von MIR
Petunia wollte sich gar nicht ausmalen, was die neue Familie Evans jetzt von ihnen halten würde. Harrys Auftritt hatte sicher keinen guten Eindruck hinterlassen. Dabei hatte Petunia sich darauf gefreut, endlich mal eine Familie kennen zu lernen, die nichts von all den peinlichen Aktionen der letzten Jahre wusste. Evans – der Name hatte auch bei ihr Hoffnungen geweckt, auch wenn sie im Gegensatz zu Harry wusste, dass es keine Verwandten waren. Die waren alle tot. Die einzigen Verwandten, die sie noch hatte, waren Dudley und Harry. Vielleicht konnte sie die Situation noch retten, indem sie den Evans klarmachte, dass Harry eben ein geistig zurückgebliebenes Kind war und dass die Dursleys nichts dafür konnten.
„Was hast du dir dabei gedacht?“, fuhr sie jetzt Harry an, „Wie kommst du dazu, dich einfach aus dem Haus zu schleichen und bei fremden Leuten zu klingeln?“
Harry war völlig überrascht von den Stimmungsumschwung. Hätte er bloß nichts gesagt! „Ich habe doch nur gedacht …weil … Evans … Ihr sagt mir ja sonst nie was über Mama und Papa!“
„Jetzt werd' nicht noch frech!“, giftete Petunia, „Vernon hatte doch recht...“
Wütende Schimpftiraden prasselten nun auf Harry nieder.
Doch Harry hörte gar nicht richtig hin. Er musste immer an das denken, was Petunia ihm vorher über seine Mutter erzählt hatte.
Er war geliebt worden. Er war ihr wichtig gewesen. Und die Evans hier waren gar keine Verwandten.
Petunia wetterte immer weiter und als sie inne hielt, um zu fragen „Hörst du mir überhaupt zu?“, war er mit einem Lächeln auf dem Gesicht längst wieder eingeschlafen.
***
So schnell das Fieber gekommen war, so schnell war es auch wieder weg. Bereits am nächsten Tag konnte Harry die Schule wieder besuchen.
Mrs. Stonewalker hatte auch heute Sätze an die Tafel geschrieben.
Diesmal musste es klappen! Harry wollte ihr beweisen, dass er keine Angst hatte und auch richtig lesen konnte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, das Geschriebene zu entziffern. Es war nicht leicht, aber schließlich war er sich sicher, die Wörter herausbekommen zu haben und meldete sich.
Mrs. Stonewalker sah seinen zuversichtlichen Blick und hoffte, dass er es schaffen würde, den Satz „Momo ist ein Esel“ vorzulesen.
Doch bereits nach dem ersten Wort wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, Harry dran zu nehmen.
Er las: „Mama … ist … ein … Esel.“
Einzelne Kinder begannen zu kichern und schließlich lachte die ganze Klasse.
Die Lehrerin sorgte schnell für Ruhe und holte Harry nach vorne: „Schau dir das erste Wort noch mal genauer an!“, sagte sie freundlich.
Aber schon auf dem Weg zur Tafel war es Harry aufgefallen: „Da steht ja Momo! Das hat eben wie Mama ausgesehen. Komisch!“
Mrs. Stonewalker stutzte und dann fiel bei ihr endlich der Groschen. Natürlich! Die Erklärung war so einfach.
Als die anderen Kinder alle mit Arbeitsaufträgen beschäftigt waren, machte sie mit Harry ein paar einfache spontane Sehtests, die mehr als deutlich zeigten, dass Harry eine Brille brauchte.
Sie beschloss, schnell mit den Dursleys zu reden, und gab Harry einen Zettel mit, auf dem sie die beiden in die Schule bestellte.
In der Pause wartete natürlich schon eine Menge Gespött auf Harry. „Deine Mama ist ein Esel! Deine Mama ist ein Esel!“, riefen vor allem Dudley und seine Freunde immer wieder.
Die meisten anderen kicherten nur ein bisschen und hielten sich raus.
Harry biss die Lippen zusammen. Mehr als jemals zuvor in seinem Leben wünschte er sich, dass plötzlich eine strahlend schöne Mama hier auftauchen würde und ihn vor allen anderen in den Arm nehmen würde. Er stellte sich vor, wie ihre Münder dann vor Erstaunen und Neid offen stehen würden.
Aber es würde keine Mama kommen und ihn retten. Keine hübsche und auch keine hässliche. Noch nicht mal eine, die ein Esel war. Gar keine. Sie war tot.
Er musste es allein schaffen.
Nach der Schule war er immer noch aufgewühlt. Der Gedanke, wie seine Mutter wohl ausgesehen hatte, ließ ihn nicht mehr los. Aber es war aussichtslos Tante oder Onkel danach zu fragen. Vor allem heute. Sie hatten nämlich getobt, als sie die Nachricht der Lehrerin erhielten und unterstellten Harry jede Art von kriminellen Machenschaften.
Also saß er hier in seinem Schrank. In Sicherheit. Onkel Vernon kam niemals hier herein und Harry würde auch nicht herauskommen. Er hatte nichts falsch gemacht, das wusste er genau. Also durfte Onkel Vernon ihm auch nichts tun!
Wenn er bloß jemanden fragen könnte, wie seine Mutter ausgesehen hatte. Oder sein Vater. Aber niemand außer Tante Petunia hatte sie gekannt. Auch Fotos schien es keine zu geben.
Wahrscheinlich war damals der Fotoapparat noch gar nicht erfunden. Er hatte mal gehört, dass früher alles anders war. Da gab es Dinosaurier und Ritter.
Allerdings hatte er mal Fotos von Vernon und Marge als Kinder gesehen.
Onkel Vernon sah da fast aus wie Dudley und Tante Marge auch, nur etwas dicker.
Ob seine Mama wohl ein bisschen aussah wie er? Ob sie auch schwarze Haare hatte, die man nicht richtig kämmen konnte? Oder sah sie mehr wie Tante Petunia aus? Wenn es doch bloß ein Foto gäbe!
Zwei Tage später stiefelten Vernon und Petunia ärgerlich zu dem anberaumten Treffen mit Mrs. Stonewalker.
Insgeheim befürchteten Sie, irgendwelche Berichte über rätselhafte Vorkommnisse zu hören, die man nur mit Zauberei erklären konnte. Die Mitteilung, dass Harry eine Brille brauche, überraschte sie. Begeistert waren sie davon nicht.
„Wir werden es uns überlegen“, sagte Vernon kurz angebunden.
„Entschuldigung, aber ich glaube nicht, dass es da viel zu überlegen gibt“, warf Mrs Stonewalker ein, „Harry braucht die Brille unbedingt!“
„Das lassen Sie mal unsere Sorge sein!“, gab Vernon ärgerlich zurück, „Wir sind für Harry verantwortlich.
Und da wir nun schon einmal hier sind, können Sie uns sicher auch etwas über Dudley erzählen!“, wechselte er das Thema.
„Ähm, ja natürlich, Sie haben Recht. Ich habe Sie zwar nicht seinetwegen herbestellt, aber warum nicht?
Nun, Dudley ist eines meiner Problemkinder. Sie wissen sicher, dass ...“
Weiter kam sie nicht.
Tante Petunia, die Lobeshymnen erwartet hatte, erstarrte und wurde blass. Onkel Vernon aber lief rot-lila an und schrie wutschnaubend: „PROBLEMKIND?!!! UNSER DUDLEY – EIN PROBLEMKIND?!!! Was erlauben Sie sich?! Sie haben wohl selbst ein Problem?! Und bald haben Sie noch eins! Ich werde mit dem Direktor über diese Beleidigung sprechen!
Komm, Petunia!“
Ohne weiteren Abschied wandten sich die Dursleys zum Gehen.
Leider verlief das Gespräch mit dem Direktor einige Tage später nicht nach Vernons Wünschen. Der Schulleiter beteuerte, dass Mrs. Stonewalker eine gute Lehrkraft sei, auf die die Schule nicht verzichten könne und dass es sich sicher um ein Missverständnis gehandelt habe. Außerdem forderte er die Dursleys ebenfalls auf, sich um eine Brille für Harry zu kümmern.
So kam es, dass Harry in diesem Jahr ein Weihnachtsgeschenk erhielt: Nach Besuchen beim Augenarzt und Optiker hatten die Dursleys das billigste Ladenhütermodell ausgesucht – eine Brille mit völlig unmodernen großen runden Gläsern. Harry hätte auf dieses Geschenk lieber verzichtet und dachte voller Sorge an den ersten Schultag nach den Ferien.
Aber nach den Ferien kam alles ganz anders. Schlimmer.
Obwohl Vernon beim Direktor nichts erreicht hatte, war Mrs. Stonewalker nicht mehr da. Sie war ganz plötzlich dauerhaft erkrankt. Niemand wusste Genaueres und die Kinder erhielten eine Ersatzlehrerin, die neu an der Schule war: Eine ältere Dame mit dem Namen Mrs. Travers.
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