von MIR
*
In den nächsten Wochen ging bei den Dursleys alles wieder seinen gewohnten Gang. Harrys Schrankstrafe war beendet, aber das bedeutete nicht, dass er jetzt freundlicher behandelt wurde.
Besonders Dudley war sauer auf ihn, da sein eingetauschtes Luftgewehr seit der spektakulären Aktion verbogen war. Zwar war er selbst derjenige gewesen, der sich daraufgesetzt hatte, um es zu verstecken, doch es war leichter zu ertragen, wenn man die Schuld dafür Harry anlastete. Wäre der nicht hochgekommen, wäre sicher alles anders gelaufen!
Leider fiel Dudley keine geeignete Rache ein und so beschloss er, Malcolm beim nächsten Besuch davon zu erzählen: Der hatte immer so tolle Ideen. Und außerdem war es ja auch dessen Gewehr gewesen (eigentlich das des Vaters, aber das war ja dasselbe).
Harry bekam jedoch wie immer die Verachtung seines Cousins zu spüren. Demonstrativ hielt Dudley sich stets die Nase zu, wenn er an dem Schrankbewohner vorüber ging.
Harrys Geburtstag rückte näher. Diesmal hatte er keinen Kalender, um die Tage abzuzählen, aber diesmal erwartete er den Tag auch nicht so sehnlich. Im letzten Jahr hatte er endlich begriffen, dass es für ihn keine Geschenke geben würde.
Und so war es auch. Der 31.Juli war ein ganz normaler Tag für die Dursleys. Petunia plante einen größeren Einkauf und nahm dazu beide Jungs mit, da noch immer Ferien waren. Harry wurde ja nicht mehr regelmäßig von Mrs. Figg betreut und ihn längere Zeit alleine zu lassen, fand seine Tante immer noch riskant.
Diesmal hatte sie sich tatsächlich durchgerungen, auch etwas für Harry zu besorgen: Er brauchte dringend neue Schuhe. Die jetzigen waren zu klein und die abgetragenen von Dudley so weit, dass er sie ständig verlor und stolperte. Selbst Petunia sah ein, dass es so nicht ging. Sie steuerte mit den beiden also einen Secondhand-Laden an, den sie noch nie vorher betreten hatte, und hoffte, dass im Kleiderbereich auch Schuhe angeboten wurden.
Schon, als sie hineinging, wäre sie am liebsten wieder rückwärts hinausgegangen. Der muffige Geruch und die verstaubten Gegenstände ekelten sie an. Überhaupt konnte sie nicht glauben, dass es Leute gab, die sich freiwillig diesen Trödel, der in ihren Augen nichts als Müll war, in die Wohnung stellten. Harry dagegen staunte. Er konnte kaum glauben, was es alles für Dinge gab. Er hätte hier stundenlang auf Entdeckungstour gehen können. Selbst Dudley war fasziniert, obwohl er Spielwarengeschäfte spannender fand.
Petunia hielt Ausschau nach einem Verkäufer, doch zunächst zeigte sich niemand. Es waren nur wenige andere Kunden im Geschäft und Petunia fand sie alle abstoßend.
Besonders fiel ihr ein kleiner Mann mit einem langen Mantel und einem violetten Zylinder auf. Wie konnte man in der heutigen Zeit nur so rumlaufen!!! Das erinnerte ja fast an diese Sippschaft ihrer Schwester.
Jetzt hatte der kleine Mann sie auch gesehen.
Zielstrebig kam er auf sie zu.
„Wenn das nicht Harry Potter ist! Welche Ehre!“, quiekte er begeistert und verbeugte sich so tief vor Harry, dass er fast mit dem Kopf den Boden berührte.
Petunia blickte ihn wie versteinert an.
„Ich glaube sie irren sich!“, sagte sie schnell und schob Harry und Dudley aus dem Geschäft, ohne etwas zu kaufen.
„Was sollte das?!“, herrschte sie draußen Harry an, „Woher kennst du den Mann?“
Harry sah sie überrascht an: „Ich weiß gar nicht, wer das war, Tante Petunia!“
Aber natürlich glaubte sie ihm nicht. Sie hätte den Einkauf gerne abgebrochen, aber da noch Wichtiges zu besorgen war, ging es mit schlechter Laune weiter.
Dudley bekam neue Kleidung und neue Schuhe und da er herumgejammert hatte, dass sein gegen den Papagei getauschtes Spielzeug kaputt sei, besuchten sie auch noch einen Spielzeugladen.
Dort hatten sie die nächste Begegnung. Die erste Lehrerin der Jungs, Mrs. Stonewalker, kam ihnen zusammen mit einem jungen Mann entgegen.
„Hallo Harry, hallo Dudley, Guten Tag Mrs. Dursley. Was für ein Zufall, Sie hier zu treffen. Harry hast du nicht heute Geburtstag?“
Der Angesprochene nickte.
„Dann seid ihr sicher hier, damit du dir selbst ein Geschenk aussuchen darfst, nicht wahr?“
Doch Harry schüttelte den Kopf.
„Ich bekomme keine Geschenke“, sagte er.
„Das kann ich aber gar nicht glauben!“, sagte Mrs. Stonewalker und blickte zu Mrs. Dursley, die rot anlief.
„Doch, doch, natürlich“, beeilte diese sich zu sagen, „er ist nur nie so richtig zufrieden. Aber wir schauen hier auch nach einem Geschenk für ihn und außerdem bekommt er auch noch Schuhe!“
Der Mann neben Mrs. Stonewalker wollte etwas sagen, doch diese boxte ihm unauffällig in die Rippen und so schwieg er.
„Leider habe ich kein Geschenk für dich, aber ich habe eben ein paar Bleistifte gekauft, da ist Basil, der Mäusedetektiv, drauf, möchtest du einen haben?“
Harry nickte und strahlte. Da Dudley entsetzt dreinblickte, bot sie auch ihm einen an.
„Einen schönen Geburtstag noch, Harry!“ wollte sich die Lehrerin verabschieden, doch Harry griff ihre Hand und hielt sie fest.
„Sind Sie nach den Ferien wieder da? Sie sind doch eigentlich unsere Lehrerin, nicht der Mr. Blue!“
„Tut mir Leid, Harry. Aber durch meine lange Krankheit hat sich das geändert. Ich kann nicht mehr zu euch in die Schule kommen. Aber Mr. Blue ist doch sicher auch ganz nett!“
Harry schaute traurig, doch Dudley sagte: „Der ist viel besser, sagt mein Papa. Nicht so inkorpulent wie Sie!“
Wieder wurde Petunia rot und verabschiedete sich rasch.
Im Spielwarengeschäft wurde nun erst mal ausführlich nach der richtigen Unterhaltung für Dudley gesucht.
Da Petunia ein Geschenk für Harry versprochen hatte, kaufte sie zum Schluss noch ein Päckchen Kaugummi und eine Gummiente.
Als nächstes stand ein Besuch im Supermarkt an. Beim Zusammensuchen der Lebensmittel stellte Petunia fest, dass in dieser Woche gerade Kinderschuhe als Billig-Sonderposten angeboten wurden und so besorgte sie tatsächlich doch noch welche für Harry.
In der Brotabteilung trafen sie auf Mrs. Figg.
„Das ist ja ein netter Zufall, dass wir uns hier treffen“, begrüßte die alte Dame sie, „und die beiden reizenden Jungs sind ja auch dabei! Harry, mein Lieber, hast du nicht heute Geburtstag?“
Wieder nickte Harry.
„Und wie geht es dir so? Hattest du einen schönen Tag?“
Petunia hielt die Luft an, doch zu ihrer Überraschung nickte Harry erneut.
„Ich habe auch noch etwas für dich. Da du nicht mehr so häufig zu mir kommst, gebe ich es dir lieber jetzt, hier - herzlichen Glückwunsch!“
Es war ein kleines Buch mit niedlichen Tierfotos. Bei den Tieren handelte es sich allerdings - natürlich - ausschließlich um Katzen.
Dudley sah sie erwartungsvoll an, aber Mrs. Figg schien den Blick nicht richtig zu deuten.
„Sie sind ´ne doofe alte Schachtel!“, schrie er wütend.
Wieder wechselte Petunias Gesichtsfarbe.
„So etwas sagt man doch nicht, Duddy-Spatz!“ Zu Mrs. Figg gewandt fuhr sie fort: „Es tut mir wirklich Leid! Er ist noch so klein und kann noch nicht richtig verstehen, wieso Harry Geschenke bekommt und er nicht. Aber er hat es nicht so gemeint! Er versteht diese bösen Wörter noch gar nicht richtig!“
Mrs. Figg bekam mal wieder eine Hustenattacke und verabschiedete sich, während Petunia ihren Sprößling damit tröstete, dass sie anschließend noch einen Buchladen aufsuchen könnten.
Beim Besuch des „Lesestübchens“ hatte Petunia allerdings relativ wenig Geduld, da sie immer daran denken musste, wie Butter und Sahne in ihrer Einkaufstasche wohl die hochsommerlichen Temperaturen verkraften würden.
Dudley fand alle Bücher langweilig, bestand jedoch auf dem versprochenen Geschenk. Schließlich bekam er - um eine Szene zu vermeiden - eine Hörspielcassette der Ninja-Turtles aus der entsprechenden Abteilung.
Auf dem Rückweg fuhren sie zwei Stationen mit dem Bus, denn es war eine ziemliche Schlepperei mit den ganzen Einkäufen, die sich Petunia und Harry teilten.
Heute schien Petunias Pechtag zu sein, denn schon wieder trafen sie auf eine merkwürdig gekleidete Person, die Petunia an Lilys Welt erinnerte. Es war eine ältere Frau mit einer wilden Lockenmähne und knallig-grüner Kleidung, die völlig unpassend wirkte. Sie winkte Harry und den beiden Dursleys so freudig zu, dass sich alle Fahrgäste nach ihnen umdrehten. Erneut wäre Petunia am liebsten in den Boden versunken, während Harry die Aufmerksamkeit genoss.
Petunias Laune war nun so im Keller, dass Harry den Abend wieder im Schrank verbringen musste. Trotzdem war er sich sicher, dass heute der beste Geburtstag, an den er sich erinnern konnte, gewesen war. So viele Leute waren freundlich zu ihm gewesen!
Er breitete die Schätze, die er im Lauf des Tages bekommen hatte, vor sich aus: Den Bleistift, die Gummiente, den Kaugummi, das Katzenbuch und die neuen Schuhe. Das Buch von Yvonne legte er noch daneben. So viele Sachen, die allein ihm gehörten!
Drei Sachen davon waren von seiner Tante, vier sogar, wenn man die Schuhe einzeln rechnete. Ob sie ihn wohl doch ein winziges bisschen leiden konnte? Wie es wohl wäre, in diesem Haus zu leben und gemocht zu werden?
Den Kaugummi steckte er schließlich in den Mund. Es schmeckte köstlich und ließ ihn das fehlende Abendessen fast vergessen.
***
Annie Stonewalker hätte dieser Mrs. Dursley am liebsten ordentlich die Meinung gesagt und ihr anschließend den Hals umgedreht, doch Harry zuliebe hielt sie sich zurück. Sie wusste, dass der Ärger sonst nur auf ihn zurückfallen würde.
Trotz Dudleys Bemerkung hatte es ihr eben sehr Leid getan, dass sie nicht mehr zurückkehren würde. Aber nach allem, was sie in diesem Sommer erlebt hatte, angefangen mit dieser Eisdielengeschichte, hatte sie nun ein ganz anderes Leben vor sich. Immerhin schien der Plan zu Harrys Geburtstag aufzugehen. All die Begegnungen waren kein Zufall gewesen.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel