Stummes Seufzen der Seele
Sturmgraue Wolkenberge türmten sich über der kahlen Einöde am Himmel auf. Ein undurchdringlicher silberner Nebelschleier hatte sich auf die bedrohliche schwarze Festung gelegt und umfing auch den höchsten Turm von Nurmengard.
Ähnlich trist und trostlos sah es auch im Inneren des Gefangenen aus, der sich unter seiner schäbigen dünnen Decke auf der harten Holzpritsche schützend zu einer ganz kleinen Kugel zusammengerollt hatte. Sein ganzer Körper war übersät von älteren und frischen Blutergüssen, Flecken und Wunden aller Art. Seine Rippen schmerzten unbeschreiblich nach der letzten Misshandlung durch die Wächter, wenngleich diese schon einige Tage oder vielleicht sogar Wochen zurücklag. Wahrscheinlich waren die Rippen angebrochen. Das Gewand des Gefangenen war nunmehr so zerschlissen und blutgetränkt, dass es ihm kaum noch Schutz bot. So lag er die ganze Zeit zusammengekauert unter der dünnen Decke. Apathisch, kraftlos und gebrochen. Seit Tagen lag er nur noch reglos da und tat nichts weiter als mit geschlossenen Augen dem Heulen des Herbstwindes und dem Trommeln des Regens zu lauschen. Gellert Grindelwald hatte keine Kraft mehr zu kämpfen.
Der Gefangene regte sich auch dann nicht, als die eiserne Tür seiner Zelle einmal mehr quietschend aufschwang. Bewegungslos verharrte er unter seiner dünnen Wolldecke auf der harten Holzpritsche. Er öffnete nicht einmal die Augen. Selbst dazu fehlte es ihm an Kraft. Ein leichtes Zittern lief durch den ausgezehrten Körper, während nahende Schritte über den steinernen Boden hallten.
Dabei hatte der Gefangene doch gehofft, dass der Wächter ihm vielleicht ausnahmsweise nur das scheußliche Essen hinstellen und dann wieder gehen würde ... Aber nein, die Schritte bewegten sich unaufhaltsam auf seine hölzerne Pritsche zu! Er würde also wieder Folter und Schmerz aushalten und über sich ergehen lassen müssen. Ein neuerliches Zittern lief durch den kraftlosen Körper des Gefangenen.
Gellert Grindelwald zuckte unwillkürlich zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Doch wider Erwarten wurde er nicht brutal herumgerissen. Die Berührung war nicht grob, sondern sanft. Unheimlich sanft. Gellert Grindelwald war es als ob seine geschundene Seele aufgrund dieser unerwartet sanften Berührung stumm aufseufzte. Er flehte innerlich, dass die Hand weiterhin so sanft auf seiner Schulter ruhen, dass sie bleiben möge.
Und sie blieb.
Noch immer hatte Grindelwald die Augen geschlossen und war unter seiner Decke zusammengekauert. Doch er hörte, wie der Andere sich vorsichtig neben ihn auf die harte, ächzende Holzpritsche setzte, seine Hand noch immer auf der Schulter des Gefangenen. Dann begann der Besucher zu sprechen und endlich verstand Gellert. Diese Stimme erkannte er sofort wieder.
„Es ist lange her, dass ich zuletzt hier war, und obwohl ich damals sagte, ich würde dir meine Gesellschaft in Zukunft nicht mehr aufzwingen, schulde ich dir dennoch eine Entschuldigung, Gellert: Verzeih, dass ich dich so lange deinem Schicksal überlassen habe, ohne mich auch nur ein einziges Mal nach dir zu erkundigen. Ich dachte wirklich, es wäre besser so und einfacher für uns beide. Nun, offensichtlich habe ich mich da geirrt - es war nur für mich einfacher, nicht für dich. Das hat mir dieser kleine Brief, den Fawkes vor etwa fünf Jahren gebracht hat, deutlich gemacht. Du hast scheinbar stärker unter der Einsamkeit gelitten als ich geahnt hatte und es tut mir aufrichtig leid.“
Albus Dumbledore, dessen Stimme immer leiser geworden war, hielt inne und sah auf die zusammengekauerte Gestalt hinab. Gellert spürte den eindringlichen Blick dieser blauen Augen, doch er erwiderte ihn nicht. Nach wie vor hielt er die Augen fest geschlossen - nicht mehr aus Kraftlosigkeit allein, sondern auch aus Entschlossenheit heraus. Etwas in seinem Inneren hatte sich bei Albus' Worten schmerzhaft verkrampft. Er hatte den Brief also tatsächlich erhalten! Diese flehenden Worte, die den Gefangenen so viel Überwindung gekostet hatten ... Und trotzdem war er fünf ganze Jahre lang nicht gekommen! Fünf Jahre!
Schmerz und Wut mussten sich auf seinem verhärmten Antlitz abgezeichnet haben, denn Albus Dumbledore seufzte leise auf und sagte: „Ich sehe, du bist eher nicht geneigt, mir zu verzeihen, und ich muss ehrlich zugeben, ich kann es dir nicht verdenken, Gellert.“
Ungeheuer wehmütig setzte er hinzu: „Wir scheinen beide mit einem unwahrscheinlichen Talent gesegnet, uns stets genau dann im Stich zu lassen, wenn wir einander eigentlich gebraucht hätten. Und das sage ich nicht als Vorwurf an dich, sondern nur, um dich daran zu erinnern, dass es keineswegs leere Worte sind, wenn ich dir versichere, dass ich weiß, wie es sich anfühlt.“
Eine Weile schwiegen sie. Gellert schluckte mehrmals hart. Zu Wut und Enttäuschung gesellten sich nun Gewissensbisse. Er hatte Albus ebenfalls allein gelassen. Noch immer öffnete Gellert Grindelwald die Augen nicht. Dieses Mal hielt er sie geschlossen, weil er wusste, dass er nicht fähig sein würde, Albus Dumbledores Blick standzuhalten.
„Tatsächlich solltest du wenigstens wissen, warum ich dich weitere fünf Jahre nicht ein einziges Mal besucht habe, obwohl ich nun von deiner Einsamkeit und deinem Wunsch nach ein wenig Gesellschaft wusste.
Nun, ich fürchte, meine Zeit war noch nie so begrenzt wie in den letzten elf Jahren und meine neuen Pflichten als Schulleiter haben dazu noch das Geringste beigetragen. Ich weiß nicht, in wie weit du es mitbekommen hast, aber in der magischen Welt hat der bisher wohl schlimmste Krieg überhaupt geherrscht. Ein schwarzer Magier, der seinen Aufstieg zur Macht direkt unter meiner Nase begonnen hat und der sich selbst Lord Voldemort nennt, da sein richtiger Name ihm schon als kleiner Junge zu gewöhnlich erschien, hat dafür gekämpft, all diejenigen, die nicht reinen Blutes sind, zu unterwerfen und auszurotten. Noch nie zuvor hat es so viele und so grausame Morde an Muggeln und Muggelstämmigen gegeben. Natürlich hat das Ministerium samt seinen Auroren versucht einzuschreiten, jedoch ohne allzu großen Erfolg. Er hatte Spione im Ministerium, hat für Angst und Schrecken in der Bevölkerung gesorgt und immer mehr Anhänger auf seine Seite gezogen. Er hatte ungeheuerliche Kräfte, die sich die meisten kaum vorstellen können, und er hat sie skrupellos eingesetzt.
Ich konnte mich, wie du vielleicht schon erahnt hast, nicht einfach in meinem Büro in Hogwarts zurücklehnen und tatenlos zusehen. Ich gründete daher eine geheime Widerstandsbewegung gegen Voldemort, den Orden des Phönix. Aber Voldemorts Anhänger waren dem Orden rein zahlenmäßig weit überlegen, wir hatten mehr Verluste als Siege zu verzeichnen. Dieser Kampf hat mich zunehmend meiner Zeit und auch meiner Nerven beraubt und es war mit ein Grund, dich nicht besuchen zu können.
Und dennoch ... du magst fragen: ?War die Zeit tatsächlich zu knapp, um in elf Jahren ein einziges Mal ein paar Stunden abzuzweigen? War ich tatsächlich so unentbehrlich, dass der Orden keine paar Stunden auf mich verzichten konnte?'
Nun, die Antwort würde selbstverständlich ?Nein' lauten, Gellert, und das gebe ich auch offen zu.
Aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte nicht, Gellert. Jeden Tag sind unzählige Menschen für Voldemorts ehrgeizige Ziele und seine Vision einer besseren Welt in diesem Krieg gestorben - Ich konnte einfach nicht durch das Tor schreiten, über dem meine eigenen Worte eingemeißelt sind, unsere Vision von einst, für die auch so viele unschuldige Menschen ihr Leben gelassen haben. Jeden Tag im Kampf gegen Voldemort habe ich mir bittere Vorwürfe gemacht und daran gedacht, dass es diesen Krieg vielleicht gar nicht gegeben hätte, wenn ich nur früher erkannt hätte, was dieser Mensch ist - Ich konnte mich einfach keiner Begegnung mit dir stellen, bei dem ich einst mindestens genauso blind die Augen verschlossen hatte.
Es mag erbärmlich scheinen, aber dieser Krieg musste vorüber sein, ich musste selbst erst zur Ruhe kommen, ehe ich dich besuchen konnte. Und ich weiß, das klingt egoistisch. Vielleicht ist es das auch.
Aber all diese Jahre über habe ich doch an dich gedacht. Und ich komme später zurück, als du gedacht hast, aber ich komme zurück zu dir - nicht als ein berühmter Zauberer, nicht als Schulleiter von Hogwarts, nicht als Lehrer, nicht als irgendetwas, worauf ich mir etwas einbilde, sondern lediglich als ein alter Mann, den du einst Freund geheißen hast und dem es aufrichtig leid tut, dass er so lange gebraucht hat, hierher zu kommen.“
Als Albus Dumbledore geendet hatte, schwiegen sie beide eine ganze Weile lang. Gellert Grindelwald hatte, während der Andere gesprochen hatte, kaum zu atmen gewagt. Jetzt brannten heiße Tränen in seinen Augen. Doch er hielt sie noch immer geschlossen und zeigte auch sonst keine Regung. Albus' Stimme hatte wieder so unfassbar ruhig und fest geklungen, dass Gellert sich seiner Tränen schämte und sie unter geschlossenen Augenlidern vor seinem Gegenüber verbarg.
Als Dumbledore das Schweigen durchbrach und erneut zu sprechen ansetzte, strich er mit dem Daumen zart und tröstlich über Gellerts Schulter, auf der seine schmale Hand noch immer ruhte. Seine Stimme war noch sanfter als zuvor. Unheimlich sanft.
„Tatsächlich war ich auch in den berüchtigten dunklen Gegenden Europas zu Werke, als ich versucht habe, Voldemort die alleinige Kontrolle über Riesen, Werwölfe und andere dunkle Kreaturen zu entziehen. Von den Zauberern in diesen Gegenden sind mir einige Gerüchte zu Ohren gekommen, Gerüchte über dich, Gellert. Sie meinten, Grindelwald würde in seiner Zelle in Nurmengard Reue zeigen. Sie meinten, er würde um seine Opfer trauern, sich wünschen, seine Verbrechen rückgängig machen zu können, kurzum: wirklich bereuen.
Ich weiß natürlich nicht, ob dem auch wirklich so ist. Es ist so lange her, dass wir einander nahe waren, so lange, dass ich geglaubt hatte, dein Herz zu kennen.
Ich weiß es nicht und ich will auch nicht weiter in dich dringen, aber ich hoffe, dass es wahrhaftig so ist. Und das hoffe ich nicht vordergründig deshalb, weil ich dir den Schmerz und das Leid gönne, das mit dem Bereuen verbunden ist, Gellert, und ich wünschte, du könntest mir zumindest das glauben.
Nein, ich hoffe es für dich, weil ich dir wünsche, dass du noch auf den rechten Weg findest und dass du ganz am Ende zurückblicken und zumindest das in aller Gewissheit von dir selbst sagen kannst: dass du den rechten Weg noch gefunden hast, wenngleich es auch lange gedauert haben mag.“
Einzelne Tränen tropften unter den nach wie vor geschlossenen Lidern des Gefangenen hervor und rannen über seine eingefallenen Wangen. Zart, beinahe zärtlich, wurden die Tränen von seinem Gesicht gewischt und wieder war es Gellert Grindelwald als würde seine Seele angesichts dieser sanften Berührung aufseufzen und stumm um mehr betteln. So ausgehungert nach ein wenig Zuneigung und Mitgefühl war er.
Doch kaum ein paar Sekunden später lösten sich die sanften Finger von seinem Antlitz, nachdem sie noch ein letztes Mal tröstend über seine tränennasse Wange gestrichen hatten. Das leise Ächzen der harten Holzpritsche verriet dem Gefangenen, dass Albus sich erhoben und zum Gehen gewandt hatte.
„Dann sage ich für heute wohl Lebewohl, Gellert.“
Albus Dumbledore schien keine Antwort zu erwarten, denn die leise widerhallenden Schritte und das Rascheln der bodenlangen Robe sagten dem Gefangenen, dass er sich bereits anschickte, die Zelle zu verlassen und die eiserne Tür wieder hinter sich zu schließen.
Irgendetwas in Gellert Grindelwalds Innerem zog sich schmerzhaft zusammen. Eine Frage brannte ihm noch auf den Lippen. Eine dringende Frage, auf die er selbst keine Antwort wusste.
Wenn ihr wissen wollt, wie diese dringende Frage lautet, dann könnt ihr schon gespannt sein aufs nächste Kapitel (für das ich hoffentlich nicht so lange brauchen werde wie für dieses *schäm*)!
Derweilen hoffe ich sehr, dass euch dieses Kapitel gut gefallen hat - vor allem, da solche Szenen in Zukunft etwas häufiger als bisher vorkommen könnten - Albus sagte schließlich: „Dann sage ich für heute wohl Lebewohl“ ... ;)
Bis zum nächsten Mal und ganz herzliche Grüße
Von eurer halbblutprinzessin137
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