wurde, stellt eine solch gefährliche und unheilvolle Versuchung dar, die schon zu viel Blutvergießen verursacht hat und daher zerstört werden muss.“
Gellert Grindelwald begriff die Worte, die er damals nicht verstanden hatte und auch gar nicht verstehen wollte, und unwillkürlich musste er auch an jene Worte zurückdenken, die Albus Dumbledore anschließend über die Lippen gekommen waren. Sie hallten mit solcher Eindringlichkeit im Inneren des Gefangenen nach, dass es ihm fast so vorkam, als stünde Albus vor ihm und würde ihm einen jener forschenden, aufmerksamen Blicke zuwerfen, die einem das Gefühl gaben, bis auf den Grund seiner Seele durchleuchtet zu werden.
„Obwohl es mir wichtiger ist als ich sagen kann, dass du das verstehst, dass du wenigstens versuchst, meine Entscheidung diesbezüglich zu akzeptieren, so kann ich doch nicht mehr tun als dich darum zu bitten.“
Und dieses Mal lösten sich die Worte leicht und mühelos von den Lippen des Gefangenen.
„Ich verstehe es ... endlich ... und ich akzeptiere es.“
Und obwohl jene Worte in der kargen Zelle im höchsten Turm von Nurmengard im Nichts verwehten, ohne von irgendjemandem gehört zu werden, fühlte Gellert Grindelwald sich, als hätte er soeben einen langen und schwierigen Weg zurückgelegt.
Den richtigen Weg, zur Abwechslung mal ...
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Ein weiterer Schritt auf dem richtigen Weg - damit endet dieses Kapitel.
Ich hoffe wie immer, dass es glaubhaft war und euch gut gefallen hat.
Außerdem hoffe ich, dass ihr nicht allzu enttäuscht seid, dass ich über die Identität der alten Frau nichts Spektakuläres oder Weltbewegendes enthüllt habe. Aber da die Geschichte ja schon "Nebel über Nurmengard" heißt, habe ich mich entschieden, dass ich das eine oder andere auch bewusst unter dem Nebelschleier ruhen lassen möchte, sodass noch ein Hauch von etwas Mysteriösem und ein paar Geheimnisse bleiben ...
Bis zum nächsten Mal und alles Liebe,
eure halbblutprinzessin137
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