Das Geheimnis des rätselhaften Gefühls
Gedankenverloren starrte Gellert Grindelwald auf die eiserne Kerkertür, welche sich soeben mit einem kalten Zuschnappen hinter dem Zaubereiminister geschlossen hatte. Die eiserne Kerkertür, welche nie wieder aufschwingen und den einen Besucher offenbaren würde, nach dessen Freundschaft und Gesellschaft sich der Gefangene in der kalten Einsamkeit des ehernen Verließes so verzweifelt sehnte, dass es fast körperlich schmerzte, und die ihm doch für immer verwehrt bleiben würden.
Ewige Nacht. Undurchdringliche Finsternis der Einsamkeit und des Todes. Bis zu dem Tag, der ihn wieder zurück ans andere Ufer bringen würde. Zurück ans andere Ufer des dunklen Ozeans der Zeit. Zurück ans andere Ufer des Sonnenuntergangs. Zurück ans andere Ufer der ewigen Nacht. Zurück zu dem Einzigen, den er je Freund geheißen hatte. Zurück zu dem Einzigen, der bis auf den Grund von Gellerts Seele geblickt und ihn nie gänzlich aufgegeben hatte. Zurück zu Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore.
Der Gefangene spürte, wie erneut heiße, bittere Tränen in ihm aufstiegen. Unsichtbare Lichttropfen auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht. Unsichtbare Blinkzeichen der Freundschaft und der ehrlichen aufrichtigen Trauer. Unsichtbare Spuren des Verlustes und der Verzweiflung. Doch Grindelwald schluckte die aufsteigenden Tränen tapfer hinunter und wandte sich stattdessen dem Buch zu, das Albus ihm hinterlassen hatte - „in der Hoffnung, er möge darin Antworten finden, welche ihm bislang verwehrt geblieben sind“.
Mit zitternden Fingern strich der Gefangene wehmütig über den glänzenden, rot-goldenen Einband des Buches und musste unwillkürlich wieder an das schicksalhafte Erscheinen des weinenden, wehklagenden Phönix denken, an die Tränen, die unaufhörlich aus seinen treuen schwarzen Perlaugen getropft, das prächtige rot-golden gefiederte Haupt hinabgeronnen waren und die kleine Zelle mit Kummer und Leid erfüllt hatten, sie mit einer schrecklich schmerzlichen Gewissheit erfüllt und die Welt des Gefangenen im höchsten Turm von Nurmengard in undurchdringliche Finsternis der Einsamkeit und des Todes gehüllt hatten. Ewige Nacht.
Die schmerzliche Klage des weinenden Feuervogels schien erneut von den steinernen Kerkerwänden widerzuhallen und erneut zog sich das Herz des Gefangenen schmerzhaft zusammen, schmerzhafter denn je.
Eine kleine Ewigkeit verharrte der zerlumpte Gefangene so und kämpfte verzweifelt mit den Tränen. Kämpfte verzweifelt mit dem alles verschlingenden Schmerz der tödlich anmutenden Wunde, die der Verlust Albus Dumbledores in sein Herz gerissen hatte, bevor er sich schließlich mit letzter Kraft von dem betäubenden Kummer losriss und mit bebenden Händen das geheimnisvolle Buch aufschlug, welches offenbar die Antwort auf seine drängende Frage von einst enthielt.
Als der Gefangene die liebevoll gestalteten, mit Sprüchen und Lebensweisheiten gefüllten Buchseiten eine um die andere durch seine bebenden Finger gleiten ließ und dabei noch immer seinen schmerzlichen Gedanken nachhing, hielt er plötzlich bei einer Seite inne, die sich irgendwie anders als die übrigen anfühlte. Schwerer. Bedeutungsschwerer.
Ob dies nun seiner Einbildung oder einem geschickt gewirkten Zauber zuzuschreiben, ob es Zufall oder doch eher Schicksal war, vermochte er nicht zu sagen. Er wusste nur, dass eine seltsame Art von Magie von dieser mit den Worten „Die Kraft der Liebe“ überschriebenen Buchseite ausging. Eine äußerst subtile, schwer zu fassende Art von Magie, die er weder zu deuten noch zu benennen wusste, ähnlich jenem rätselhaften Funkeln in Albus Dumbledores Augen, dem Gegenstand seiner drängenden Frage von einst.
Und mit diesem Gedanken begann Gellert Grindelwald zu lesen.
Das Glück einer Rosenblüte
Gib Acht auf die Rose,
die Dir in die Hände gelegt wurde.
Zerpflücke das Schöne nicht.
Blütenblätter aus reinem Samt
bewachen die Liebe.
Mache Dich ihr vertraut.
Warte, dass sich die Rose Dir öffnet,
und staune über das Glück,
wenn sie ihr duftendes Herz
scheu und sanft für Dich verströmt.
Die Liebe ist ein Stoff,
den die Natur gewebt
und die Phantasie bestickt hat.
Sie ist das einzige, das wächst,
wenn wir es verschwenden.
Ein Tropfen Liebe ist mehr
Als ein Ozean an Wille und Verstand.
Geliebt zu werden macht uns stark.
Zu lieben macht uns mutig.
Zu zweit die Welt vergessen,
um zu zweit an ihr zu bauen,
das ist die Dynamik der Liebe.
Vertrauen ist eine Oase des Herzens,
die von der Karawane des Denkens
nie erreicht wird.
Jemanden lieben heißt, als Einziger
ein für die anderen unsichtbares
Wunder zu sehen.
Die Fantasie des Herzens
ist eine Kraft,
die den anderen höher einschätzt,
als der Augenschein erlaubt,
eine Kraft,
die das Beste in ihm ans Licht reißt.
Denn das Herz begreift,
was das Auge nicht sieht
und das Ohr nicht hört,
besonders wenn es in einem zweiten Herzen
das Spiegelbild seiner Freuden findet.
Liebe gibt nichts als sich selbst
und nimmt nichts als von sich selbst.
Liebe besitzt nicht,
noch lässt sie sich besitzen.
Denn die Liebe genügt der Liebe.
Und glaube nicht,
Du kannst den Lauf der Liebe lenken.
Denn die Liebe,
wenn sie Dich für würdig hält,
lenkt Deinen Lauf.
Liebe hat keinen anderen Wunsch
als sich zu erfüllen.
Auch ruhet die Liebe nicht.
Sie kann in ihren Wirkungen
und in ihrem Wohltun
gestöret und gehindert werden,
aber sie hört nicht auf zu lieben,
so wie die Sonne nicht aufhört zu scheinen.
Stumm starrte Gellert Grindelwald in die undurchdringliche Schwärze seiner kargen Zelle im höchsten Turm von Nurmengard, ohne sie wirklich zu sehen. Tränen brannten in seinen Augen. Das also war die Antwort. Das also war der Name jenes rätselhaften Funkelns, der Name jenes geheimnisvollen Gefühls.
Liebe.
Albus Dumbledore hatte ihn geliebt. Und er hatte es nicht bemerkt. All die Jahre über. All die einzelnen Puzzleteile, die sich nun plötzlich zu einem schlüssigen Bild zusammensetzten, welches den Gefangenen mitten ins Herz traf.
Das schüchterne Erröten … die bewundernden Blicke aus unentschlüsselbar funkelnden leuchtend blauen Augen … die lieblich duftenden Rosen unter dem idyllischen Blätterbaldachin aus smaragdgrünem Marmor … die scheinbar zufälligen Berührungen bei jeder sich bietenden Gelegenheit … zart, beinahe zärtlich … die Zuneigung und der unerschütterliche Beistand … über all die Jahre hinweg … über ein Trümmerfeld zerbrochener Träume hinweg, voller Tränen und Schmerz … aus Liebe … Einer hatte ihn geliebt.
Und er hatte es nicht bemerkt. Hatte die deutliche Sprache jener Blicke und Gesten und Worte nicht verstanden. Wie hatte er nur so blind sein können?
Gewiss, dachte der Gefangene seufzend, er war zuvor nie geliebt worden, hatte nie erfahren, was es bedeutete, wie es sich anfühlte, ehrlich und aufrichtig von einem anderen Menschen geliebt zu werden. Hatte in jenem Sommer schon das bis dahin unbekannte Terrain geteilter Träume und Freuden, das Neuland von Freundschaft, von Nähe und Vertrautheit, entdeckt und darüber das zarte, aufkeimende Pflänzchen der Liebe gar nicht bemerkt.
Und doch … Gellert Grindelwald begriff und begriff doch nicht ganz … Wenn dies also tatsächlich die Antwort auf seine drängende Frage war, warum hatte Albus es ihm dann nie gesagt? … Ausgerechnet Er, der doch in späteren Jahren gerade über dieses eine Thema so erschöpfend oft gesprochen hatte … Er, der stets die Kraft der Liebe als mächtigste Form der Magie gepredigt und gepriesen hatte … Wieso nur hatte er ihm nie seine Liebe gestanden?
Heiße Tränen stachen in die eingesunkenen, bernsteinfarbenen Augen des zerlumpten Gefangenen und machten ihn für alles um ihn her blind. Ein seltsames, nie gekanntes Gefühl verzweifelter Sehnsucht und sehnsuchtsvoller Verzweiflung erfüllte jede Faser seines Seins.
Nie hatte er von einem anderen Menschen gehört, dass er geliebt wurde, wirklich und wahrhaftig geliebt, nie. Er hätte alles dafür gegeben, wenn er diese alles verändernden Worte von Angesicht zu Angesicht von Albus gehört hätte. Wenn Albus Dumbledore Gellert Grindelwald tatsächlich gesagt hätte, dass er ihn liebte.
Nun war es zu spät. Nun würde er es ihm nie mehr sagen können.
Krampfhaft und verzweifelt schlossen sich die zitternden Finger des Gefangenen um die silberne Nachbildung des Zeitumkehrers, um jene vergängliche Erinnerung an ihrer beider gemeinsame Zeit, an die Erfahrung für die Ewigkeit, die Albus Dumbledore und Gellert Grindelwald auch über den schmalen Fluss zwischen Leben und Tod hinweg miteinander verband und dem schmerzlichen Lauf der Zeit beharrlich getrotzt hatte. Eine Blume mit dem Namen „Trotzdem“. Eine Rose. Eine Rose, die nie hatte aufblühen dürfen. Eine Rose, die ihm in die Hände gelegt worden war, und er hatte sie achtlos zu Boden fallen lassen, ohne ihren Wert und ihre Schönheit zu erkennen oder auch nur zu erahnen.
Ein verzweifeltes Schluchzen zerriss die bleierne Stille in der kargen Zelle im höchsten Turm von Nurmengard. Heiße, bittere Tränen quollen aus den geröteten, eingesunkenen Augen des Gefangenen und rannen über sein ausgezehrtes Antlitz, bevor sie stumm und einsam auf den schmutzigen Kerkerboden tropften.
Heiße, bittere Tränen. Die einzigen kleinen Lichttropfen auf dem schwarzen Samt der ewigen Nacht. Sternengleiche Blinkzeichen der Liebe und der ehrlichen, aufrichtigen Trauer. Spuren des Verlustes und der Verzweiflung.
Einzelne der heißen, bitteren Tränen, die über die eingefallenen Wangen des Gefangenen rannen, benetzten auch die kühle, silbern schimmernde Symphonie aus Glas und Metall, die noch immer in den zitternden, abgemagerten Händen des Gefangenen lag. Benetzten auch jene Nachbildung des Zeitumkehrers. Und plötzlich …
… geschah es.
Die kleine gläserne Miniatursanduhr im Zentrum der filigranen silbernen Ringe, die überhaupt keinen Sand enthielt, schmolz unter den heißen, bitteren Tränen des Gefangenen einfach weg und gab die Erinnerung, die sie beherbergt hatte, frei wie von Zauberhand. Die seltsame, silbrig weiße Substanz, weder Gas noch Flüssigkeit, hatte kaum die bloße Haut des Gefangenen berührt, als dessen wahre Umgebung vor seinen Augen zu verschwimmen begann, und dann …
… dann war er für einen kurzen, ungeheuer kostbaren Augenblick, darin Zeit und Ewigkeit einander berührten, Realität und Illusion, Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmolzen, wieder zurück in jenem unvergleichlichen Sommer in Godric's Hollow, zurück auf einem im Gras ausgebreiteten violetten Umhang, zurück in dem dämmerigen Zustand zwischen Schlaf und Erwachen, und endlich, endlich, durfte er die leisen, sanften Worte, die Albus Dumbledore zu ihm sprach, doch noch hören.
„Ich liebe dich, Gellert.“
~ <3 ~ <3 ~ <3 ~
Das war es also - das Kapitel, in dem Gellert endlich seine Antwort auf die Frage nach dem „geheimnisvollen“ Gefühl erhält (auch wenn es für uns alle natürlich nie besonders „geheimnisvoll“ war ^^).
Ich hoffe natürlich sehr, dass es euch gefallen hat, dass es halbwegs glaubhaft und nicht allzu konstruiert gewirkt hat und euch ein klein wenig berührt hat.
Im nächsten Kapitel muss Gellert in Ruhe darüber nachdenken, wie er denn seinerseits überhaupt zu dieser Liebe steht, und muss für die nahe Zukunft eine Entscheidung treffen …
Ich hoffe, dass ihr noch mitkommt bis zum Schluss, der natürlich immer näher rückt, und würde mich natürlich sehr freuen, wenn sich neben meinen ein, zwei treuen Seelen, denen mein aufrichtiger Dank für ihre Treue gilt, auch mal wieder ein paar andere Leser zu Wort melden würden. ;)
Liebe Grüße,
eure halbblutprinzessin137
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