von MIR
*
Harry rotierte in seinem Schrank wie ein Hamster im Käfig.
In einem viel zu kleinen Käfig.
Er wusste nicht, was er tun sollte, um das noch länger auszuhalten. Die Antwort von Tante Petunia hatte ihm die letzte Kraft geraubt. Ein maßloses Entsetzen hatte sich in ihm breit gemacht, als er hörte, dass er das versprochene Essen nun doch nicht bekommen sollte.
Und Panik.
Wie lange dauerte es, bis jemand verhungert war? In den Nachrichtensendungen von Onkel Vernon kamen manchmal Berichte über Kinder, die verhungerten.
Bestimmt wollten Onkel und Tante nicht, dass er verhungerte.
Oder? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen.
Aber wussten sie, wie lange es dauerte?
Vielleicht dachten sie ja, dass so etwas erst nach zwei Wochen passierte, aber in Wirklichkeit war es schon nach einer Woche so weit?
Oder nach drei Tagen?
Bestimmt nach drei Tagen.
Bestimmt morgen.
Er hörte Dudley und seinen Vater die Treppe herunter kommen und darüber schimpfen, dass Petunia das Frühstück nicht fertig vorbereitet hatte.
Er hörte, wie Onkel Vernon die Treppe wieder hinauf polterte und oben einen heftigen Wortwechsel mit seiner Frau hatte, den Harry aber nicht richtig verstehen konnte.
Er hörte erneut jemanden mit wütenden Schritten nach unten stampfen.
Und dann roch er es. Er roch, wie Onkel Vernon und Dudley sich Speck und Würstchen selbst brieten.
Der Geruch kam unerbittlich und grausam durch die Ritzen der Schranktür.
Drang durch seine Nase ein und ließ seinen Magen verrückt werden.
„ICH WILL RAUS!!! ICH WILL HIER RAUS!!!! ICH WILL WAS ESSEN!!! ICH WILL NICHT VERHUNGERN!!! ICH WILL RAUS!!!“
Er schrie so laut er konnte und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Dann trat er mit den Füßen abwechselnd dagegen, während er unaufhaltsam weiterschrie.
Vernon versuchte ihn zu ignorieren, doch sein Adrenalinspiegel stieg an.
Harry brüllte weiter.
Schließlich konnte Vernon es nicht mehr ertragen.
„Du hörst jetzt sofort auf! Hast du mich verstanden, Bursche? Jedes weitere Wort bedeutet einen Tag länger im Schrank. Verstanden!!!“
Doch Harry interessierte nicht, was sein Onkel sagte. Er brüllte, schrie und tobte. Er trat und hämmerte immer weiter gegen die Tür, doch diese gab nicht nach.
Dafür passierte etwas anderes.
Harry Stimme verstärkte sich irgendwie. Wie eine Lautsprecheransage war sie nun nicht nur im Haus sondern auch auf der Straße zu hören.
„ICH WILL RAUS!!! ICH WILL RAUS!!! ICH WILL NICHT VER...“
In Windeseile hatte Vernon den Schrank aufgeschlossen, Harry herausgezerrt und ihm den Mund zugehalten.
„Sei ruhig!“, zischte er, „Dann bekommst du etwas.“
Harry verstummte sofort.
Vernon brachte ihn zunächst einmal ins Bad um zu vermeiden, dass Harry „irgendwelche Schweinereien veranstalten“ würde.
Außerdem ließ er Harry dort Wasser trinken.
Danach gab er ihm ein Toastdreieck und sperrte ihn damit wieder ein.
„Und jetzt ist Ruhe, verstanden!“
Harry nickte, obwohl Vernon das gar nicht mehr sehen konnte.
Er teilte das Dreieck in zwei kleinere Dreiecke und diese noch einmal in kleine Dreiecke.
Jetzt hatte er vier Stücke. Vier Achtel einer Toastbrotscheibe. Eines wollte er essen und die anderen drei für später aufbewahren.
Doch der Happen war so schnell in seinem Mund verschwunden, dass er gar nicht bemerkte, dass er etwas gegessen hatte. Ohne es zu wollen hatte er sich plötzlich das zweite Stückchen in den Mund geschoben. Und auch das dritte wanderte hinterher, ohne dass Harry es verhindern konnte.
Jetzt musste er alle seine Willenskraft aufbringen, um wenigstens das letzte Achtel als Notvorrat zu bewahren.
Er schob es unter die Matratze, damit keiner der Dursleys es zufällig entdecken und ihm wieder wegnehmen konnte.
Erschöpft und übernächtigt schlief er ein, während Vernon und Dudley das Haus verließen.
Petunia kam irgendwann wieder nach unten, um den Frühstückstisch abzuräumen. Selbst brachte sie keinen Bissen hinunter.
Sie startete ihre übliche Hausarbeitsrunde.
Als sie gegen Mittag immer noch nichts von Harry gehört hatte, schaute sie beunruhigt in seinen Schrank. Doch er war nicht verschwunden, sondern schlief einfach nur. Es schien ihm einigermaßen gut zu gehen.
Erleichtert machte sie sich nun doch ein Sandwich, denn mittlerweile hatte sie Hunger bekommen.
Trotzdem drohte jeder Bissen, ihr in der Kehle stecken zu bleiben.
Beim Abendessen schnitt sie das Thema Harry wieder an.
„Sollten wir Harry nicht doch eine Kleinigkeit geben?“, fragte sie.
„Morgen“, erwiderte Vernon, „Aber lass ihn ins Bad, ich mag den Gestank nicht!“
***
Irgendwann hatte auch dieses Martyrium sein Ende.
Harry durfte nach seiner langen „Krankheit“ wieder in die Schule und Petunias Gewissen beruhigte sich allmählich, als sie sah, dass der Junge alles unbeschadet überstanden hatte.
Trotzdem geriet sie abends, wenn sie die Küche aufräumte, bei jedem kleinen Geräusch in Panik. Sie befürchtete, Severus Snape oder ein anderer Zauberer könnte wieder erscheinen und sie diesmal zur Rechenschaft ziehen.
Nichts dergleichen geschah. Vernon hatte Recht gehabt.
***
Die Wochen vergingen und es ging auf Weihnachten zu. Dudley erweiterte jeden Morgen beim Frühstück seine Wunschliste um mindestens fünf neue Dinge, die er ganz unbedingt brauchte.
Der Zettel, auf dem Petunia diese Bestellungen notierte, war bereits auf beiden Seiten vollgeschrieben.
Harry hütete sich davor, selbst irgendwelche Wünsche zu äußern. Mittlerweile wusste er, dass er damit nur das Gegenteil erreichte. Trotzdem hoffte er insgeheim wieder auf eine kleine Überraschung wie zum Geburtstag.
Letztes Jahr hatte er zu Weihnachten immerhin die Brille erhalten. Erst hatte er sie nicht gemocht, aber jetzt liebte er sie, obwohl das Gestell so stark beschädigt war.
Vielleicht sollte er das Onkel und Tante einmal sagen? Er hatte sich nie wirklich für das Geschenk bedankt, weil er es am Anfang so schrecklich gefunden hatte.
Sein Dank brachte jedoch nicht die erhoffte Resonanz.
Vor allen Aussagen wie „.. mir hat jemand gesagt, dass ich damit aussehe wie mein Vater...“ und „...ich kann jetzt immer alles lesen, was ich eigentlich gar nicht richtig sehen kann. Es ist fast wie Zauberei ...“ stießen nicht auf Gegenliebe.
Tante Petunia saß wie versteinert auf dem Sofa, während Vernons Adern mal wieder verdächtig anschwollen.
Harry landete nur deshalb nicht im Schrank, weil das Telefon in diesem Moment klingelte und Tante Marge ihren Weihnachtsbesuch ankündigte.
Angeregt unterhielt sich Vernon mit ihr und hatte am Schluss seine schlechte Laune fast vergessen.
Harry jedoch verfolgte die Entwicklung geschockt. Ihm wäre es lieber gewesen, der Anruf hätte nicht stattgefunden.
Jetzt hatte er nur noch einen Weihnachtswunsch:
Tante Marge sollte, aus welchem Grund auch immer, den Besuch absagen.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel