von MIR
*
„Heute war mein Traum ganz merkwürdig, irgendwie anders als sonst“, erzählte Harry seinem Besucher zwei Nächte später.
Nicolas horchte auf.
„Ich kann mich noch ganz genau erinnern. Ich bin auf dem Boden rumgekrochen irgendwo im Wald und da waren plötzlich zwei Männer und die sahen aus wie im Märchen und dann hat der eine plötzlich mit dem Stock auf den anderen geschossen und dann hat der andere geschrien und gezappelt und dann fand ich das toll, also im Traum, eigentlich finde ich das böse, und dann war der eine plötzlich tot und dann wollte ich zu dem anderen hin, aber der hat gar nicht gemerkt, dass ich da bin, und da habe ich mich so geärgert, dass ich aufgewacht bin.“
Nicolas war erst einmal sprachlos.
„Bist du jetzt böse auf mich, weil ich so was Böses geträumt habe? Ich träume ganz oft, dass ich mir was richtig Böses wünsche. Bin ich dann auch böse? Ich will aber gar nicht böse sein. Bitte sag, dass ich nicht böse bin! Ich will auch gar keine Weihnachtsgeschenke.“
Nicolas nahm Harry in den Arm. „Du. Bist. Nicht. Böse!“, sagte er eindringlich, „Nur wenn man etwas Schlimmes tut, ist man böse, nicht wenn man davon träumt. Und du wirst dieses Jahr Geschenke bekommen, dafür sorge ich.“
„Wirklich?“, fragte Harry mit zittriger Stimme und Nicolas nickte.
„Ich habe aber trotzdem noch eine Frage zu dem Traum“, fuhr er fort, „kannst du dich erinnern, ob die beiden Männer vorher etwas gesagt haben?“
„Die haben sich gestritten und der eine hat gesagt, dass es ein Fehler war, nach Albanien zu kommen. Ich weiß aber gar nicht, was Albanien ist.“
„Das ist nicht so schlimm“, sagte Nicolas schnell und fragte dann: „Was wünschst du dir denn eigentlich zu Weihnachten?“
„Geht das, dass Tante Marge noch mal nicht kommt? Und dann hätte ich so gerne mal 50 Pence, geht das? Das ist ja auch kein Gold, weil du mir das ja nicht schenken willst. Und dann hätte ich gerne, dass Gordon wieder mit mir spielt. Oder dass Jonny zurückkommt. Und dann hätte ich noch so gerne, dass Tante Petunia mich mag, wie ein echtes Kind. Und eigentlich hätte ich auch gerne ein Fahrrad, aber ich weiß, dass ich mir sowas gar nicht wünschen darf. Aber im Traum darf man das doch sagen, oder?“
Nicolas lächelte traurig. „Natürlich darfst du alles sagen. Aber gerade diese Wünsche kann ich dir nicht alle erfüllen. Deine Tante wird bestimmt kommen wollen. Du hast doch gesagt, dass dein Cousin die Hauptrolle in eurem Stück spielt, da will sie bestimmt zuschauen. Auch die anderen Sachen sind schwierig.“
„Auch die 50 Pence?“, fragte Harry enttäuscht.
„Nein, die nicht“, antwortete Nicolas und unterdrückte den Impuls, Harry sofort eine goldene Galeone in die Hand zu drücken.
Noch in der gleichen Nacht bekam auch Vernon Dursley „Traumbesuch“. Er wurde wach, weil es plötzlich taghell in seinem Schlafzimmer war. Als er die Augen öffnete, stand ein grimmig aussehender alter Mann direkt vor seinem Bett. Vernon erkannte sofort, dass es einer von denen war, denn er trug einen dieser Umhänge, der allerdings reich verziert war.
Anscheinend gab es bei denen auch Unterschiede und widerwillig musste Vernon sich eingestehen, dass diese Person mächtig und beeindruckend wirkte.
Er versuchte Petunia wachzurütteln, doch die schien unnatürlich fest zu schlafen.
„Hör zu, Dursley“, begann der Besucher jetzt, „Ich habe in den letzten Jahrhunderten ja schon einiges erlebt, aber dein Umgang mit dem Jungen hat mich trotzdem sprachlos gemacht. Was bildest du dir eigentlich ein?! Weißt du eigentlich, was das für ein Kind ist, das euch da anvertraut wurde?“
„Allerdings! Ein mieser, kleiner, schmarotzender ...“
„Schweig!“ Nicolas machte einen Schwenk mit seinem Zauberstab und Vernon verstummte gegen seinen Willen.
„Hör zu! Noch vor zweihundert Jahren wäre es kein Problem gewesen, dir eine Sitzung in der Folterkammer einer Burg zu verschaffen. Inzwischen sind die Regeln da etwas strenger, aber irgendetwas wird sich bestimmt machen lassen.“
Vernon wurde blass.
„Vielleicht reicht es ja auch schon, einfach mal bei deiner Firma Grunnings vorbeizuschauen und den Leuten die Augen zu öffnen, was für ein Mensch der Herr Direktor im Privatleben so ist.“
Kreidebleich wollte Vernon etwas erwidern, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht.
„Wenn du nicht willst, dass das passiert, wirst du in Zukunft ein paar Spielregeln beachten:
Du wirst den Jungen nicht mehr verprügeln, du wirst ihm jedes Jahr etwas zu Weihnachten schenken und du wirst ihm ein eigenes Zimmer hier oben zur Verfügung stellen. Geht das in dein Muggelhirn?“
Vernon konnte nicht antworten.
„Gut, ich deute das mal als Ja. Morgen früh wirst du wieder reden können und das Alles hier für einen Traum halten. Ich empfehle dir aber, dich trotzdem an die vorgeschlagenen Regeln zu halten.“
Der nächste Morgen brachte eine Überraschung für Petunia, Dudley und Harry mit sich. Die Dursleys saßen noch beim Frühstück, Harry räumte gerade die schon benutzten Teller ab, als Vernon unvermittelt fragte: „He, Bursche, du hast wohl nie irgendwelche Weihnachtswünsche, was? Bisschen unnormal oder? Na ja, was soll man auch anderes erwarten bei Leuten wie dir?“
Petunia und Dudley glotzen ihren Ehemann und Vater förmlich an, auch Harry ließ beinahe die Teller fallen.
„Ich hätte so gerne mal 50 Pence“, sagte er leise.
„Man muss es ja nicht gleich übertreiben, was?!“, donnerte Vernon los.
„Der braucht doch kein Geld!“, kreischte Dudley aufgebracht.
Petunia blickte nur stumm in die Runde und verstand gar nichts mehr. Erst recht nicht, als Vernon fortfuhr: „Was dein Zimmer betrifft: Du willst doch nicht im Ernst, dass meine schwer arbeitende Schwester auf dem Sofa schlafen muss, nur damit der Herr sich dort oben ausbreiten kann? Ist dir etwa dein Platz unter der Treppe, den wir extra für dich eingerichtet haben nicht mehr gut genug? He?“
Vernon sah Harry drohend an.
Harry war noch immer erstaunt, denn schließlich hatte er gar kein Zimmer gefordert, aber die Aussicht war verlockend.
„Tante Marge ist doch gar nicht immer da und außerdem gibt es doch noch ein Zimmer“, brachte er schließlich mutig hervor.
Vernons Blick verfinsterte sich, aber er kam nicht dazu, etwas zu sagen, da Dudley in diesem Moment losheulte.
„Daddy, du wirst dem da doch nicht mein Zimmer geben!!! Das kannst du doch nicht machen, Daddy! Ich brauche doch das Zimmer dringend!“
Jetzt hatte sich Petunia lange genug zurückgehalten: „Weine nicht, mein Spatz! Das würde Daddy seinem Duddy doch niemals antun! Nicht wahr, Vernon? Wie kommst du nur auf so eine Idee?!“
„Ich?! Wie ich auf die Idee komme?! Ich komme auf gar keine Idee! Du hast uns doch den Ärger mit dem Burschen und seinem Pack eingehandelt! Aber das lasse ich nicht mit mir machen! Die sollen ruhig kommen! Dann werden wir ja sehen, wer die bessere Position bei Grunnings hat!!!“
„Grunnings?“, fragte Petunia entsetzt, die sich nun langsam die Dinge zusammenreimen konnte.
Sie wirkte so beunruhigt, dass Vernon etwas vorsichtiger wurde.
„Ach was, Petunia. Mach dir keine Gedanken, ich hab wohl nur schlecht geträumt. Das kommt davon, wenn man täglich mit so einem zu tun hat. ... Die Zimmer bleiben, wie sie sind!“ Wieder wanderte Vernons Blick drohend zu Harry: „Ich lasse mich von deinen Leuten nicht erpressen! Wenn Marge heute kommt, soll sie sich genauso wohlfühlen können wie immer und mein Sohn wird ebenfalls nicht eines seiner Zimmer wegen dir räumen müssen!“
Harry hatte eigentlich nichts anderes erwartet, doch Vernon behielt ein ungutes Gefühl. Er war sich gar nicht sicher, dass alles nur geträumt war. Vielleicht war es tatsächlich angemessen, dem Jungen wenigstens 10 Pence zukommen zu lassen. Dann müssten doch eigentlich alle zufrieden sein. Außerdem könnte er Marge bitten, dem Jungen auch etwas mitzubringen.
Das würde reichen, dachte er und machte sich nun doch beruhigt auf den Weg zur Arbeit.
Auch die beiden Jungs brachen kurz darauf zur Schule auf. Heute morgen stand die Generalprobe für das Stück an, das abends vor den Eltern und Verwandten aufgeführt wurde. Dudley hatte kurzfristig die Hauptrolle erhalten, weil der ursprüngliche St.-Nicolas-Darsteller erkrankt war und Mrs. Atroc meinte, Dudley würde von seiner Statur her gut passen. Das war auch der Grund, weshalb Tante Marge bereit war, jetzt schon anzureisen.
Harry, der ein armes Kind spielte, dachte voller Sorge an den bevorstehenden Tag.
***
Währenddessen hatten Dumbledore und Flamel ein ernstes Gespräch. Albus Dumbledore hatte die eindeutige Nachricht über Voldemorts Aufenthalt in Albanien besorgt zur Kenntnis genommen. Er war seinem Freund sehr dankbar dafür, all dies herausgefunden zu haben, von der deutlichen Einmischung ins Leben der Dursleys hielt er allerdings nichts.
„Es sind Muggel. Wir dürfen unsere Position als Zauberer nicht ausnutzen! Du kennst die Gesetze.“
„Du meinst diesen ganzen neumodischen Kram, der in den letzten 100 Jahren beschlossen wurde? Ja, den kenne ich. Aber ich weiß auch, was Muggel Zauberern schon angetan haben, im Laufe der Jahrhunderte. Es sind grausame Dinge während der Hexenverfolgungen passiert. Und ich weiß auch über deine Schwester Bescheid, dein Vater hat es mir erzählt, bevor er ... losgezogen ist.“
Albus wollte ihn unterbrechen, doch Nicolas blockte ab.
„Harry ist ihnen ebenfalls schutzlos ausgeliefert. Er ist ein Kind und hat keine Ahnung, dass er sich wehren könnte. Außerdem denke ich, dass ich keines eurer Gesetze wirklich gebrochen habe.“
Er lies Albus nicht zu Wort kommen und fuhr fort: „Und ich denke, dass du überreagierst, weil du allen beweisen willst, auch dir selbst, dass du kein muggelfeindliches Weltbild mehr hast!“
Betroffen schwieg Albus. Niemand außer seinem Bruder Aberforth, den er nicht wirklich ernst nahm, traute sich, so mit ihm zu reden.
Die beiden unterhielten sich schließlich noch eine ganze Weile miteinander und kamen überein, dass Nicolas die Familie noch weiter beobachten konnte, den Kontakt zu Harry aber nach Weihnachten wie geplant erst einmal abbrechen sollte. Es würde sonst viel schwieriger und unlogischer, das Ganze als Traum zu tarnen.
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