von MIR
Die Wochen vergingen im Ligusterweg und für Harry brachen noch härtere Zeiten an als bisher. In der ersten Woche hatte Petunia ihn zwar vernachlässigt, doch nun, seit dem Besenflug, sah sie ihn genauso wie Vernon als eine böse Bedrohung an. Den Besen hatte sie mittlerweile entsorgt. Da er nicht in die Mülltonne gepasst hattte und sich auch nicht so leicht zerbrechen ließ, hatte sie ihn einfach neben die volle Tonne gestellt. Am nächsten Morgen war er, genauso wie der Müll, verschwunden.
Harrys bewusste Erinnerung an seine Eltern verblasste nach und nach immer mehr, auch wenn der Alptraum mit dem grünen Licht ständig wiederkehrte. Tief in seinem Inneren, im Unterbewusstsein, setzte sich aber das Wissen fest, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der er geliebt worden war, dass es Geborgenheit gegeben hatte, Menschen, die ihn trösten und alles zum Guten wenden konnten, Menschen, denen er wichtiger gewesen war als ihr eigenes Leben und die mit ihm lachen konnten. Diese Gewissheit konnten ihn weder Vernon, noch Petunia, noch Dudley rauben. Sie gab ihm eine Stärke, die ihn auch in späteren Jahren nicht verließ, als er keine Ahnung mehr von der Ursache hatte.
Schon nach zwei bis drei Wochen erwartete er nicht mehr, dass „Mama" wiederkommen würde. Das Wort bekam für ihn eine neue Bedeutung. „Mama" war das Wort, das Dudley immer sagte, wenn er etwas von Petunia wollte - und es natürlich auch immer bekam.
So war es nicht verwunderlich, dass auch Harry es ausprobierte. Die Dursleys saßen gerade alle zusammen im Wohnzimmer und Petunia fütterte Dudley mit Keksen, als ihr Neffe vorsichtig herantapste.
„Mama", sagte er leise zu Petunia und sah sie mit seinen grünen Augen bittend an. Dann zeigte er auf die Cookies.
Petunia verschlug es die Sprache. Damit hatte sie einfach nicht gerechnet. Der Blick und das Wort trafen sie bis ins Mark und auf einmal war auch die Erinnerung an Lily wieder da. Sie wollte gerade einen Keks nehmen und ihn Harry geben, als Vernon wutschnaubend nach Harry griff und ihn an den Haaren von Petunia wegzog.
„WAG ES JA NICHT DEINE TANTE MIT DIESER SCHLAMPE ZU VERGLEICHEN!!! NIEMALS WÜRDE MEINE FRAU EINE MISSGEBURT WIE DICH BEKOMMEN!!!"
Harry sah ihn erschrocken an. Er verstand zwar die Worte nicht, merkte aber natürlich, dass er schon wieder etwas falsch gemacht hatte.
Die Ohrfeigen klatschten und Harry brüllte.
An Petunia gewandt fuhr Vernon fort: „Und du wirst ihm das nicht durchgehen lassen! Ich dachte, wir wären uns einig! Stell dir mal vor, er würde dich in der Öffentlichkeit so nennen! Was würde das für ein Licht auf unsere Familie werfen!"
Natürlich, das sah Petunia ein. Inzwischen ärgerte sie sich selbst, dass sie sich fast hätte gehen lassen. Das Kind war und blieb eine Bedrohung. Es war nicht normal und zum Glück nicht ihr eigenes. Und das sollte auch niemand vermuten. Noch einmal würde sie dieses Wort nicht erlauben.
Nun, Harry versuchte es auch nie wieder. Er hatte seine Lektion gelernt.
Der Dezember brachte auch in Little Whinging den ersten Schnee, der sich schon bald in grauen Matsch verwandelte.
Die Weihnachtsvorbereitungen begannen. Für die Dursleys hieß das in erster Linie jede Menge Geschenke besorgen für Dudley. Für Harry waren weiter keine Geschenke geplant. Immerhin bekam er seit November jeden Tag Verpflegung und Unterkunft geschenkt und darüberhinaus hatte er zwei Kaffeemaschinen, die Porzellanpuppen und zahlreiche weitere Gegenstände auf dem Gewissen.
Weihnachtsvorbereitungen, das bedeutete auch, dass das Haus geschmackvoll dekoriert und einer gründlichen Putzaktion unterzogen werden musste. Das Weihnachtsessen musste geplant und ausgefallene Zutaten besorgt werden. Immerhin wurde Besuch erwartet, wie jedes Jahr: Vernons Schwester Marge.
Aus diesen Gründen war Petunia war nun häufiger unterwegs. Während sie Dudley - oft schreiend - mitschleifte, blieb Harry eigentlich immer allein im Schrank zurück.
So war es auch an einem wunderschönen Wintertag im Dezember. Petunia hatte das Haus diesmal gut gelaunt mit Dudley verlassen, denn gestern war endlich die von Vernon bestellte Alarmanlage installiert worden. Sie brauchen nun keine Angst mehr zu haben vor Übergriffen von Verrückten aus Harrys Sippschaft und natürlich auch nicht vor normalen Einbrechern.
Den ersten Dämpfer bekam sie, als sie schon wieder Mrs. Figg begegnete. Das durfte einfach nicht wahr sein! Ständig lief ihr diese alte Schrulle über den Weg! Es war wie verhext! Und immer wieder nervte diese damit, dass Petunia doch einmal zu Besuch kommen sollte. Wieder musste sie sich eine Ausrede einfallen lassen bevor sie endlich weitergehen konnte.
Nach dem Stadtbummel, der besonders anstrengend gewesen war, weil Dudley im Spielwarengeschäft eine fürchterliche Szene veranstaltet hatte, kam Petunia erschöpft nach Hause und merkte gleich, dass etwas nicht stimmte.
In dem Moment, als sie das Haus betrat, jaulte die Alarmanlage los. Im Haus sah es schlimm aus. Die Schranktür unter der Treppe stand offen und in der Küche war fast der gesamte Lebensmittelschrank ausgeräumt. Der Kühlschrank stand ebenfalls offen und überall lagen angebrochene Packungen von Keksen, Marmelade, Wurst, Käse, Obst und anderem Essen herum. Alles war voller Krümel und Essensresten. Harry war jedoch nicht zu sehen. Er fand sich im Wohnzimmer, dessen Boden übersät war mit Dudleys Spielzeug. Gesicht und Kleidung waren marmeladenverschmiert, während er ganz vertieft mit Bauklötzen spielte.
Petunia wollte gerade ihrem Ärger Luft machen, als draußen zwei Polizeiwagen mit Blaulicht vorfuhren. Kreidebleich öffnete Petunia die Tür und stand vier bewaffneten Beamten gegenüber. Außerdem hatte sich auf dem Bürgersteig eine kleine Menschenmenge gesammelt, die neugierig auf ihr Haus starrte. Einige Fenster wurden geöffnet, an anderen bewegten sich die Gardinen.
Drei Polizisten stürmten an ihr vorbei, während der vierte Petunia befragte: „Sind Sie die Hausherrin, Mrs. Petunia Dursley?"
Sie nickte stumm.
„Sind die Täter noch im Haus? Haben Sie sie gesehen?"
Petunia schüttelte den Kopf.
„Sie müssen sich schon klarer ausdrücken!", meinte der Polizist ärgerlich, „Wo sind die Einbrecher jetzt?"
„Es waren gar keine da", murmelte Petunia kleinlaut.
„Es waren keine da! Wer hat dann den Alarm ausgelöst? Sie wollten einfach mal Ihre Anlage testen, oder wie? Oder haben Sie Ihre Kinder unbeaufsichtigt mit der Anlage spielen lassen? Wissen Sie was das kostet?"
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern rief verärgert seine Kollegen zusammen. Schließlich verabschiedete er sich mit den Worten: „Sie werden dann noch von uns hören. Sollte es noch einmal einen Fehlalarm geben, werden wir uns beim dritten Mal überlegen, ob wir überhaupt kommen! Wir haben eine Menge ernsthafte Arbeit! Und wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben darf: Räumen Sie das nächste Mal auf, bevor Sie Besuch erwarten!"
Als die Beamten zum Auto gingen, konnte Petunia noch hören, wie einer den anderen erzählte: „Also wir haben drei kleine Kinder und meine Frau hat ihren Haushalt trotzdem im Griff!" und sie konnte förmlich sehen, wie die Schar der Neugierigen ihre Ohren aufstellte.
Petunia stand dermaßen unter Schock, dass sie gar nicht mehr daran dachte, Harry zu bestrafen, sondern direkt begann, mechanisch die Küche aufzuräumen, während die Jungs sich im Wohnzimmer um das Spielzeug stritten.
Sie wusste nicht, ob Harry mal wieder Magie benutzt hatte oder ob sie einfach vergessen hatte, den Schrank zu verriegeln und ob die Alarmanlage vielleicht fehlerhaft installiert worden war. Sie wusste nur, dass sie Harry nie wieder allein lassen konnte. Sie musste einen Weg finden, um Harry irgendwo unterzubringen, wenn sie das Haus verließ.
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