von MIR
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In den nächsten Tagen fuhr Harry etwas umsichtiger mit dem Rad. Immer noch machte es ihm am meisten Spaß, wenn er ordentlich Tempo bekam, aber er achtete jetzt mehr auf den Verkehr.
Dudley konnte sich dagegen überhaupt nicht mit den Streifzügen seines Cousins abfinden. Doch seine Eltern hatten ihn so eindringlich davor gewarnt, das Rad anzufassen, dass er sich bis jetzt daran gehalten hatte.
Als nach den Ferien die Schule wieder begann, war es damit jedoch vorbei.
Dudley hatte sich nachmittags mit Piers zum Spielen verabredet. Die beiden wollten zum Spielplatz und Petunia schlug vor, dass es doch wunderbar wäre, wenn Harry sie begleiten würde.
Also holte dieser sein Fahrrad, während die anderen beiden zu Fuß gingen, da Dudley das Radfahren noch immer nicht gelernt hatte. Als die zwei beim Spielplatz eintrafen, war Harry bereits am Schaukeln und hatte sein Rad abgestellt.
Piers ging auf das Gefährt zu und betrachtete es geringschätzig: „Was is’n das für’n Ding? Hast du das vom Schrottplatz geklaut? Is ja echt peinlich, damit rumzufahren!“
Harry sagte nichts dazu. Er wusste, dass es zwecklos war und versuchte nicht hinzuhören.
„Meine Mutter würde mich mit sowas nicht rauslassen. Aber wenn deine selbst ein Schrottauto zu Schrott gefahren hat, dann passt es ja.“
„Die Schrottfamilie“, kicherte Dudley.
Harry merkte, wie er jetzt doch wieder wütend wurde. Wütend und traurig. Vor allem wurde er unsicher, ob nicht doch ein bisschen Wahrheit in dem steckte, was Piers behauptete. Sein Vorwurf war ja nicht nur, dass Harrys Eltern mit einem minderwertigen Auto gefahren waren, man konnte auch heraushören, dass Harrys Eltern selbst schuld an ihren Schicksal waren, dass sie den Unfall selbst verursacht hatten. Genau davor hatte Harry Angst.
„Ihr seid doof!“, rief er wütend und nahm sein Rad um damit wegzufahren.
„Halt! Bleib hier. Wir sollen doch schön zusammen spielen“, gab Piers zurück und hielt das Fahrrad am Gepäckträger fest.
Aber Harry hörte nicht auf ihn und versuchte aufzubrechen. Piers jedoch ließ nicht los. Harry stieg auf den Sattel und trat in die Pedale, aber Piers ließ noch immer nicht los. Harry fuhr ein Stück und Piers lief hinterher. „He, was ist das? Hör auf!“, rief der Verfolger plötzlich.
Erstaunt hielt Harry an. „Ich mache doch gar nichts! Lass mich jetzt einfach fahren!“
„Es geht nicht! Ich kann nicht loslassen. Hör gefälligst auf damit!“
Harry war ratlos.
Inzwischen war auch Dudley wieder bei ihnen.
„Ich kann das Schrottteil nicht loslassen, Dud! Hat der Idiot das Ding mit Klebstoff eingeschmiert? Hilf mir mal!“, meckerte Piers.
Dudley fasste Piers an und versuchte, ihn vom Fahrrad wegzuziehen, aber vergeblich. Die beiden zogen und zogen und schließlich ließ Harry den Lenker einfach los. Das Rad kippte um und die beiden flogen rücklings auf den Bürgersteig in eine Pfütze. Jetzt hatte Dudley genug und wollte Piers loslassen, aber auch das ging nicht.
„Uaäh, man, ich klebe auch fest! Hast du dich irgendwie eingekleistert, Pie?“
„Selber Pie!“, antwortete Piers, der diesen Spitznamen nicht mochte, „Das hängt irgendwie mit deinem bescheuerten Cousin zusammen, den du unbedingt mitnehmen wolltest!“
„Ich wollte den Blödmann überhaupt nicht mitnehmen, du Idiot!“ Dudley wollte auf Piers einschlagen, doch auch das ging nicht, da er mit beiden Händen an ihm festklebte.“
Harry hielt ein bisschen Abstand. Er konnte den beiden sowieso nicht helfen und hatte keine Ahnung, wie das passiert war. Aber es war fast schon lustig, die zwei „Freunde“ zu beobachten.
Er sah, wie die beiden immer wieder versuchten, zusammen mit dem Rad aufzustehen, was nicht so einfach war. Mehrmals verloren sie das Gleichgewicht und purzelten zurück auf den Boden. Inzwischen schrien sie sich nur noch wütend an.
„Ich glaube, ich muss euch wohl doch helfen“, sagte er schließlich und richtete das Rad auf.
„Jetzt mach uns endlich los!!!“, schrie Dudley.
„Tut mir Leid, aber ich weiß wirklich nicht wie“, entgegenete Harry.
„Dann bring wenigstens nach Hause, du Spinner! Wird’s bald!“
„Geht das auch netter?“, fragte Harry.
„Das könnte dir so passen! Du beschissener, bekloppter…“ Dudley gingen die Worte aus.
„Dann nicht“, erwiderte Harry.
„Mach keinen Unsinn. Bring uns jetzt bitte zurück“, half Piers nach.
Harry richtete das Fahrrad auf und schob es nun Richtung Ligusterweg. Piers und Dudley trotteten im Gänsefüßchenschritt hinterher und hofften nicht Malcolm oder den anderen zu begegnen.
„Mama! MAMA!!!“, schrie Dudley als sie endlich vor den Haus Nr. 4 angekommen waren.
„MAMAAA!!! HIILFEEE!!!“, schrie er jetzt, so laut er konnte. In der Nachbarschaft bewegten sich mehrere Gardinen. Es schien wieder ein spannendes Schauspiel bei den Dursleys zu geben.
Petunia stürzte nach draußen.
„Mama! Hilf mir! Mach mich los!“, rief Dudley.
„Was ist denn los, mein Duddychen?“, fragte sie bestürzt und eilte auf ihn zu. Doch sobald sie ihn angefasst hatte, klebte auch sie fest.
Als sie es merkte, war ihr Entsetzen groß.
Natürlich wusste sie, dass Zauberei im Spiel war, denn sie hatte die Warnung von Nicolas nicht vergessen.
„Harry! Du wirst jetzt sofort dieses Theater beenden! Sofort!“
„Aber ich hab doch gar nichts gemacht, wirklich!!! Ich weiß nicht, wie das passiert ist! Ehrlich, Tante Petunia.“
„Meinst du, ich will hier ewig festhängen? Der Spaß ist jetzt vorbei! Du wirst uns jetzt gefälligst hier loswünschen oder was auch immer!“
„Ich will nach Hause!“, begann jetzt Piers zu jammern.
Aber Harry wusste nicht was er tun sollte. Petunia wurde immer wütender und auch Dudley warf Harry ständig Beschimpfungen an den Kopf, doch es half nichts.
„Ich will nach Hause!“, meldete sich Piers erneut, „Wenn Sie mich nicht losmachen können, dann müssen Sie mich eben so nach Hause bringen.
Petunia schüttelte erschrocken den Kopf. Das fehlte gerade noch, in so einer Karawane bis zu den Polkissens zu ziehen!
„Ich will nach Hause! Sie können mich nicht hier festhalten!!!“, schrie Piers jetzt.
Einige Fenster öffneten sich. Neugierig starrten die Nachbarn auf das Geschehen.
Petunia änderte ihre Ansicht darüber, was das kleine Übel war, und befahl Harry, das Rad zu Piers‘ Elternhaus zu schieben.
Der kleine Zug hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als Vernon von der Arbeit wiederkam. Schon im Auto hatte ärgerlich und verständnislos das Theater mit angesehen. Er parkte schnell und eilte auf Petunia zu.
„Vernon! Nein!“, rief sie, doch es war zu spät: Er hatte seine Frau angefasst und hing nun als letzter an der Kette.
Er tobte und brüllte, als er merkte, dass er nicht mehr loslassen konnte. Petunia versuchte ihn zu beschwichtigen. „Denk an die Nachbarn! Sie gucken schon alle“, flüsterte sie eindringlich.
Vernon war mal wieder magentarot angelaufen. „Bursche, das wird ein Nachspiel haben! Verlass dich drauf! Du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein!“, fuhr er Harry an, bemühte sich dabei aber um einen leiseren Ton.
Das hatte sich Harry selbst schon häufiger gewünscht. Er versuchte, nicht auf die Drohung zu hören, und schob nun das Rad weiter in Richtung Familie Polkiss.
Während die Schlange aus Piers, Dudley, Petunia und Vernon nun notgedrungen hinter Harry und seinem Rad her trottete, redete Petunia erneut auf Vernon ein: „Vielleicht solltest du lieber vorsichtig mit Harry sein. Denk dran, was der … Mann … gesagt hat.“
Kopfschüttelnd wurde die kleine Karawane von den Einwohnern des Ligusterweges, des Glyzinenweges und der anderen benachbarten Straßen beobachtet. Die Dursleys waren ja manchmal etwas merkwürdig und hatten auch noch diesen seltsamen Jungen, aber das hier übertraf alles!
Auch Mrs. Figg war von ihrer Katze Mr. Tibbles auf die Aufregung hingewiesen worden. Nach einem Blick aus dem Fenster schickte sie sofort Eusebia mit einer Botschaft zu Dumbledore und wenig später apparierte Dädalus Diggel in ihren Garten.
Inzwischen war der kleine Zug bei den Polkissens angekommen.
„Mama!“, schrie Piers.
Doch Sally Polkiss stand schon in der Tür. „Was ist denn hier los?“, fragte sie und dann fing sie an zu kichern. „So kenne ich Sie ja gar nicht, ey, sind Sie jetzt unter die Spaßvögel gegangen?“
Dann drehte sie sich um und rief ins Haus: „Schatz, kommst du mal? Du musst dir was ansehen!“
Mr. Polkiss, ein ernster, seriöser Mann und ein Geschäftspartner von Mr. Dursley, kam herbei. Er fand das Schauspiel jedoch nicht lustig.
„Piers komm jetzt rein. Es reicht! Dudley, du lässt ihn jetzt los. Mr. Dursley, ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, aber dieser Aufzug ist mehr als lächerlich. Mrs. Dursley, Sie hätte ich auch anders eingeschätzt! Meine Güte … Sally, gegen die bist du ja richtig normal!“
„Hey, gib acht, was du sagst, Grummelmuffel!“
„Ich kann nicht loslassen!“, jammerte Piers, „Es ist wie verhext!“
Petunia zuckte bei diesen Worten schuldbewusst zusammen.
„Es ist tatsächlich so!“, versuchte Vernon zu erklären und musste sich dabei stark bemühen, seiner Stimme einen normalen Tonfall zu verleihen. Wir können alle tatsächlich nicht loslassen, so merkwürdig das auch klingen mag.“
„Ich weiß nicht, was Sie für ein Problem haben, aber mein Junge kommt jetzt rein!“, entgegnete Mr. Polkiss ärgerlich.
Er ging auf Piers zu, um ihn von den Dursleys wegzuholen und ins Haus zu ziehen. „Nein! Nicht anfassen!“, schrien fast alle gleichzeitig, doch Mr. Polkiss hörte nicht auf sie.
Dädalus Diggel stand inzwischen auf der anderen Straßenseite und beobachtete die Szene. In diesem Moment nun schwang er seinen Zauberstab und als Mr. Polkiss nach Piers griff, löste sich der Zauber und alle purzelten durcheinander.
Vernon konnte es nicht glauben. Er rappelte sich auf und versuchte, seinem Geschäftspartner noch eindringlicher zu erklären, dass es vorher tatsächlich nicht möglich gewesen war, loszulassen. Dadurch sank er jedoch nur noch weiter in dessen Achtung.
„Ich werde mir in Zukunft überlegen, ob ich meinen Sohn noch weiter mit Dudley und diesem anderen Jungen spielen lasse. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Auf Wiedersehen.“
Familie Polkiss verschwand im Haus und ließ die Dursleys wie begossene Pudel auf der Straße stehen.
Vernons Wut auf Harry stieg ins Unermessliche. Er hatte allerdings noch immer Angst, wieder in einen Mops verwandelt zu werden oder irgendwo festzukleben. Zu Hause beschränkte er sich daher darauf, Harry nach einer Schimpftirade in den Schrank zu sperren.
Harry saß dort mit gemischten Gefühlen. Er wusste nicht so richtig, was er von dem, was heute passiert war, halten sollte. Einerseits war es erschreckend gewesen und sicher für die Dursleys auch unangenehm, aber irgendwie hatte er es auch lustig gefunden. Zeitweise hatten seine „Anhängsel“ ihm überhaupt nicht Leid getan!
Vor allem konnte er sich gar nicht erklären, wie es zu diesem Festkleben gekommen war. Warum passierten immer ihm so merkwürdige Sachen?!
Er hätte gerne noch einmal von Nicolas geträumt und ihm Fragen gestellt, aber das klappte nicht mehr, was wohl daran lag, dass Weihnachten eben vorbei war.
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Anm.: Die Idee für dieses Kapitel ist von dem Märchen „Die goldene Gans“ geklaut.
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