Vom Finden und Verlieren - Teil 7: „Briefe, Brüder und Blutmagie“
Doch es waren nicht nur die Gespräche, die so besonders und einzigartig waren. Herrschaft und Neuordnung der magischen Welt ließen sich nicht mit Gesprächen und Plänen allein verwirklichen. Vielmehr stießen sie gemeinsam auch praktisch in Grenzbereiche der Magie vor, experimentierten und genossen es, sich gegenseitig immer wieder aufs Neue herauszufordern und so zu Hochleistungen anzuspornen.
So auch in jenen Morgenstunden Ende August.
Die beiden Freunde waren so frühzeitig aufgebrochen, dass die Sonne es noch nicht ganz über den Horizont geschafft hatte, wenngleich die Dunkelheit der Nacht vor ihrer nahenden Ankunft bereits geflohen war. So erstreckte sich der Himmel klar und farblos über ihnen. Endlose helle Weiten über dem kleinen Tal in den sanften Hügeln am Rande des Dorfes, wo sich ein plätschernder Fluss durch die Landschaft schlängelte wie ein silbrig blaues, schmales Band.
Die beiden Jungen, die nebeneinander im Gras saßen, hatten ihre Schuhe und Socken ausgezogen und kühlten ihre Füße im klaren Wasser des Flusses, um sich ein wenig gegen die sengende Hitze des Tages zu wappnen. Ausgebreitet zwischen ihnen lagen mehrere Bögen Pergament. Ein Teil davon war in einer schwungvollen, energischen Handschrift mit großen Buchstaben und geraden schnörkellosen Linien beschrieben; der Rest hingegen war bedeckt von feinen und verschlungenen Lettern.
„Lieber Albus,
Heute habe ich sogar eine gute Entschuldigung dafür, dir mitten in der Nacht zu schreiben! Ich bin gerade beim Lesen auf ein weiteres dieser lächerlichen Argumente gestoßen, warum es die Heiligtümer angeblich gar nicht geben könne: Nämlich dass es absolut unmöglich sei, einen Umhang zu schaffen, der wahrhaftig unsichtbar macht und seinen Besitzer so dauerhaft und unaufspürbar verbirgt wie es der Umhang von Ignotus eben tut. Als Beispiele wurden die bekannten Tarnumhänge aufgeführt (mit Blendzauber belegt, aus dem Haar eines Demiguise gewoben, ... - aber das alles weißt du ja bereits; damit will ich dich also nicht langweilen!), die schließlich auch nicht wirklich unsichtbar machen. Der Autor dieser unsinnigen Abhandlung hat weiterhin darauf gepocht, dass dies die Grenzen magischer Fähigkeiten und Errungenschaften sind. Da der Umhang des dritten Bruders jenseits dieser Grenzen liege, könne es ihn nicht geben.
Ich denke, wir beide sind uns einig darin, dass es sich anders verhält und dass die Peverells so mächtige Zauberer waren, dass sie die Grenzen des Möglichen schlichtweg erweitert und es daher geschafft haben, diese unglaublichen Gegenstände herzustellen.
Und jetzt nähern wir uns dem Punkt, weswegen ich dir beim schwachen Licht meines Zauberstabs unter der Bettdecke schreibe, heimlich wie ein unartiges Kind...
Albus, wenn die Peverells es geschafft haben, die Grenzen der Magie zu erweitern und bekannte Zauber so machtvoll zu verstärken, dass unsere Zeitgenossen sich das Resultat gar nicht mehr vorzustellen vermögen (und damit nicht daran glauben) - Wieso nicht dasselbe versuchen?
Ich bin überzeugt, dass es uns gemeinsam ebenso gelingen würde! Und ich bin auch überzeugt, dass es gewiss unzählige Ansätze und Arten gibt, einen Zauber zu verstärken. Aber mir will im Moment einfach nichts davon in den Sinn kommen!
Vielleicht fällt dir etwas ein?
Soviel also zu dem Grund, warum ich dir unbedingt noch schreiben musste. Aber wenn ich jetzt sowieso schon dabei bin, kann ich dich auch gleich fragen, wie es -"
Doch Gellerts Frage musste für einen unbeteiligten Zuschauer ein Geheimnis bleiben, denn der Rest des Briefes wurde verdeckt von einem weiteren Bogen Pergament, auf dem nur ein einziges Wort geschrieben stand:
„Blutmagie“
Daneben lag noch ein dritter Brief, der offenbar die Antwort auf jenes eine hastig hingekritzelte Wort enthielt.
„Albus Dumbledore -
Du bist wirklich ein Phänomen für dich! Und zwar in jeder Hinsicht...
Erstens: Du bist tatsächlich ein kleines Genie! Der Einfall mit der Blutmagie ist schlicht und ergreifend brillant. Ich werde gleich noch ein wenig in diese Richtung nachforschen und mich nebenbei darüber ärgern, dass ich nicht selber darauf gekommen bin...
Zweitens: Vom Inhalt mal abgesehen - Was zum Teufel sollte das sein, was du mir da geschickt hast? Soll das tatsächlich als Brief durchgehen? Wenn ja, könntest du dann nächstes Mal vielleicht etwas mehr schreiben als nur ein einziges Wort? Wie wäre es beispielsweise mit einer Anrede und wenigstens einer Art Gruß am Schluss?
Dein fassungsloser (und amüsierter) Gellert“
Gerade deutete der ältere der beiden Jungen mit entschuldigender Miene auf jenen dritten Brief und meinte: „Tut mir wirklich leid, Gellert, ich weiß, das war ein unmöglicher Brief, wenn man es überhaupt als solchen bezeichnen kann... Aber Ariana hatte just in dem Moment, wo ich dir antworten wollte, wieder einen ihrer Alpträume und Angstzustände und da musste ich wohl oder übel nach ihr sehen. Sie hat jedes Mal wieder zu weinen angefangen, wenn ich ihr Gute Nacht sagen und wieder in mein Zimmer gehen wollte. Also musste ich die ganze Nacht bei ihr am Bett sitzen bleiben. Und da ich nicht mehr in mein Zimmer gekommen bin, dachte meine fleißige Eule wohl, der Brief sei schon fertig zum Mitnehmen...“
Gellert runzelte leicht die Stirn. „Ich dachte, dein Taugenichts von einem Bruder würde sich um Ariana kümmern, wenn er dir schon dauernd Vorhaltungen macht und alles besser weiß!“, empörte er sich.
Albus machte keinen Versuch, seinen kleinen Bruder zu verteidigen. Er zuckte nur die Achseln und erwiderte: „Der war im Stall bei seinen Ziegen, weil eine von ihnen scheinbar krank ist.“
Gellert verdrehte genervt die Augen und eine Weile vermieden es die beiden mit Bedacht einander anzusehen. Als ihre Blicke sich schließlich doch trafen, brachen sie, ohne es zu wollen, in ansteckendes Lachen aus.
„Du und deine durchgeknallte Familie“, murmelte Gellert mit einem leichten Kopfschütteln, nachdem sie sich wieder gefangen hatten, „ich glaube, mich würde das in den Wahnsinn treiben ... Wenden wir uns lieber dem zu, weswegen wir eigentlich hier sind!“, bestimmte der Blondschopf mit fester Stimme.
Und das taten sie dann auch. Bald lag ein mitgebrachter Wälzer über die Magie des Blutes aufgeschlagen zwischen ihnen im Gras und wurde fieberhaft durchgeblättert. Plötzlich fing Gellert erneut zu lachen an. Albus warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Tja, hier steht etwas über die verstärkende Macht von Blut für komplizierte Zauber, Tränke und Rituale. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du daran gedacht hast. Das ist so gar nicht dein Stil: Blut des Feindes, mit Gewalt genommen“, las Gellert glucksend vor und blickte seinen Freund herausfordernd an.
„Nein, daran dachte ich tatsächlich nicht. Mir schwebte da etwas anderes vor“, erwiderte Albus ernst und blätterte seinerseits ein paar Seiten weiter, „Na bitte, hier steht es: Blut, willentlich und von Herzen gegeben - daran dachte ich!“
Gellert Grindelwald konnte einen leichten Anflug von Skepsis nicht aus seiner Stimme verbannen, als er nachfragte: „Und du glaubst wirklich, dass das funktioniert?“
Albus sah ihn lange an, ehe er antwortete. Gellert fiel auf, dass plötzlich etwas sehr Verletzliches in seinem Blick lag.
„Ja, ich könnte es mir schon vorstellen. Du nicht? Kannst du nicht glauben, dass das etwas sehr Mächtiges ist - Blut, freiwillig von jemandem gegeben, dem du wirklich etwas bedeutest? Denn nichts anderes heißt diese Formel willentlich und von Herzen gegeben.“
Irgendetwas in Albus' Stimme und in seinem Blick hinderte Gellert daran, ihm zu widersprechen. So schlug er mit einem verschmitzten Lächeln und einem abenteuerlustigen Funkeln in seinen bernsteinfarbenen Augen vor: „Lass es uns doch einfach ausprobieren! Dann werden wir schon sehen...“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wirbelte Gellert Grindelwald seinen Zauberstab elegant durch die Luft und beschwor aus dem Nichts ein kleines silbernes Messer herauf, das glitzernd zwischen den beiden Jungen im Gras landete und ihrer beider Blicke geradezu magisch auf sich zu ziehen schien, während die eine alles entscheidende Frage in der Luft hing.
Wer von ihnen würde dem anderen sein Blut geben? Willentlich und von Herzen? Wer würde es tun?
Nach einer Weile hob Albus das silberne Messer aus dem Gras auf und reichte es Gellert. Dann streckte er ihm stumm seine Hand entgegen.
„Bist du sicher?“, erkundigte sich der Blondschopf leise und drehte das Messer unschlüssig zwischen seinen Fingern. Doch zu seiner Verblüffung lächelte Albus.
„Ganz sicher.“
Der Blick seiner leuchtend blauen Augen war fest und völlig ruhig und Gellert bemerkte wieder ganz deutlich jenes besondere Funkeln in den Augen des Anderen, jenes Gefühl, welches er nicht so recht zu deuten wusste, und er dachte, dass es in diesem Moment stärker war als jemals zuvor. Vertrauen und fast eine gewisse Hingabe, aber es war noch mehr als das. Es war mehr. Und Gellert vermochter es nicht in Worte zu fassen.
Aber er erwiderte den Blick aus seinen eigenen braunen Augen, während das Messer über die Fingerkuppe seines Freundes glitt und seinem Fleisch einen winzigen Schnitt zufügte.
Die Blutstropfen, die aus der kleinen Wunde quollen, leuchteten scharlachrot wie Rubine in der Glut der Sonne. Geschickt fing Gellert einen von ihnen mit der Spitze seines Zauberstabs auf und sah zu, wie das Blut in das helle Holz seines Zauberstabs sickerte.
Dann weiteten sich Gellerts Augen in freudiger Verblüffung und Albus, dessen Hand während des gesamten Rituals nicht ein einziges Mal gezuckt hatte als wollte er sie wegziehen, lächelte wissend.
Der Stab schien plötzlich förmlich zu pulsieren vor Magie und Energie und Gellert Grindelwald zweifelte nicht länger daran, dass es tatsächlich gelungen war. Mit gespannter Miene richtete er den so gestärkten Zauberstab auf den Fluss vor ihnen und flüsterte: „Incendio!“
Seine Augen blitzten triumphierend und überwältigt auf, als das tiefe Wasser tatsächlich entflammte und ein wahrer Feuersturm auf dem Fluss zu tosen und zu flackern begann. Mit einem glücklichen Lachen wandte Gellert Grindelwald sich wieder zu Albus Dumbledore um, das flackernde Feuer, das sein goldenes Haar erstrahlen ließ, im Rücken, und dieses Mal funkelten ihrer beider Augen in vollkommenem Einklang miteinander.
Doch Albus und Gellert waren nicht nur in Einklang miteinander, wenn sie sich unterhielten, sich gegenseitig Briefe schrieben und an ihren ehrgeizigen Plänen arbeiteten. Vielmehr kannten sie einander so gut, dass es oft gar keiner Worte zwischen ihnen bedurfte. Sie konnten auch gemeinsam schweigen und verstanden einander immer noch blind. Vielleicht waren es sogar jene Momente der geteilten Stille, die zeigten, wie tief ihre Freundschaft war, wie tief sie einander verbunden waren. Jene Abende, an denen sie zuvor schon geredet und geredet hatten bis sie heiser waren und schließlich nur noch einvernehmlich schwiegen, waren vielleicht die kostbarsten von allen.
Das Fenster von Albus' kleiner Dachstube stand offen, sodass der laue Abendwind jenes einzigartigen Sommers ins Zimmer wehen und ihre erhitzten Gesichter umschmeicheln konnte. Rücken an Rücken saßen sie so in dem kleinen Zimmer und keiner von ihnen brauchte Worte. Es war genug, dass sie einander fühlten. Genug, dass sie in dieser angenehmen Stille jeden einzelnen Atemzug des anderen hörten. Genug, dass sie jede noch so kleine Bewegung des anderen spürten.
In diesen einzigartigen Momenten hatte Gellert Grindelwald zum ersten Mal wirklich gelernt, was Nähe und Vertrautheit bedeutete.
~*~*~*~
Der Gefangene vergrub mit einem leisen Aufstöhnen das Gesicht in den Händen, als er daran dachte, was aus dieser Freundschaft geworden war: Nähe und Vertrautheit waren gewichen und hatten nichts als Distanz und Unverständnis zurückgelassen. Ihre gemeinsame Zeit hatte sich aufgelöst in bittere Einsamkeit. Statt Bewunderung waren es Vorwürfe und Verachtung, die in der Luft lagen und auf Gellerts Seele lasteten wie Blei. Die Freude über ihr Zusammensein hatte sich umgekehrt in Wut und Zorn, wie ihr letztes Zusammentreffen gezeigt hatte. Ihre Träume von damals waren zerplatzt wie Seifenblasen und geblieben war nichts. Nur Leere.
Nicht einmal jenes Funkeln in Albus Dumbledores Augen, welches Gellert stets so rätselhaft und gleichwohl faszinierend gefunden hatte, war bei ihrem letzten Zusammentreffen noch zu sehen gewesen. Vielleicht hatte Gellert Grindelwald es in seinem Zorn nicht bemerkt. Vielleicht, so dachte er, war es aber auch erloschen. Endgültig erloschen wie alles, was einst zwischen ihnen gewesen war...
Und mit diesen niederschmetternden Gedanken glitt der Gefangene hinüber in einen bleiernen Dämmerschlaf, als er der Erschöpfung endgültig erlag.
So, hiermit ist auch eines der bisher längsten Kapitel der ganzen Geschichte vorbei, ich hoffe, es hat euch gut gefallen!
Nächstes Mal wird Gellert in seiner Zelle ein paar Neuigkeiten von der Außenwelt zu hören bzw. zu sehen bekommen. Wenn ihr wissen wollt, was das für Neuigkeiten sind, wer sie ihm überbringt und wie er darauf reagiert, dann könnt ihr schon gespannt sein! (Ich werde fleißig daran arbeiten und rumbasteln!)
Bis dahin herzliche Grüße,
eure halbblutprinzessin137
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