von MIR
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In den nächsten Wochen und Monaten änderte sich nichts Wesentliches an der Situation. Es war immer dasselbe: Dudley wurde verwöhnt und verhätschelt und Harry immer wieder - meistens zu Unrecht - bestraft. Er wurde geschlagen, in den Schrank gesperrt und bekam wenig zu essen. Wenn irgend etwas nicht so lief, wie es sollte im Hause Dursley, wurde die Schuld grundsätzlich auf Harry geschoben.
Auch Dudley lernte schnell, dass er bei jedem Streit Recht bekam und getröstet wurde und dass es okay war, auf Harry einzuschlagen. Und er lernte es mit Begeisterung.
Harry dagegen lernte, dass er wertlos war. Wertlos und unerwünscht, eine Last für die Familie, die ihn beherbergte.
Er lernte, dass sein Schrank ein sicherer Ort war, die einzige Möglichkeit, Vernon oder Dudley zu entkommen. Manchmal, in ganz seltenen Fällen kamen ihm aber auch seine unbewussten Zauberkräfte zur Hilfe, so wie an Weihnachten.
Petunia hielt ihn in dieser Zeit von Mrs. Figg fern, um nicht noch einmal so ein Desaster wie im Dezember zu erleben. Seltsamerweise schien auch Mrs. Figg gar nicht mehr so erpicht auf einen Kontakt wie vor Harrys Besuch. Wenn Petunia ihr dennoch begegnete, grüßte sie freundlich, doch es folgte keine Einladung. Petunia war dies nur recht bis schließlich Dudleys 2. Geburtstag bevorstand.
Sie hatte nämlich eine Nachbarin eingeladen, Mrs. Polkiss, die einen Sohn etwa im gleichen Alter wie Dudley hatte. Es war ein gemeinsamer Ausflug geplant und da Vernon den Wagen fahren musste, blieb kein Platz für Harry. Außerdem befürchteten die Dursleys, dass er die schöne Fahrt verderben würde.
Bei der nächsten Begegnung mit Mrs. Figg war es daher Petunia, die das Thema Betreuung von Harry anschnitt.
„Wissen Sie", antwortete Mrs Figg zögernd, „als ich ihnen das letzte Mal angeboten habe, auf ihren Neffen aufzupassen, habe ich nicht geahnt, wie schwierig er ist. Denken Sie nur daran, was er hier damals für eine Szene veranstaltet hat - völlig zu Unrecht! Ich bewundere Sie wirklich, dass sie so gut mit ihm klarkommen." Mrs. Figg musste sich zusammenreißen, damit Petunia ihr die Lüge nicht anmerkte. „Aber ich schaffe das nicht! Vielleicht könnte ich Ihnen ja auch helfen, wenn ich statt dessen mal auf Ihren niedlichen Blondschopf aufpassen würde?"
Das war nun nicht gerade die Antwort, die Petunia sich erhofft hatte, obwohl sie sich von dem Lob geschmeichelt fühlte, und so erwiderte sie:
„Ach, wissen Sie, sooo schwierig ist es ja auch nicht immer, mit Harry klarzukommen. Wenn er sich nicht benimmt, sperre ich ihn eine Weile ein - anders geht es leider nicht - und dann habe ich schon eine Zeit lang Ruhe..." Mrs. Figg unterdrückte eine wütende Antwort, während Petunia fortfuhr: „Das könnten Sie ja im Prinzip auch so machen. Es ist nämlich so, dass ich unbedingt jemanden für Harry und nicht für Dudley brauche, weil es um Duddys Geburtstag geht. Da wollen wir ihn einmal so richtig verwöhnen und nur für unsern Sohn da sein. Er soll sich nicht immer wegen Harry vernachlässigt fühlen. Außerdem wollen wir zusammen mit seinem Geburtstagsgast einen schönen Ausflug machen und das soll ihm nicht von Harry zerstört werden!"
Mrs. Figg brauchte eine Weile, um ihre Sprache wieder zu finden. Sie nahm sich vor, mal ein Wörtchen mit Albus zu reden. Schließlich konnte sie sich überwinden zu sagen: „Gut, dann werde ich es Dudley zuliebe noch einmal versuchen. Ich helfe gerne."
Dudleys Geburtstag begann natürlich mit einer riesigen Geschenkeorgie und einem üppigen Frühstück. Vernon hatte sich für diesen Tag extra freigenommen.
Gegen 9.30 Uhr brachte Petunia Harry zu Mrs. Figg, da um 10.00 Uhr Mrs. Polkiss mit ihrem Sohn Piers eintreffen wollte.
Mrs: Figg hatte sich diesmal gut auf den Besuch vorbereitet. Die zutraulichen Kätzchen, Putty, Butterfly und Bumblebee, mit denen Harry das letzte Mal gespielt hatte, mussten diesmal draußen im Garten bleiben, nur Tibbles und Hudson, die recht eigenwillig waren und Menschen nicht mochten, sowie der scheue Spider blieben im Wohnzimmer.
Obwohl der erste Besuch nun schon ein halbes Jahr her war und Harry sich sicher nicht mehr richtig daran erinnern konnte, versuchte er gleich auf die Katzen zuzugehen, um mit ihnen zu spielen.
Doch er hatte die Rechnung ohne die drei gemacht. Seinen Aufruf „Komm Katze, komm Katze!", ignorierten sie völlig. Spider war sofort hinter dem Sofa verschwunden, während Tibbles und Hudson mit erhobenem Schwanz durch das Zimmer spazierten. „Harry Katze spielen!", rief Harry und versuchte Hudson zu fangen. Dieser blieb schließlich stehen und fauchte seinen Verfolger an. Harry streckte die Hand nach dem Kater aus und - wusch! - schon hatte der Junge Kratzspuren auf dem Arm.
Während Hudson sich empört abwandte, begann Harry zu weinen. Er lief zu Mrs. Figg. „Katze aua tut!", erzählte er und zeigte die Verletzung. Die alte Dame tröstete ihn und so hatte er sich schnell wieder beruhigt.
Seine Begeisterung für die Katzen war allerdings merklich abgekühlt und er suchte nun nach einer anderen Beschäftigung. Da Mrs. Figg überhaupt kein geeignetes Kinderspielzeug besaß, begann er, die Schubladen zu öffnen und alles auszuräumen. Er förderte so einiges zu Tage: alte Fotos, eine Muschelsammlung, vertrocknete Kekse, die mindestens fünf Jahre alt waren, einen Zauberstab aus Buche, ein vergilbtes Kartenspiel und viele andere Kleinigkeiten. Mrs Figg versuchte alles wieder einzuräumen, doch Harry war schneller und die Unordnung wuchs. Zuerst nahm die Besitzerin es noch gelassen, aber als er schließlich beim Porzellan angekommen war und einen wunderschönen Motivteller auf die Erde warf, sodass dieser zerbrach, begann sie sich zu ärgern.
„Hör auf, Harry!", bat sie den Kleinen. Doch dieser ließ sich nicht beirren und schmiss gerade eine Tasse zu Boden.
„Nein, Harry! Hör auf!", rief Mrs. Figg noch einmal. Langsam fragte sie sich, ob sie Mrs. Dursley nicht doch Unrecht getan hatte. Es war nicht so einfach mit diesem Kind!
„Klirr!" Erneut gab es Scherben.
„Harry, das ist nicht lieb! Lass das!"
Tatsächlich hielt Harry nun inne und sah seine Gastgeberin an. „Harry nicht lieb", wiederholte er, „Harry böse. Duddy lieb!"
Erschrocken starrte Mrs. Figg ihn an. Wie konnte man einem Kind so etwas beibringen! Ihre zaghaften Sympathien für Petunia verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren.
„Komm her", sagte sie und nahm Harry auf den Schoß, „so habe ich das nicht gemeint! Harry, du bist nicht böse! Du bist ein lieber Junge!"
Der Kleine sah sie fragend an. „Harry nicht böse? Harry lieber Junge?", wollte er schließlich wissen.
Arabella Figg nickte. „Ja. Vergiss es nicht: Du bist nicht böse!"
Sie seufzte. Nun hatte sie sich doch wieder von ihrem Ziel, Harry einen unangenehmen Tag zu bereiten, abbringen lassen. Aber schließlich konnte sie ihn doch nicht in dem Glauben aufwachsen lassen, er sei ein böser Mensch!
Harry strahlte und wollte sofort mit dem Porzellan-Werfen weitermachen.
„Nein! Das geht trotzdem nicht! Hier, du kannst mit den Karten und den Muscheln spielen." Sie zeigte auf die Dinge, die Harry bereits ausgeräumt hatte. Tatsächlich beschäftigte Harry sich nun zufrieden damit, Muster zu legen und Mrs. Figg beschloss, jetzt erst mal das Mittagessen vorzubereiten. Aufräumen konnte sie immer noch.
Es sollte Rosenkohl und Leber geben. Von ihrer Großnichte hatte sie erfahren, dass diese Gerichte bei sehr vielen Kindern unbeliebt waren und genau das brauchte sie.
Als schließlich Mittagszeit war, war Harry allerdings so hungrig, dass er den matschigen Kohl ohne Protest herunterschlang, nur mit der zähen Leber hatte er Probleme.
Danach beschloss Mrs. Figg, erst mal einen Spaziergang mit Harry zu machen, denn auf Dauer war es in der Wohnung mit Harry und den Katzen, die ihn immer wieder anfauchten doch recht anstrengend.
Harry war mittlerweile ziemlich gut zu Fuß, denn er hatte seit über einem halben Jahr schon nicht mehr im Kinderwagen gesessen. So machten die beiden einen weiten Marsch und hinterher war nicht nur Harry so müde, dass er den restlichen Nachmittag verschlief, auch Mrs. Figg musste sich eine Weile hinlegen.
Erst kurz bevor ihr Besuch abgeholt werden sollte, wachte sie wieder auf. In der Wohnung war noch immer das von Harry angerichtete Chaos.
Seufzend wollte Arabella Figg mit dem Aufräumen beginnen, als sie sah, dass Mrs. Dursley bereits die Straße herauf kam.
Jetzt war es höchste Zeit, ihren Plan umzusetzen. Sie weckte Harry und brachte ihn ohne Kommentar ins Badezimmer. Dann schnappte sie Hudson und sperrte ihn dazu. „Entschuldigt, ihr beiden!", murmelte sie, „Mir fällt leider nichts Besseres ein."
In diesem Moment klingelte es auch schon. Sie öffnete die Tür und während Petunia eintrat, hörte man aus dem Bad Schreien und Fauchen.
„Was ist denn hier los?", fragte diese erstaunt.
„Ihr Neffe!", sagte Mrs. Figg nur und öffnete die Badezimmertür. Harry kam schreiend herausgelaufen und als er Petunia sah, flüchtete er sofort in ihre Arme. Er hatte einen neuen Kratzer an der Hand.
„Es tut mir wirklich Leid", begann Mrs. Figg, „aber ich bin nicht so gut mit dem Jungen klar gekommen. Es war genau, wie Sie sagten, und deshalb musste ich ihn die meiste Zeit einsperren."
„Kein Problem", erwiderte Petunia und sah schadenfroh auf die Scherben, „so ist das eben bei diesem Kind. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben!"
„Wie gesagt, ich helfe gerne. Ich denke, Sie brauchen auch mal Erholung von dieser Nervensäge! Bringen Sie ihn ruhig noch mal vorbei. Ich werde es schon irgendwie schaffen."
Hocherfreut zog Petunia mit Harry ab. Mrs. Figg war ja doch netter, als sie zunächst gedacht hatte.
Noch am selben Abend hatte Arabella Figg ein Gespräch mit Albus Dumbledore, bei dem sie dem Schulleiter empört die Behandlung von Harry schilderte.
Albus wirkte traurig, aber trotzdem wimmelte er sie ab. „Wir können nichts machen. Harry muss da durch. Nirgendwo anders ist er sicher!"
Arabella hatte zwar überhaupt kein Verständnis für diese Sichtweise, aber sie biss bei ihrem Gesprächspartner auf Granit und verabschiedete sich schließlich enttäuscht.
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