von MIR
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Heute war der letzte Schultag. Als Harry aufwachte, hatte er ein beklemmendes Gefühl im Magen. Er hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Immer wieder war er aufgewacht, ohne etwas geträumt zu haben, mit einem Gefühl der Übelkeit. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn er das Geschenk nicht angerührt hätte, wenn er statt dessen Tante Marge die Meinung gesagt hätte.
Onkel Vernon hätte ihn dann auch bestraft, aber das wäre nicht so schlimm gewesen. Harry sehnte sich danach, die Zeit zurückdrehen zu können, um es anders zu machen.
Auch jetzt am Morgen konnte er an nichts anderes denken. Die Schule wäre jetzt eine willkommene Abwechslung, aber vermutlich würde er noch ein paar Tage hier drin bleiben müssen. Weihnachten war damit auch gelaufen.
„Ich will aber, dass er mitkommt!“ Dudley stampfte draußen wütend mit den Füßen auf. „Malcolm und Piers haben was vor und da brauchen wir Harry.“
Petunia sah ihren Sohn gerührt an. Es war eine neue Seite an Dudley, dass der sich für Harry einsetzte und ihn auch beim Spielen dabei haben wollte. Den Gedanken, dass Dudleys Absichten vielleicht gar nicht so freundlich sein könnten, verdrängte sie schnell, während sie den Schrank aufriegelte.
Doch in der Tat waren die fünf Gang-Mitglieder Harry alles andere als wohlwollend gesonnen. Kaum waren sie auf dem Schulweg aus der Reichweite ihrer Elternhäuser hinaus, da packten Piers und Dudley den teilnahmslos hinter ihnen hertrottenden Harry und hielten ihn fest, während Malcolm ihm ein Hundehalsband umlegte.
„Jetzt noch das Schwänzchen, Malc!“, rief Dennis begeistert. Doch Malcolm zuckte bedauernd mit den Schultern: „Ich hab nichts wirklich passendes gefunden. Das Einzige ist das hier. Er zeigte eine geringelte Sprungfeder.
„Sieht mehr nach Schwein aus, wenn ihr mich fragt“, meldete sich Gordon zu Wort.
„Eben!“, bestätigte Malcolm.
„Was habt ihr? Ein Schweineschwänzchen für Harry! Das passt doch prima“, kicherte Dudley, „Wer weiß, was der als nächstes frisst!“
Malcolm versuchte nun, die Feder irgendwie an Harrys Hose zu befestigen. „Jetzt bell mal schön, wenn du willst, dass wir dich wieder laufen lassen!“
Doch das war zu viel für Harry. Wütend befreite er sich aus dem Griff von Piers und Dudley, ohne dass die etwas dagegen machen konnten. Malcolm trat einen Schritt zurück, rutschte aus und landete in einem Hundehaufen.
„Von euch lass ich mich nicht ärgern! Ihr seid irgendwie ziemlich dumm. Passt auf, dass ihr euch nicht in Esel verwandelt! Und das Schweineschwänzchen würde Dudley viel besser stehen.“
Er ließ die fünf stehen und ging einfach davon. Erbost und verwirrt blickten sie ihm nach.
Irgendwie fühlte er sich jetzt besser. Nicht nur, weil er der Attacke entronnen war, sondern weil er sich nicht mehr so minderwertig vorkam. Dudley und seine Freunde waren wirklich dumm und feige. War das nicht schlimmer als Hundekekse zu essen? Wieso dachten Onkel und Tante immer, dass Dudley mehr wert war? Warum hatte er das gestern selbst gedacht? Alle sagten es, aber es stimmte nicht!
In der Schule war es nicht unbedingt einfacher, denn Mrs. Atroc glaubte Harry nicht, dass er krank gewesen war. Sie schimpfte, weil er sich gedrückt und die Klasse im Stich gelassen hatte. Aber Harry war es egal.
Am Nachmittag ging sein Arrest weiter. Vernon wollte, dass seine Schwester so wenig wie möglich von Petunias abnormen Neffen belästigt wurde.
Dann wurde es wieder Nacht. Harry graute davor, erneut mit seinen Erinnerungen allein zu sein. Und auf Träume von grünem Licht oder Ratten hatte er auch keine Lust. Am liebsten würde er jetzt von Nicolas träumen. Oder von einem fliegenden Motorrad, das war auch so ein Traum, der sich häufiger wiederholte.
Er versuchte ganz fest an den netten Besucher zu denken und tatsächlich stand Nicolas plötzlich vor ihm.
Harry war erleichtert und wollte ihm erzählen, was am Tag davor geschehen war, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Zu erniedrigend war es, zuzugeben, dass er Hundefutter gegessen hatte.
Doch Nicolas erfuhr sofort, was los war, als er Harry in den Arm nahm und dessen Gedanken auf ihn einstürmten.
Am liebsten wäre er sofort aufgesprungen, um den lieben Verwandten eine Portion Hundefutter ins Maul zu stopfen, aber erst einmal musste er versuchen, hier etwas in Ordnung zu bringen.
„Hör mir jetzt genau zu! Ich weiß, was passiert ist. Du brauchst dich nicht zu schämen. Du hast nichts falsch gemacht! Deine Tante Marge hat etwas falsch gemacht. Sie hat dir die falschen Kekse geschenkt. Sie muss sich schämen, nicht du! Hast du das verstanden?“
Harry sah ihn unsicher an, blickte dann aber wieder zu Boden.
„Du musst mir das glauben, Harry!“
Harry überlegte und fragte dann leise: „Bist du echt, oder wünsche ich mir das nur im Traum?“
„Das ist ganz egal! Wahr ist, dass du etwas wert bist. Vergiss das nicht, auch wenn deine Tante, dein Onkel und dein Cousin etwas anderes sagen. Sie haben nicht recht!“
Harry sah auf.
„Das Gleiche habe ich heute morgen auch schon gedacht, als Dudleys Bande so fies war. Das ist doch nicht richtig, zu jemand anderem so gemein zu sein!“
„Genau“, sagte Nicolas gerührt und erstaunt. Es war unglaublich, wie stark der Junge trotz allem war. „Jetzt schlaf weiter, morgen ist Christmas Eve.“
Während Harry in einen tiefen traumlosen Schlaf verfiel, hatte Nicolas noch etwas zu erledigen.
Marge erwachte davon, dass das Bett unter ihr zusammenkrachte. Erschrocken starrte sie den Eindringling an, der mit finsterer Miene vor ihr stand. „Los, aufstehen und nach unten gewabbelt!“, fuhr er sie an.
„Wer ... sind Sie? Was machen Sie hier in meinem Zimmer?!“, schrie sie schrill.
„Das tut nichts zur Sache. Auf geht‘s!“ Nicolas ließ die Lampe direkt neben ihr zu Boden donnern.
Erschrocken folgte Marge der Aufforderung. Auch Dudleys Eltern wurden unsanft geweckt und in die Küche beordert, während die beiden Kinder fest schliefen.
„Mal sehen, was es hier Leckeres gibt“, sagte Nicolas und ließ die Kühlschranktür auffliegen, während die drei Dursleys stumm zusahen.
„Da haben wir ja schon etwas.“ Eine Tüte mit Innereien und Fleischabfällen von Schlachter schwebte heraus.
„Das ist für Nero, meinen kleinen Liebling. Sie wollen ihm doch nicht sein Fresschen wegnehmen?“, meldete sich Marge trotz aller Angst empört zu Wort.
„Keine Sorge ... ich nicht!“
Neros Napf füllte sich mit den wabbeligen Fleischresten.
Nicolas machte einen Schlenker mit seinem Zauberstab und plötzlich standen zwei dicke Möpse in der Küche. Nur an ihrem Gesichtsausdruck konnte man noch erahnen, dass es sich dabei um Vernon und Marge handelte. Entsetzt und angewidert beobachtete Petunia, wie sich die beiden sofort auf den Napf stürzten und sich um Knochen, Sehnen und unappetitliche Brocken rissen.
Bald war alles leergefressen und Vernon war gerade dabei, die letzten Reste auszuschlecken, als er und seine Schwester zurückverwandelt wurden.
Beide fanden sich vor dem Napf kniend wieder, Vernon berührte ihn noch mit der Zunge.
„Ich war so frei, mir mal Ihren Muggelfotoapparat auszuleihen“, erklärte Nicolas den beiden und drückte auf den Knopf der Polaroid-Kamera.
Er zeigte den immer noch wortlosen Dursleys das ausgeworfene Foto und bemerkte lässig: „Eine schöne Erinnerung. Ich werde es behalten. Kann sein, dass sich mal jemand dafür interessiert, wenn es Harry hier nicht gut geht. Ich hatte ja sowieso versprochen, eventuell mal bei Grunnings vorbeizuschauen.“
„Sie wollen mir drohen?!“, rief Vernon, der seine Sprache wiedergefunden hatte, „Das ist Erpressung! Das ist illegal!“
„Muggelgesetze interessieren mich nicht“, antwortete Nicolas barsch und verschwieg, dass es ihm gerade mit den Zauberer-Gesetzen genauso ging.
„Noch eines: Harry wird ein Geschenk von mir bekommen. Sollte jemand es wagen, Harry das wegzunehmen oder es auch nur anzufassen, wird er daran festkleben.“
Nicolas verschwand und auch Marge hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihre Sachen zu packen und noch vor Tagesanbruch zusammen mit Nero den Heimweg anzutreten.
Sie hatte kein Interesse mehr, sich noch von Duddy-Spätzchen zu verabschieden oder sich aus irgendeinem anderem Grund noch länger als nötig im Hause ihres Bruders aufzuhalten.
Für Harry wurde es doch noch ein schönes Weihnachtsfest. Er bekam tatsächlich ein Fahrrad. Der Weihnachtsmann hatte ihn nicht vergessen. Auch wenn die Dursleys über die Ausstattung lästerten und beteuerten nichts mit diesem Geschenk zu tun zu haben, so achteten sie doch streng darauf, dass Dudley es nicht in die Finger bekam. Außerdem schenkten sie Harry noch zehn Pence.
Dudley war so wütend, dass er sich überhaupt nicht für seine 28 Geschenke interessierte und die Hälfte davon gleich am ersten Weihnachtstag zertrümmerte.
Für Nicolas hatte es allerdings ein unangenehme Überraschung gegeben, als er nach dem nächtlichen Besuch bei den Dursleys nach Hause gekommen war.
„Du hast Post vom Zaubereiministerium“, empfing ihn seine Frau Perenelle, „Eine Vorladung. Du musst dich vor dem Zaubergamot verantworten wegen unerlaubter Zauberei an Muggeln.“
„Ich soll was?! In was für einer verrückten Zeit leben wir eigentlich? Das ist grotesk. Die haben sich an einem wehrlosen Kind vergriffen und es gedemütigt!“
„Wir leben in einer Zeit, in der es erst sieben Jahre her ist, dass ein durchgedrehter Reinblutfanatiker sein Unwesen trieb. Damals war es normal, dass wehrlose Muggel zum Spaß verzaubert und gequält wurden“, erwiderte Perenelle besorgt, „Das haben die beim Ministerium nicht vergessen!“
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