Eine endgültige Entscheidung
Die Wochen und Monate verstrichen und machten auch vor der unbarmherzigen, ehernen Festung nicht Halt, die sich scharf gegen die Einöde ringsumher abhob, pechschwarz und bedrohlich. Die Uhr des Lebens tickte für den Gefangenen im höchsten Turm von Nurmengard unerbittlich immer weiter und flüsterte ihm leise zu, dass seine Tage gezählt waren. Gezählt und ebenso knapp bemessen, wie die kurzen, kostbaren Augenblicke jenes Sommers es gewesen waren.
Und doch erweckte es den trügerischen Anschein, als wäre die Zeit in der kargen Zelle im höchsten Turm von Nurmengard stehen geblieben. Einzig die schwächer werdenden Sonnenstrahlen, die durch den schmalen Schlitz im Mauerwerk in das trostlose Verließ fielen, sowie das feuerfarbene Herbstlaub, welches sich allmählich in Schnee und Eis verwandelte, erzählten davon, dass dem nicht so war.
Der alte, ausgezehrte Mann mit dem verfilzten, glanzlosen grauen Haar und seinen schmutzigen, zerlumpten Kleidern jedoch verharrte oft stunden- und tagelang so stumm und reglos auf seiner harten hölzernen Pritsche, als wäre er aus Stein gemeißelt. Denn wenn draußen vor dem fensterartigen Spalt im Mauerwerk auch Sonnen und Monde, Herbstlaub und Schnee, vorbeitrieben, so war er doch gefangen in einer Welt der Gedanken und der Erinnerungen, wo die Zeit still zu stehen schien.
Gellert Grindelwald wurde nicht müde, unablässig Erinnerungen an die wenigen kostbaren Augenblicke zu durchforsten, welche der Baum des Lebens für ihn und Albus Dumbledore bereit gehalten hatte. Erinnerungen, so bittersüß und schmerzlich schön wie der Lauf ihrer Freundschaft. Erinnerungen an etwas, das er verloren hatte, noch ehe er überhaupt die Gelegenheit gehabt hatte, es zu begreifen und schätzen zu lernen. Erinnerungen an gerötete Wangen, an scheinbar zufällige Berührungen, an rätselhaft funkelnde leuchtend blaue Augen und an die Worte, die nach all den Jahren, nach so vielen Irrungen und Wirrungen, endlich ihren Weg zu ihm gefunden und ihn direkt ins Herz getroffen hatten.
„Ich liebe dich, Gellert.“
Ganze Stunden und Tage, Wochen und Monate, brachte der Gefangene im höchsten Turm von Nurmengard damit zu, dem fernen Echo jener kostbaren Worte in der dröhnenden Stille des kargen Kerkerverließes nachzulauschen und in Erinnerungen an die kurzen, kostbaren Augenblicke zu schwelgen, die in ihrer beider Fingern zerronnen waren wie fließendes Wasser, zu flüchtig, um es mit bloßen Händen festzuhalten. Jene Erinnerungen an Blicke und Berührungen, jene flüchtigen Augenblicke, schlichen sich auch in die verworrenen Träume des Gefangenen, bestickten den schwarzen Samt der ewigen Nacht mit einsamen, auf den Kerkerboden tropfenden Tränen, mit rätselhaftem Funkeln von reinstem, strahlendem Blau und mit dem bittersüßen Duft einer welkenden, sterbenden Rose.
Doch waren es nicht nur Erinnerungen daran und Träume davon, was hätte sein können, die den Gefangenen umtrieben. Vielmehr waren es vor allem Fragen. Offene Fragen. Fragen, die wohl für immer unbeantwortet bleiben würden, da sie aus einer Ära stammten, welche auf ewig vorbei war. Niemand konnte sagen, was sie beide in jenem Sommer hätten haben können, da sie nun einmal nicht danach gegriffen hatten.
Nun war es zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Was blieb, war einzig die Erinnerung. Und die Fragen. Die vielen offenen Fragen. Sie ließen nicht vom geschundenen Geist des Gefangenen ab. Beharrlich suchten sie sowohl sein Herz als auch seinen Verstand heim und wollten partout nicht ruhen.
Was wäre gewesen, wenn Albus ihm schon damals in jenem Sommer seine Gefühle gestanden hätte? Wenn er ihm gesagt hätte, dass er ihn liebte? Wären sie dann bewusster miteinander umgegangen? Hätten ihre gemeinsame Zeit als das wertvolle Geschenk gesehen und angenommen, das sie eigentlich gewesen war?
Und wäre ihre Freundschaft dann auch zerbrochen an dem verhängnisvollen Tag, da Ariana Dumbledore gestorben war? Oder hätte sie dieses tobende Unwetter, dieses größte aller Opfer, dann vielleicht unbeschadet überstanden?
Hätte er es übers Herz gebracht an jenem verhängnisvollen Tag von Godric's Hollow fortzulaufen und Albus allein neben dem Leichnam seiner Schwester zurückzulassen? Hätte er es übers Herz gebracht, diesen endgültigen Schritt zu tun, in dem Wissen, jemandem den Rücken zu kehren, der ihm mehr als nur ein Freund sein wollte? Der mehr für ihn empfunden hatte als Freundschaft allein, mehr vielleicht als für irgendjemanden sonst? Hätte er es übers Herz gebracht, dem einzigen Menschen, der ihn je geliebt hatte, wirklich und wahrhaftig geliebt, den Rücken zu kehren?
Und was, wenn - Was wäre gewesen, wenn er an jenem Sommernachmittag nur ein klein wenig früher aufgewacht wäre? Wenn er die Augen aufgeschlagen und rechtzeitig genug in Albus` Gesicht aufgeblickt hätte, um jene Worte von Angesicht zu Angesicht zu hören? Jene alles verändernden Worte?
„Ich liebe dich, Gellert.“
Wie hätte sich dieser ganz besondere Moment angefühlt? Wie?
Der Gefangene im höchsten Turm von Nurmengard wusste es nicht und er würde es auch nie erfahren. Denn jeder Augenblick im Leben ist einzigartig und keine Macht der Welt kann einen vergangenen Augenblick wieder zurückbringen, kann einen Augenblick, der niemals war, Wirklichkeit werden lassen. Und jener Augenblick war vorbei. Verloren. Endgültig und unwiederbringlich verloren.
Und doch starrte Gellert Grindelwald beharrlich und konzentriert in die drückende Düsternis des kargen Verließes, als könnte er dort, am Ende eines langen Tunnels, doch jenen verlorenen, nie da gewesenen Augenblick sehen, als könnte er mit purer Willenskraft allein die Vergangenheit ändern, sie nach seinem Willen formen, wie er einst vor langer Zeit die Gegenwart geformt hatte, bis er ausgerechnet in dem Einen, der ihn liebte, seinen Meister gefunden hatte.
Verzweifelt und ratlos schüttelte der Gefangene den Kopf, der von all diesen quälenden Gedanken und nie gekannten Empfindungen zu schmerzen begann. Die Fragen und die bohrenden Zweifel, welche an ihm nagten, ließen sich davon jedoch nicht verscheuchen. Eine weitere Frage trat klar und deutlich aus dem trüben Dickicht seiner Gedanken und Gefühle hervor, leuchtete hell und unübersehbar auf den sumpfigen Wassern der Ungewissheit und Zweifel.
Nach allem, was passiert war, nach all dem Schmerz und Leid, nach all den langen, ungezählten Momenten des Grolls und der Bitterkeit, nach all den Schmerzen der Schlacht, nach der Demütigung und Erniedrigung der erlittenen Niederlage, nach den Flammen zerstörerischen Zorns, nach jahrelanger Einsamkeit und Isolation, nach allem, was sie einander schon angetan hatten, nach allem, was Albus ihm angetan und zugemutet hatte, obwohl er ihn doch angeblich geliebt hatte -
Konnte er diese Liebe nach all dem überhaupt erwidern? Wollte er sie nach all dem überhaupt erwidern? Und … hätte er sie denn damals überhaupt erwidert?
Liebte er Albus Dumbledore?
Ratlos starrte Gellert Grindelwald in die blendende Schwärze seiner kargen Zelle, hinaus in den silbrig grauen Nebel über Nurmengard, suchte die Antwort auf jene alles entscheidende Frage dort statt in seinem eigenen Herzen, da sein Herz noch nie so etwas wie Liebe erfahren hatte und daher nicht wusste, wie es mit dieser völlig neuen Empfindung umzugehen hatte.
Doch die Frage ließ den zerlumpten, ausgezehrten Gefangenen im höchsten Turm von Nurmengard nicht los. Beharrlich suchte sie des Tags seine Gedanken und des Nachts seine Träume heim, beherrschte sein ganzes Fühlen und Denken, bahnte sich ganz von selbst den Weg in sein Herz und ließ sich nicht mehr von dort verbannen.
Und mit jedem Tag, an dem Tränen auf die alte, verblasste Fotographie tropften, mit jedem Tag, an dem er sich dabei ertappte, wie er wehmütig und sehnsüchtig gleichermaßen auf die schwere Eisentür starrte, die beharrlich verschlossen blieb, mit jedem Tag, an dem die schmerzliche Klage des weinenden Feuervogels in seinem eigenen trauernden Herzen widerhallte, mit jedem Tag, an dem er mit bebenden Fingern und mit Tränen in den Augen über die alten Briefe strich, mit jedem dieser Tage kam er der Antwort ein kleines Stückchen näher.
Und als draußen der Schnee zu schmelzen begann und die ersten kraftlosen Sonnenstrahlen wieder ihren Weg in die karge Zelle im höchsten Turm von Nurmengard fanden, da glaubte der Gefangene, die Antwort endlich gefunden zu haben.
Die Antwort, dass man ein Gefühl durchaus auch dann empfinden konnte, wenn man es weder zu deuten noch zu benennen wusste. Die Antwort, dass er jene Liebe irgendwo in seinem tiefsten Inneren vermutlich schon seit sehr langer Zeit erwiderte.
Vielleicht seit dem Tag, da er zum ersten Mal in diese leuchtend blauen Augen geblickt und darin das Spiegelbild seiner eigenen Träume entdeckt hatte. Vielleicht seit dem Tag, da sie beide einvernehmlich schweigend Rücken an Rücken in Albus` kleiner Dachstube gesessen hatten und er zum ersten Mal wirklich gelernt hatte, was Nähe und Vertrautheit bedeutete. Vielleicht seit dem Tag, da sie Hand in Hand im Mondschein vor dem Grab des Ignotus Peverell gestanden und eins gewesen waren in ihrer Faszination und ihren geteilten Träumen. Vielleicht seit dem Tag, da er vergebens unter dem smaragdgrünen Marmor des idyllischen Blätterdaches auf die Rückkehr des Anderen gehofft und gewartet hatte. Vielleicht seit dem Tag, da er an der kalten Einsamkeit des ehernen Verließes beinahe zerbrochen war und jene verzweifelten, flehenden Worte auf die Reise geschickt hatte:
„Albus -
Besuchst du mich? Furchtbar einsam.
Gellert“
Vielleicht seit dem Tag, da sich nach Jahren der Einsamkeit und der Isolation plötzlich eine sanfte Hand auf seine Schulter gelegt und seine Seele vor Freude stumm aufgeseufzt hatte. Vielleicht aber auch erst seit dem Tag, da er endlich die Worte gehört hatte, nach denen er sich schon als kleines Kind so verzweifelt gesehnt hatte.
„Ich liebe dich, Gellert.“
Diese teuren, lang ersehnten Worte brannten tröstend in Gellert Grindelwalds Innerem und gaben ihm auch dann noch Mut und Kraft, als sich allmählich kleine, aber dafür umso bedrohlichere Änderungen in die Träume und Wachträume des Gefangenen schlichen.
Ein schwarzer Schatten, der in stiller Euphorie und Entschlossenheit auf die düstere Festung zuglitt … so nah … ein schwarzer Schatten, beherrscht von jenem kalten Gefühl der Entschlossenheit, das dem Morden vorausging … so nah … ein bedrohlicher schwarzer Schatten … er glitt um die hohen Mauern der schwarzen Festung herum … Nacht für Nacht zog er engere Kreise um das düstere Gemäuer …
Und der Gefangene im höchsten Turm von Nurmengard glaubte zu verstehen, was all dies zu bedeuten hatte.
Ächzend richtete sich der abgemagerte, kraftlose Mann auf der harten hölzernen Pritsche mühsam auf. Zitternd und fahrig tasteten seine knochigen Hände nach Albus Dumbledores letztem Brief und entfalteten das Pergament. Langsam und träge huschten seine matten, eingesunkenen Augen über die schrägen und verschlungenen Lettern, bis sie endlich den einen Absatz fanden, welchen sie gesucht hatten.
„Du hast das Recht zu erfahren, dass die düstere Zukunft, die sich seit nunmehr zwei Jahren abzeichnet, auch von dir ihren Tribut fordern könnte: Voldemort wird früher oder später auf die Fährte des Elderstabs gelangen und früher oder später wird sie ihn wohl geradewegs zu dir führen. Es schmerzt mich, dir dies so brüsk und unbeschönigt zu schreiben, doch du solltest es wissen, solltest dich innerlich auf diese Konfrontation einstellen können, solltest genügend Zeit haben, um dir zu überlegen, wie du ihm begegnen willst und wirst.“
Und dann verzogen sich die dünnen, ausgemergelten Lippen des Gefangenen zu einem bitteren Lächeln voll grimmiger Entschlossenheit. Es gab nichts zu überlegen.
Eine tiefe Ruhe hatte von Gellert Grindelwald Besitz ergriffen, als er eine endgültige Entscheidung traf: Er würde alles tun, was an diesem Punkt noch in seiner Macht stand, um dafür zu sorgen, dass Voldemort nicht in den Besitz des Heiligtums kommen würde. Er würde lügen, so tun, als hätte er den Elderstab nie besessen, würde versuchen, Voldemort von der Fährte des Stabs abzubringen. Von der Fährte, die andernfalls geradewegs zur letzten Ruhestätte seines einzigen Freundes führen würde...
Dieser Gedanke trieb dem Gefangenen für einen Moment erneut heiße Tränen in die Augen, doch zugleich bestärkte er ihn auch in seinem Entschluss.
Gellert Grindelwald würde sich nicht beugen, was auch immer Voldemort ihm antun würde. Er würde tapfer sein und durchhalten. Er würde zur Abwechslung einmal das Richtige tun. Für Albus. Er würde sich ausnahmsweise endlich einmal genau so verhalten, dass, wäre ihnen jemals ein Wiedersehen von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz, vergönnt, er Albus ohne Scham in die Augen blicken könnte. Koste es, was es wolle.
Und mit dieser endgültigen Entscheidung rollte sich der Gefangene unter seiner warmen Wolldecke zusammen und glitt in einen unruhigen Dämmerschlaf hinüber.
Tja, ich fürchte, mit dieser endgültigen Entscheidung, muss ich nicht mehr viel über den Inhalt des nächsten Kapitels sagen… -.-
Im Moment hoffe ich aber erst einmal, dass dieses Kapitel nach eurem Geschmack war und dass ihr die beiden Antworten bzw. Entscheidungen, zu denen Gellert gekommen ist, nachvollziehbar und passend dargestellt fandet. Ich freue mich schon sehr auf eure Meinungen dazu!
Bis zum nächsten (unvermeidlich traurigen) Kapitel wünsche ich euch alles Liebe und Gute.
Eure halbblutprinzessin137
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