von MIR
*
Wie immer standen auch in diesem Sommer die Geburtstage der beiden Jungen an.
Dudleys Geburtstag bescherte Harry mal wieder einen langweiligen Tag bei Mrs. Figg.
Sein eigener war diesmal ganz erträglich. Petunia erinnerte sich wieder an das vorherige Jahr und schenkte ihm vorsorglich etwas: einen Radiergummi.
Den Nachmittag verbrachte er ebenfalls bei Mrs. Figg, denn diese hatte ihn eingeladen.
Es gab sogar einen Schokokuchen, der allerdings recht trocken war.
Harry war überrascht, als die dröge Teerunde durch Klingeln unterbrochen wurde. Draußen stand eine ziemlich dicke Frau. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es Mrs. Stonewalker war.
Mrs. Figg begrüßte sie freundlich und diese bedankte sich für die Einladung. Harry verstand gar nichts mehr. Seit wann kannten sich denn die beiden?
„Hallo, Harry, das ist ja schön, dich mal wiederzusehen!“, begrüßte seine alte Lehrerin ihn.
„Tag, Mrs. Stonewalker“, antwortete Harry immer noch irritiert. Er konnte seinen Blick nicht von dem großen Bauch lassen, „Essen Sie jetzt auch immer so viel wie Onkel Vernon?“
„Nein“, sie lächelte, „ein Baby ist unterwegs. Und ich heiße auch nicht mehr Mrs. Stonewalker, weil ich geheiratet habe. Aber du kannst einfach Annie sagen, ich bin ja nicht mehr deine Lehrerin.“
„Wohin will denn das Baby? Ist es ganz alleine? Kennst du es?“
Annie stöhnte innerlich. Anscheinend wusste Harry gar nichts. Wahrscheinlich hatte sich Mr. Blue im Unterricht um das Thema herumgedrückt .... Männer!
Und die Dursleys - na ja, wenn man sie kennen lernte, wunderte man sich sowieso, dass Dudley überhaupt zustande gekommen war.
Also erzählte sie Harry ein bisschen über das Baby in ihrem Bauch, was dieser sehr interessant fand. Leider durfte sie ihm nichts von Hogwarts und den Zauberern erzählen. Aber sie schenkte ihn ein Buch.
Der Löwe, die Hexe und der Kleiderschrank* hieß es.
„Es ist vielleicht jetzt noch ein bisschen schwer zu lesen, aber eines Tages wird es dir bestimmt gefallen. Dort gelangen Kinder durch einen Schrank in eine zauberhafte, andere Welt.“
„So ein Schrank wie meiner? Dann gefällt es mir bestimmt!“
Schon bald musste Annie wieder gehen. Sie empfahl Harry, den Dursleys nichts von ihrem Besuch und dem Geschenk zu erzählen, da sich sonst Dudley wieder ärgern würde. Zu dessen Geburtstag war sie ja nicht gekommen.
Harry fiel das nicht schwer, denn als er nach Hause kam, interessierte es niemanden, was er bei Mrs. Figg erlebt hatte.
Im September begann das neue Schuljahr. Harry und Dudley wussten ja schon, dass Mrs. Atroc, die Schulleiterin, ihre Lehrerin werden würde. Tatsächlich war sie sehr streng, und als der erste Schultag vorbei war, wünschte sich auch Dudley seinen früheren Lehrer zurück.
***
Überall im Land hatte die Schule begonnen. Um 11.00 Uhr war ein ganzer Zug voller aufgeregter Schüler im Bahnhof Kings Cross, Gleis 9 ¾ gestartet. Und nicht nur Schüler saßen in dem Zug....
Hogwarts.
Nun war er also tatsächlich wieder auf dem Weg dorthin. Wie viele Jahre war es her? So oft hatte er damals im Hogwarts-Express gesessen und sich gefragt, was das neue Schuljahr wohl bringen würde!
Eine Situation wie heute hatte er sich jedoch nie vorgestellt: Eingepfercht auf engem Raum, gefangen hinter Gitterstäben.
Womit hatte er das verdient?
Niemals hatte er etwas Unrechtes gewollt. Es war so eine Art Notwehr gewesen. Man konnte sich Voldemort einfach nicht entgegensetzen!
Und nun war er dazu verurteilt, als Ratte zu leben. Es war zu riskant, sich zurückzuverwandeln, daher musste er die Launen des elfjährigen Percy Weasley ertragen.
Er lebte bei dem Jungen seit dieser fünf Jahre alt war.
Zwar war es irgendwie entwürdigend, als Kinderspielzeug zu enden, aber es war auch sehr bequem, da Percy ihn gewissenhaft versorgte.
Trotzdem war Peter, der jetzt Krätze hieß, froh, dass James und Sirius ihn nicht so sehen konnten. Und auch Remus würde ihn bei einer Begegnung wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Hoffentlich, denn es wäre sonst oberpeinlich.
Ob seine Freunde wohl verstehen würden, warum er so gehandelt hatte? James und Remus wahrscheinlich schon, die hatten sonst ja auch Verständnis für ihn gehabt. Aber Sirius! Dieser eingebildete Typ hatte ihm doch alles erst eingebrockt! Nur weil er selbst keine Lust hatte, die Verantwortung als Geheimniswahrer zu tragen, hatte er die Last auf Peter abgewälzt.
Bis dahin hatte Peter immer geglaubt, sicher zu sein. Durch seine Spionagetätigkeit für die dunkle Seite hatte er auf beiden Seiten Beschützer.
Doch wegen Sirius war alles zusammengebrochen und er musste sich seitdem vor beiden Seiten verstecken!
Es rumste.
Beinahe wäre der Käfig vom Gepäcknetz auf den Boden gefallen. Doch ein Junge namens Oliver hatte flott reagiert und die Kiste gerade noch stoppen können.
„Vielleicht solltest du dein Tier lieber auf den Schoß nehmen, Percy. Ratten fliegen nicht so gerne.“
„Wieso hast du überhaupt so was mit? Ich dachte, wir sollten eine Eule, Kröte oder Katze mitbringen?“, fragte ein Mädchen mit braunen Zöpfen, das sich vorher als Audrey vorgestellt hatte.
Percy wollte gerade zu einer ausschweifenden Erklärung ansetzen, doch Oliver kam ihm zuvor: „Mich würde eher interessieren, warum der Zug so plötzlich stoppen musste.“
Die Kinder brauchten nicht lange zu rätseln, denn schon nach kurzer Zeit öffnete ein rothaariger Sechstklässler die Abteiltür. Ein großes V war auf seinen Umhang gestickt und er zog einen pickligen Jungen mit abstehenden Ohren hinter sich her.
„Ihr braucht keine Angst zu haben, es ist nichts passiert. Hier hat nur jemand gemeint, er müsste mal die Notbremse ausprobieren. Ich bringe ihn zu Professor Adams“, beruhigte er die Erstklässler.
Audrey setzte auf einmal ein sehr wichtigtuerisches Gesicht auf, genauso wie Percy.
„Was ist denn mit euch los?“, fragte Oliver, „Hab ich was nicht mitbekommen?“
„Mein Vater“, verkündete Audrey, „ist der begleitende Lehrer im Zug. Er ist der neue Professor für Verteidigung gegen die dunklen Künste. Ein sehr begehrter Posten. Nur die hochbegabtesten Zauberer können damit rechnen, dass Professor Dumbledore ihnen soviel Vertrauen entgegen bringt und ihnen den Unterricht anvertraut.“
„Aha“, entgegnete Oliver und klang ziemlich uninteressiert, „und was findest du so toll daran, Percy?“
„Wie ihr vielleicht bemerkt habt, war das eben mein Bruder.“
„Wer? Pickelgesicht Stan?“, meldete sich jetzt Albert zu Wort, einer der Zweitklässler, die die ganze Zeit ruhig am Fenster gesessen hatten. „Da würd‘ ich nicht allzu stolz drauf sein. Er ist in meinem Jahrgang, aber er...“
„...ist ein Idiot“, ergänzte sein Freund.
„Ich meine selbstverständlich den Vertrauensschüler“, erklärte Percy, „Mein Bruder Bill wurde schon zum zweiten Mal dazu ernannt. Mein anderer Bruder Charlie ist übrigens Sucher der Quidditsch-Mannschaft von Gryffindor. Das ist der wichtigste Posten im Team. Bereits seit zwei Jahren spielt er mit und war einer der jüngsten und erfolgreichsten Sucher überhaupt.“
Jetzt war Audrey desinteressiert und ein bisschen beleidigt, dass nicht alle über ihren Vater staunten, während Oliver plötzlich ganz fasziniert war und Percy nach allen Einzelheiten des Spiels ausfragen wollte.
Leider war dieser jedoch selbst kein großer Experte. Zu gerne hätte er das Gespräch nun auf seine eigenen Begabungen gelenkt, aber Oliver schien von dem Thema Quidditsch richtig besessen zu sein.
Als Percy nicht mehr weiter wusste, wandte sich Oliver an die beiden Zwölfjährigen.
Peter, der als Animagus jedes Wort verstehen konnte, erinnerte sich wehmütig an die vielen Quidditschdebatten, die sie früher im Zug geführt hatten. Damals hatte er es langweilig gefunden, heute sehnte er sich nach diesen Zeiten zurück.
Immer wieder kam sein Selbstmitleid hoch. Er verschwendete dagegen kaum einen Gedanken daran, dass seinetwegen ein Unschuldiger in Askaban saß, 12 Muggel von ihren Familien schmerzlich vermisst wurden und ein siebenjähriger Waisenjunge keine Ahnung von den Wörtern Quidditsch, Animagus und Hogwarts hatte, obwohl er ein Zauberer war.
***
Harry las jeden Tag eine Seite in seinem Buch. Wie sehr wünschte er sich, es würde so eine andere Welt tatsächlich geben. Er malte sich sogar ein Bild von der Flagge Narnias und hängte es über sein Bett: Ein goldener Löwe auf roten Grund.
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* Das ist die Übersetzung des englischen Titels.
In GB ist das Buch von C.S.Lewis ein Kinderbuchklassiker, in Deutschland wurde „Der König von Narnia“ (und die Fortsetzungen) erst durch den Kinofilm so richtig bekannt.
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