von MIR
*
Mrs. Travers kam langsam auf Harry zu. Sie war allein. Niemand hatte sie unterstützen wollen. Die wenigen Bekannten, die sie ins Vertrauen gezogen hatte, hatten Angst und sahen keinen Grund, jetzt noch - über vier Jahre nach dem Verschwinden des dunklen Lords - Askaban zu riskieren.
Eigentlich hatte sie ja die Stellung angenommen, um sich in der Schule an Harry rächen zu können, aber die Gelegenheit hier war günstig.
Harry stand auf und sah, wie seine Lehrerin immer näher und näher kam. Er ließ den Drücker los und die Flamme ging aus: Mrs. Travers konnte ruhig verschwinden.
Aber genau das passierte nicht. Anscheinend hatte ihr Erscheinen gar nichts mit dem Feuerzeug zu tun.
Hatten Onkel und Tante sie vielleicht informiert, dass er nicht nach Hause gekommen war, und sie wollte beim Suchen helfen?
Dann würde sie jetzt bestimmt schimpfen, weil er abgehauen war.
Sie hatte ihn nun fast erreicht und zückte diesen Holzstab, den sie immer verwendete, seit der Tafelstock zerbrochen war. Ob sie ihn wieder schlagen wollte?
Wenn er jetzt davon laufen würde, wäre er wahrscheinlich schneller als sie, doch er hatte keine Angst! Dafür war er schon zu oft geschlagen worden. Außerdem wollte er wissen, was es mit dem Namen James auf sich hatte.
„Tut mir Leid, dass ich weggelaufen bin“, sprach Harry Mrs. Travers an, „aber es ist nichts passiert! Ich habe auch immer gut auf die Autos aufgepasst und an der Ampel habe ich auch alles richtig gemacht!“
„Autos? Ampel?“ Mrs. Travers ließ verwirrt den Stab sinken.
„Aber ich musste ganz viel nachdenken, weil Sie das mit meinem Namen gesagt haben. Ich habe wirklich nicht gewusst, dass ich auch noch James heiße. Warum heiße ich James? Hat das was mit meinem ... Papa zu tun?“
Die Lehrerin war noch immer ein wenig überrumpelt, aber nach der Erwähnung von James, kam ihre schlechte Laune wieder hoch:
„Was soll denn die Frage jetzt? Wenn der Vater James heißt und der Sohn auch, dann hängt das natürlich zusammen. So blöd kann man doch gar nicht sein!“
„Mein Papa hieß wirklich James?“, fragte Harry ganz aufgeregt.
„Sie werden dir ja wohl genug Geschichten eingetrichtert haben, was der ‚liebe‘ James Potter angeblich für ein Held war! Doch in Wahrheit war er ein mieses Schwein! Das solltest du wissen, wenn du versuchst, ihn mit dieser Brille nachzuäffen.“
Mrs. Travers geriet nun richtig in Wut und erinnerte sich auch wieder, warum sie hergekommen war.
„Aber ich werde dem Ganzen nun ein Ende setzen!“ Sie hob den Zauberstab erneut.
Harry steckte vorsorglich seine Hände in die Hosentaschen, aber er lief nicht weg.
„Crucio!“, rief sie aufgebracht.
Harry kam es vor, als würde etwas auf ihn zufliegen und abprallen. Im nächsten Moment lag Mrs. Travers auf der Ende und wand sich vor Schmerzen. Sie schrie und schrie.
Jetzt bekam Harry doch Angst und begann zu weinen. Was sollte er nur tun? Und wie war das plötzlich passiert?
Hilflos sah er mit an, wie sich seine Lehrerin auf dem Boden krümmte und dann, nach einer halben Ewigkeit, erschöpft liegen blieb.
Er hörte, wie jemand angerannt kam.
„Was ist hier los, Harry?“, fragte eine vertraute Stimme. „Was hast du schon wieder angestellt? Die arme Frau!“
„Tante Petunia!“ Harry warf sich schluchzend in ihre Arme. Es war ihm egal, ob sie böse auf ihn war, Hauptsache, sie war da.
„Ich ... weiß nicht, ... was los ist ... ich ... ich ... hab ... nichts gemacht, ehrlich! Es ist ganz plötzlich ... passiert ... einfach so!“
„Wir müssen jetzt erst mal einen Krankenwagen holen. Aber erzähl mir nicht, dass du nichts gemacht hast! Kennst du die Frau?“
Harry nickte beklommen.
„Und? Würdest du mir dann auch verraten, wer sie ist?“
„Meine neue Lehrerin, Mrs. Travers“, antwortete Harry kleinlaut.
„Die Lehrerin, mit der du heute morgen so viel Ärger hattest? Und du willst mir erzählen, dass du nichts gemacht hast? Darüber sprechen wir noch!“
Nachdem die immer noch bewusstlose Frau nach viel Aufregung auf dem Friedhof von zwei Sanitätern abtransportiert worden war, machten sich Tante und Neffe auf den Heimweg.
Harry war zwar mulmig zumute, wenn er an die Standpauke dachte, die ihm bevorstand, aber eines musste er unbedingt wissen:
„Wie hast du mich plötzlich auf dem Friedhof gefunden, Tante Petunia? Auf einmal warst du da!“
„Meinst du etwa, ich lasse zu, dass dich hier noch mal jemand vor mir findet? Und ich mir dann wieder Geschichten von der Polizei anhören muss? Anscheinend ist das hier ja ein beliebtes Ausreißer-Ziel für dich!“
Harry staunte! Dass Tante Petunia noch wusste, dass er schon mal hierhin gelaufen war! Dabei war das doch sooo lange her, dass er sich selbst fast nicht mehr daran erinnern konnte!
Den Rest des Heimwegs schwiegen die beiden.
Petunia hatte vor allem mit der Bemerkung eines Sanitäters zu kämpfen, der den Anfall von Mrs. Travers für unerklärlich hielt. Nachdem er dann noch gehört hatte, dass sie Lehrerin an der Schule vor Ort war, hatte er im Spaß geäußert, dass die Schule wohl verhext sei, weil dies schon der zweite rätselhafte Fall innerhalb weniger Tage sei.
Diese Formulierung ließ bei Petunia Panik aufsteigen. Was, wenn Harrys Kräfte noch gefährlicher waren, als sie und Vernon befürchtet hatten? Zwei Lehrerinnen waren auf seltsame Weise ausgeschaltet und sie hatte ja eben selbst gesehen, dass Harry sehr wohl irgendetwas damit zu tun hatte.
Vernon würde ausrasten, wenn er es erfuhr - zu Recht! Trotzdem beschloss Petunia ihn erst mal nichts davon zu sagen.
Harry hatte sehr unterschiedliche Gefühle, was Mrs. Travers betraf. Einerseits tat sie ihm natürlich Leid, nach dem was geschehen war. Andererseits war er irgendwie erleichtert, ja fast froh gewesen, dass der Anfall genau in dem Moment passierte, als sie so unfreundlich zu ihm war. Aber das war doch nicht richtig? Man durfte sich doch nicht freuen, wenn es jemand anderem schlecht ging?
Harry kämpfte mit sich und schließlich überwog sein Mitgefühl. Das, was Mrs. Travers passiert war, war viel schlimmer als geschlagen zu werden. Sie hatte richtig dolle Schmerzen gehabt!
Vorher hatte sie noch einiges gesagt, das Harry ebenfalls zu denken gab. Sein Papa hieß wirklich James und zumindest manche Leute hielten ihn für einen Helden! Und außerdem hatte er auch eine Brille gehabt! Eine, die so ähnlich aussah wie seine.
Harry nahm das Gestell wieder von der Nase und betrachtete es beim Gehen.
„Setz die Brille gefälligst wieder auf!“, kam es von Petunia, bevor sie wieder ihren eigenen Gedanken nachhing.
Doch Harry musste das Modell noch eine Weile anschauen. So hässlich war es eigentlich gar nicht. Genaugenommen sah es doch ganz gut aus! Egal, was Dudley sagte! Der war ja auch nicht gerade hübsch!
Von jetzt an würde er die Brille immer aufsetzen und dabei an seinen Papa denken.
***
Mrs. Travers kam im Krankenhaus bald wieder zu sich. Der zurückgeworfene Fluch war stärker gewesen als ein gewöhnlicher, daher war sie noch eine Weile ohnmächtig gewesen, bevor die Wirkung nachließ.
Nur wenig später erschienen zwei angebliche Verwandte, um sie abzuholen. Dabei handelte es sich in Wirklichkeit um Auroren, die gekommen waren, um sie nach Askaban zu begleiten.
Wie die Täterin selbst schon befürchtet hatte, war der unverzeihliche Fluch vom Ministerium bemerkt worden und nach einigen Formalitäten waren dann auch Auroren ausgeschickt worden.
***
Auch im Schulleiterbüro von Hogwarts war der Vorfall nun Gesprächsthema.
„Ich bin überrascht, dass Sie nicht früher etwas gegen diese Frau unternommen haben, Sir. Der Junge war in durchaus ernstzunehmender Gefahr!“
Der Schulleiter lehnte sich freundlich lächelnd zurück und sah seinen Zaubertränkelehrer an. „Der Junge war in überhaupt keiner Gefahr, Severus. Deshalb habe ich ihm ja dort untergebracht. Und er hat sich auch ohne unsere Hilfe gut geschlagen.“
„Er hat sich in keinster Weise ‚gut geschlagen‘! Er hatte einfach nur massives Glück! Ich fand es wie gesagt sehr leichtfertig, sich darauf zu verlassen, dass diese Muggelperson, die ich von früher kenne, irgendetwas mit Lily gemeinsam hat!“
„Nicht irgendetwas, Severus. Das Blut. Es ist das gleiche Blut, das in ihren Adern fließt. Und es hat funktioniert.“
„Entzückend! Und wenn diese Person einen so wunderbaren Schutz zu bieten hat, den kein Zauberer übertreffen kann, wozu brauchen Sie mich dann überhaupt, Sir? Und warum musste ich vor drei Jahren mit Werwölfen und anderen Figuren durch die Gegend ziehen, um den Jungen zu finden und zu schützen?“
„Nun es hat Ihnen selbst ganz gut getan, Severus. Und Sie ein bisschen mit den Umständen vertraut gemacht. Außerdem können einem kleinen Kind auch von Muggeln große Gefahren drohen.“
Dumbledores Gedanken schweiften zu Ariana ab, doch er ließ sich nichts anmerken.
„Der Schutzzauber wirkt nur gegen die unverzeihlichen Flüche.
Und dann wird der Junge eines Tages nach Hogwarts kommen. Hier wird er zu weit von seiner Tante entfernt sein und anderen Schutz brauchen.“
„Wunderbar. Ich freue mich schon sehr darauf!“, sagte der Zaubertränkelehrer spöttisch und verließ den Raum.
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