von MIR
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Im Sommer wurden Harry und Dudley neun. Zu Beginn der fünften Klasse gab es wieder einen Klassenlehrerwechsel. Ansonsten änderte sich nicht viel in Harrys Leben.
Marge kam auch weiterhin nicht zu den Dursleys. Erst als noch ein weiteres Jahr vergangen war und Dudleys zehnter Geburtstag anstand, ließ sie sich wieder blicken.
„Bei so einem wichtigen Datum muss ich doch dabei sein!“
Sie brachte einen neuen Lieblingshund namens Ripper mit. Brutus und Nero waren beide inzwischen gestorben.
Die Sonne brannte heiß vom Himmel, daher beschlossen die Dursleys, den Nachmittagstee in den Garten zu verlegen. Wegen des seltenen Besuches von Marge war der Ausflug zum Freizeitpark auf das nächste Wochenende verlegt worden.
Tante Petunia hatte einen riesigen Sonnenschirm aufgestellt, damit Marge nicht allzu sehr von der Sonne belästigt wurde, und Vernon hatte den Garten mit elektrischen Insektenvernichtern verkabelt.
Dennoch schien eine unbeeindruckte Wespe es auf die Besucherin abgesehen zu haben. Sie schwirrte unablässig um ihren Kopf und als Marge begann, Schläge in der Luft zu verteilen, stach das Insekt zu.
Vernon und Petunia taten ihr Möglichstes, um die Verletzte zu umsorgen und zu trösten, selbst Dudley benahm sich wie ein Kavalier.
Doch nichts konnte die Angegriffene beruhigen, erst ein kleiner Zwischenfall besserte ihre Laune.
Ripper war wegen der Hitze im Haus geblieben und als Harry, der die Dursleys bediente, neue Milch holen sollte, passierte es:
Er trat Ripper versehentlich auf die Pfote. Die Bulldoge jaulte auf, dann begann sie gefährlich zu knurren und fletschte die Zähne. Sie begann, nach Harry zu schnappen. Harry merkte sofort, dass es ernst war. Obwohl er sonst keine große Angst vor Hunden hatte, mit Tante Marges Bulldogen hatte er schon früher schlechte Erfahrungen gemacht.
Wütend sprang Ripper jetzt auf Harry zu. Er warf Harry um und versuchte zuzubeißen. Doch irgendwie schaffte Harry es, sich wieder aufzurappeln und das Tier abzuwehren. Er rannte voller Panik aus dem Haus, Ripper folgte ihm mit bedrohlichem Knurren. Berichte über Hunde, die Kinder zu Tode gebissen hatten, tauchten schemenhaft in Harrys Kopf auf, fachten seine Angst weiter an und beflügelten seine Beine.
Endlich hatte er die Dursleys erreicht, doch hier war keine Hilfe zu erwarten.
„Was hast du schon wieder angestellt?!“
„Wo bleibt die Milch?!“
„Was hast du mit Rippie-Pippie-Schätzchen gemacht?!“
Ärgerlich schallten ihm diese Sätze entgegen und Harry begriff, dass seine einzige Rettung darin bestand, auf den Baum zu klettern.
So schnell hatte er die Zierkirsche noch nie erklommen, er wusste kaum, wie er hoch gekommen war, doch hier war er endlich sicher. Ripper konnte ihm nicht folgen und strich nun aggressiv um den Stamm herum. Mehrmals krallte er sich mit seinen Pfoten in die Rinde, doch er konnte seinem Opfer nicht folgen, was ihn immer wieder zornig aufheulen ließ.
Marge vergaß ihre Verletzung nun ganz und reagierte zunächst ärgerlich: „Mein armes Rippieleinchen, was hat der böse Junge dir nur angetan?!“
„Ich hab gar nichts gemacht“, schrie Harry verzweifelt vom Baum herunter, „Es war nur ein Versehen, ehrlich, Tante Marge! Bitte hol ihn da weg!“
Doch da hatte Harry die Falsche um Hilfe gebeten. Eigentlich hätte er es wissen müssen.
„Ein Versehen?!“, wiederholte sie langsam, „Was genau war ein Versehen?!“
„Ich … ich muss irgendwie …, also er ist mir in den Weg gelaufen und da bin ich … an seine Pfote gekommen.“
„An seine Pfote gekommen? Du meinst, du hast ihn getreten? Du bist mit deinem gesamten Gewicht auf sein zartes Füßchen getrampelt?!“ Jetzt fing Marge an, sich richtig aufzuregen: „Und da glaubst du, ich würde ihn hier wegholen? Er hat ja wohl recht, wenn er sich ein bisschen wehren will!“
Sie begann, Harry derart anzukeifen, dass man fast keinen Unterschied mehr zwischen ihr und Ripper erkennen konnte.
„Ich find‘s lustig, wie der Affe da oben hockt“, sagte Dudley und begann zu kichern. Marge warf ihm einen bösen Blick zu, doch Vernon versuchte sie zu beschwichtigen: „Nimm‘s dir doch nicht so zu Herzen. Schau dir doch mal Ripper an: Ich glaube seine Pfote schmerzt gar nicht mehr. Es macht ihm eher Spaß, Harry ein bisschen zu jagen.“
Er schmunzelte und nahm seine Schwester in den Arm.
„Eigentlich kenne ich mich ja besser mit Hunden aus als du, aber ich glaube, diesmal hast du recht“, lenkte sie schließlich ein und endlich besserte sich ihre Laune, ja sie stimmte sogar in das Gelächter der Dursleys ein, als Harry das Gleichgewicht verlor, ein Stück hinunterfiel und Ripper ein Hosenbein erwischte.
Zum Glück konnte Harry sich gerade noch halten, Ripper abschütteln und wieder hochklettern, aber der Spott aller vier Dursleys brannte ihm nun in den Ohren.
Nach der Teerunde zogen sich die Dursleys zum Fernsehen ins Haus zurück und Harry erwartete, dass Ripper ihnen folgen würde. Doch niemand kümmerte sich darum. Die Bulldoge schlich unermüdlich um den Baum herum und schien nichts von ihrer Wut verloren zu haben.
Vor dem Abendessen erschien Marge kurz im Garten: „Rippie willst du jetzt Fresschen haben oder weiter hier draußen spielen?“
Ripper kläffte wütend.
„Ich seh‘ schon, ich muss dir dein Fressi-Fressi ausnahmsweise nach draußen bringen“, erwiderte Marge und tat es dann auch.
Harry konnte die Dursleys beim Abendessen beobachten und fragte sich, wie lange er wohl noch hier draußen bleiben musste. So langsam wurde es ungemütlich.
Früher hatte er sich immer gewünscht, auf diesem Baum ein Baumhaus zu bauen, aber Onkel Vernon hatte derartige Verschandelungen nicht zugelassen und Dudley hatte an solchen anstrengenden Tätigkeiten kein Interesse.
Jetzt hatte Harry nur noch den Wunsch, den Baum nicht mehr aus der Nähe sehen zu müssen. Jede Haltung, die er einnahm, schmerzte irgendwie. Doch sobald er versuchte, hinabzusteigen, fletschte Ripper wütend die Zähne.
Irgendwann begann die Müdigkeit in Harry hoch zu kriechen und er sehnte sich nach seinem dunklen Schrank.
Es wurde später und später, doch niemand kam, um Ripper zurückzupfeifen. Auch als die Junisonne endlich spät am Abend versank, waren die beiden immer noch draußen.
Kurz vor Mitternacht setzte ein Hitzegewitter ein. Beim ersten Donnerschlag jaulte Ripper entsetzt auf und floh ins Haus. Harry harrte noch eine Weile auf dem Baum aus, obwohl er wusste, dass das bei Gewitter auch nicht ungefährlich war. Aber er befürchtete, Ripper würde ihm an der Terrassentür auflauern.
In kurzer Zeit war Harry von dem schlagartig einsetzenden Regen völlig durchnässt. Schließlich begann er, vorsichtig herunterzuklettern und auf das Haus zuzuschreiten.
Vorsichtig drückte er die Klinke der Terassentür herunter, doch sie war verriegelt. Anscheinend war noch jemand wach gewesen und hatte hinter Ripper abgeschlossen.
Nun gut, dann war er hier draußen wenigstens vor dem Angreifer sicher. Er legte sich auf die Hollywoodschaukel, deren Polster sich allerdings im verschlossenen Gartenhäuschen befanden und schlief schnell ein.
Gegen drei Uhr erwachte er wieder, weil ihm nun in seinen durchnässten Sachen unheimlich kalt war. Seine Zähne klapperten und klapperten und wollten gar nicht mehr aufhören. Er versuchte sich durch Herumspringen und -laufen ein wenig aufzuwärmen, aber das klappte auch nur teilweise.
Um 7.30 Uhr ließ Tante Petunia ihn endlich ins Haus mit den Worten „Aber mach nichts nass!“, damit er sich für die Schule fertig machen konnte. Das Frühstück musste heute ausfallen, da er spät dran war und auf dem Schulweg zog Dudley ihn immer wieder mit der Baum-Nummer auf und berichtete alles brühwarm seinen Freunden.
Der Klassenlehrer Mr. Canterbury regte sich mal wieder sehr über Harrys unkonzentriertes Verhalten auf und Harry wusste, dass er die Quittung im Zeugnis erhalten würde.
Am Wochenende wurde der Besuch im Freizeitpark nachgeholt und Harry verbrachte mal wieder einen Tag bei der schrulligen Mrs. Figg. Sie bewirtete ihn diesmal mit Kamillentee, der entsetzlich schmeckte, doch sie glaubte, damit seine starke Erkältung kurieren zu können.
Während er sich dort zu Tode langweilte, überlegte er, ob sie ihn wohl mochte. Er konnte sich dunkel erinnern, dass er früher die Besuche nicht so schrecklich gefunden hatte, wusste aber nicht, warum sich das geändert hatte. Und immerhin war sie die Einzige gewesen, die ihm all die Jahre immer etwas zum Geburtstag geschenkt hatte, nicht gerade tolle Sachen, aber sie hatte ihn nicht vergessen. Trotzdem fühlte er sich bei der kauzigen Alten nicht wirklich wohl.
Manchmal stellte er sich aber vor, dass sie ein dunkles Geheimnis verbarg. Vielleicht war auf dem Dachboden, den er nie betreten durfte, etwas verborgen, denn dort drangen hin und wieder seltsame Geräusche heraus, die nicht von Katzen stammten.
Solche Überlegungen machten die Besuche etwas spannender, aber dann musste er sich wieder eingestehen, dass absolut nichts Besonderes an der langweiligen Mrs. Figg war. Außer, dass sie ihn zumindest mehr mochte, als die Dursleys.
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