von MIR
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Das Schuljahr ging dem Ende zu und mal wieder stand Dudleys Geburtstag bevor. Neben den üblichen Geschenkebergen hatten die Dursleys sich diesmal etwas ganz Besonderes für ihren Liebling einfallen lassen:
In einer Zeitschrift hatte Petunia gelesen, dass ein Haustier die Entwicklung eines Kindes positiv beeinflussen würde.
Einen Hund konnte sich die reinliche Hausfrau nicht vorstellen, wenn sie an die Besuche von Marge dachte.
Auch eine Katze oder ein anderes Tier, das durch ihre Wohnung laufen und Haare verteilen würde, lehnte sie ab.
Gemeinsam kamen die Eltern schließlich zu dem Ergebnis, dass ein teurer Papagei, mit dem man auch die Nachbarn beeindrucken konnte, genau das Richtige wäre. Er konnte schön im Käfig bleiben und außerdem hätte Dudley Unterhaltung.
Zwar hatte Petunia auch hier ein mulmiges Gefühl, denn so ein großer Vogel weckte Erinnerungen an die Eulen, die bei ihrer Schwester ein und aus geflogen waren, und an den Eulenbesuch vor fünf Jahren, aber Vernon tröstete sie und überzeugte sie, dass Papageien viel edlere Geschöpfe seien, die mit solchem Federvieh nichts gemeinsam hätten.
Der Papagei wurde also angeschafft und Dudley zusammen mit den anderen Geschenken präsentiert.
„Was soll ich denn damit?“, war die ungnädige Reaktion des Sohnemanns.
„Schatz, das ist ein Papagei! Ist er nicht wunderbar? Du kannst ihm Sprechen beibringen und dich um ihn kümmern“, antwortete Petunia.
„Kümmern?“ Dudley wurde hellhörig. „Was heißt das denn?“
„Nun mein Großer, du sorgst dafür, dass er immer genug zu fressen hat und dass sein Käfig sauber ist und...“, begann Vernon zu erklären.
Aber mehr wollte Dudley gar nicht hören. „ICH SOLL DAS MACHEN?!
SAUBERMACHEN UND SO? WARUM? ICH HABE DOCH GEBURTSTAG, UND DA WOLLT IHR MICH BESTRAFEN?“
Dudley begann zu weinen.
„Beruhige dich, mein kleiner Schatz!“, Petunia nahm Dudley besorgt in den Arm, „Nein, natürlich kümmert sich Mami darum. Du sollst nur ein bisschen Spaß mit deinem neuen Kameraden haben.“
Harry beobachtete die Szene amüsiert, während er den Fußboden kehrte.
„Was gibt`s da zu grinsen?“, herrschte Vernon ihn an, „Mach gefälligst weiter!“
Dudley versuchte nun, sich mit dem neuen Haustier zu unterhalten: „He du, sag mal hallo!“
Der Vogel flatterte aufgeregt mit den Flügeln, als Dudley an den Käfigstangen rüttelte, aber ein „Hallo“ kam natürlich nicht zurück.
„Der ist doof! Der kann ja gar nicht sprechen!“
„Ein bisschen mehr Geduld musst du schon haben!“, versuchte Vernon seinen enttäuschten Spross zu besänftigen.
Aber Dudley hatte das Interesse an seinen Geschenk schon verloren.
„Wie sollen wir ihn denn nennen?“ Petunia machte einen Versuch, die Aufmerksamkeit wieder auf das Tier zu lenken.
Dudley zuckte die Schultern: „Egal. Doofmann vielleicht“
„Nicht solche Wörter!“, brummte Vernon ärgerlich.
„Liebling, das meinst du doch nicht ernst! Schau mal, der Papagei will doch einen schönen Namen haben. Was hältst du von Diddy?“, schlug Petunia vor, „Duddy und Diddy - ist das nicht schön? Und dann gibt es ja auch noch Daddy!“
„Sollte ein Papagei nicht einen ehrwürdigeren Namen haben?“, mischte sich „Daddy“ nun ein, „Wie wäre es mit Sir Douglas? Dann könnt ihr ihn immer noch mit Diddy anreden?“
„Oh ja! Das ist doch ein wunderbarer Vorschlag, nicht wahr, Duddylein?“
Aber der Vogelbesitzer hatte sich inzwischen längst seinen anderen Geschenken zugewandt. Gerade packte er einen Modell-Bausatz eines Atomkraftwerkes aus, mit dem man den Tschernobyl-Unfall nachspielen konnte.
Da am Nachmittag keine Kinder-Party zu Hause geplant war - Petunia hatte die Spielerei mit dem Essen noch in heftiger Erinnerung - sondern ein Ausflug, musste Harry mal wieder zu Mrs. Figg.
Fast ein ganzes Jahr war er nicht mehr dort gewesen, denn Petunia brauchte die Betreuung nicht mehr seit die Schule begonnen hatte. Eigentlich hätte er die Zeit nach der Schule viel lieber mit Jonny verbracht, aber das erlaubten weder die Dursleys noch die Eltern seines Freundes.
Die alte Dame bewirtete ihn mit einem Tee, der sehr bitter schmeckte und fragte ihn nach der Schule.
Harry erzählte artig von Mrs. Stonewalker und Mr. Blue und auch von Jonny. Den schrecklichen Tag mit Mrs. Travers ließ er aus.
Mrs. Figg wusste natürlich über diese Sache Bescheid, aber sie beschloss, Harry lieber nicht darauf anzusprechen.
„Und heute ist Dudleys Geburtstag. Da hat er ganz, ganz viel geschenkt gekriegt!“ Harry zählte nun akribisch jedes einzelne Geschenk seines Cousins auf. Er vergaß nichts und beschrieb alle Einzelheiten und jede Funktion. Am meisten aber erzählte er über Sir Douglas, den Papagei.
Mrs. Figg bemerkte die Sehnsucht in seiner Stimme und überlegte, ob sie ihm die Eule Eusebia auf dem Dachboden zeigen sollte.
Sie entschied sich dagegen. Zu groß war die Gefahr, dass Harrys Tante es irgendwie erfahren und die Verbindung zur Zaubererwelt erkennen würde.
Statt dessen erzählte sie dem kleinen Besucher ausgiebig von ihren anderen Haustieren, den Katzen.
Nachdem sie einmal ins Schwärmen gekommen war, konnte sie gar nicht wieder aufhören, endlich einmal all die vielen Erlebnisse mit jemandem zu teilen. Die Zeit verflog im Nu - für Mrs. Figg.
Für Harry dagegen schien sie nur so vor sich hinzukriechen. Am Anfang hatte er noch interessiert gelauscht, aber bald konnte er sich kaum noch auf den Wortschwall konzentrieren.
Schließlich war er richtig erleichtert, als die Dursleys ihn wieder abholten.
Erst jetzt wurde Arabella bewusst, dass der Nachmittag für Harry kein Vergnügen gewesen war.
„Tut mir Leid, Harry“, flüsterte sie, während sie ihm nachblickte, „Aber wahrscheinlich ist es besser so!“ Betrübt ging sie ins Wohnzimmer und dachte darüber nach, dass nun wohl wieder ein Jahr bis zum nächsten Beisammensein vergehen würde.
Die Situation zwischen Duddy und Diddy spitzte sich zu, als Dudley beobachtete, wie der Vogel etwas auf den Käfigboden fallen ließ.
„Igitt!!! Das stinkt!“, schrie der Junge und wollte sich nicht mehr im gleichen Raum aufhalten.
Der Käfig konnte also nicht mehr im Wohnzimmer bleiben und kam erst recht nicht in Dudleys Zimmer.
Harry hätte ihn gerne bei sich gehabt, aber er sah ein, dass sein Bereich unter der Treppe zu klein und zu dunkel für das Tier war.
Also kam Sir Diddy-Douglas erst einmal in Dudleys zweiten Raum.
Die Einsamkeit gefiel dem Papagei nicht und daher hämmerte er immer wieder gegen die Stäbe und krächzte laut.
Bereits einen Tag später war keiner der Dursleys mehr gut auf den tierischen Mitbewohner zu sprechen. Nur Harry tat der Vogel Leid. Er hätte ihm gerne Gesellschaft geleistet, aber es war ihm streng verboten, die Treppe nach oben zu gehen. Nur zum Putzen unter Petunias Aufsicht durfte er die Räume des ersten Stocks betreten.
Vernon und Petunia berieten heimlich schon, wie sie den lauten Störenfried wieder loswerden könnten, ohne Dudley zu kränken.
Daher waren sie richtig erleichtert, als Dudley einen weiteren Tag später heimkam und begeistert erzählte, er habe den Vogel bei Malcolm gegen ein ganz tolles Spielzeug eingetauscht.
Dass es sich dabei um ein echtes Luftgewehr handelte, das Malcolms Bruder aus dem Waffenschrank seines Vaters stibitzt hatte, verschwieg er. Vernon und Petunia fragten auch nicht weiter nach.
Wenig später kam Malcolm vorbei, um Sir Douglas abzuholen.
Endlich kehrte Ruhe im Haus ein - für kurze Zeit, denn plötzlich drangen laute Knallgeräusche und Klirren aus dem Kinderzimmer.
Petunia war gerade dabei, im Garten die welken Blätter von den Geranien und Petunien zu entfernen.
Sie stand sofort auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab und lief nach oben.
Doch Harry war schneller. Auch er war erschrocken und rannte, ohne das Verbot zu beachten, die Treppe hinauf.
Als er die Tür zu Dudleys Zimmer öffnete, starrte er in den Lauf des Gewehres.
„Keine Bewegung! Hände hoch oder es knallt!“, rezitierte Dudley.
„Nein!“, sagte Harry und machte einen Schritt auf seinen Cousin zu.
In diesen Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Ein Schuss löste sich und Harry sprang so schnell zur Seite, dass er sich es selbst kaum erklären konnte. Der Spiegel im Flur, gegenüber von Dudleys Zimmertür, zerbrach. Der Schütze ließ das Gewehr erschrocken auf seine Plüschtiersammlung fallen und Petunia stürzte leichenblass heran.
„Was ist hier los?!“, kreischte sie hysterisch.
„Nichts“, erwiderte Dudley schnell und ließ sich ebenfalls auf den Plüschtieren nieder, um das Gewehr zu verbergen, „Außer, dass der da einfach hochgekommen ist!“
Petunia starrte Harry an. Sie starrte den Spiegel an und alle Dinge, die im Kinderzimmer zu Bruch gegangen waren.
„Du... du... bist ein Monster! Wie kannst du es wagen, Dudley und uns so etwas anzutun! Wie kannst du nur!“
Schluchzend zerrte sie Harry nach unten und sperrte ihn ohne weiteren Kommentar in den Schrank.
Als Vernon heimkam und von der Sache erfuhr, tobte er. Er zog Harry wieder aus dem Schrank, um ihm rechts und links eine zu verpassen und schubste ihn dann wieder hinein mit den Worten: „Da bleibst du, bis dir eingefallen ist, wie man sich benimmt!“
Harry durfte in den letzten Schultagen die Schule nicht mehr besuchen - offiziell war er krank. Drei Tage lang durfte er den Schrank überhaupt nicht verlassen, er bekam einen Nachttopf, der einmal am Tag geleert wurde und einmal am Tag gab es ein Toast-Dreieck und Wasser.
So schlimm war es Harry noch nie ergangen. Selbst der Tag mit Mrs. Travers erschien Harry im Nachhinein nicht so schrecklich wie die Zeit in dieser kleinen Kammer mit röhrendem Hunger und einem stinkenden Nachttopf.
Der Gedanke, dass er sich nun nicht mehr von Jonny verabschieden konnte, machte ihn zusätzlich traurig.
Harrys Zeugnis wurde mit der Post geschickt. Obwohl es gut war, interessierte es niemanden.
Fast niemanden.
Am ersten Ferientag klingelte es überraschend an der Haustür.
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