von BlackWidow
Leonieküsse und Phönixtränen
Da Jack nach diesem Erlebnis ganz schnell gelernt hatte, dass Leonie nicht jede Art des Reisens liebte, ließ er den Besen in Toulon zurück und apparierte mit seiner Liebsten an eine schöne Bucht, die ihm das Ehepaar Boncoeur empfohlen hatte.
"Sie sollten aber um Ihr Zelt immer genügend Muggelabwehrzauber sprechen, denn die Muggelpolizei hier ist sehr streng mit Campern. Die Gegend ist gefährdet für Waldbrände, und leider sind Muggel oft sehr ungeschickt und machen Feuer in einem trockenen Waldstück." Jack hatte sich den Rat seines Gastgebers zu Herzen genommen und sich einige dieser Zauber von ihm zeigen lassen. Und nun genossen sie es - bei aller Freundlichkeit des Ehepaars Boncoeur - allein hier zu sein. Das Zelt hatten sie schnell aufgebaut, und nun machten die Beiden erst einmal einen ausgedehnten Spaziergang am Strand. Cléante und Lion flogen einträchtig neben dem Paar her, als wollten sie dadurch ihre Treue bekunden. In der Abenddämmerung wurde Lion richtig munter und konnte seinen Speiseplan, der in letzter Zeit hauptsächlich aus Eulenkeksen bestanden hatte, wieder nach Herzenslust durch kleine Nagetiere bereichern. Cléante schien sehr glücklich darüber zu sein, nach so vielen Jahrzehnten endlich wieder in Freiheit zu leben, denn er warf Leonie und Jack immer wieder dankbare Blicke zu.
"Ich wundere mich, wie der Vogel so viele Jahrzehnte überhaupt überleben konnte, wenn er immer eingesperrt war in dieses verfluchte Haus."
"Er wird es uns wohl nie erzählen können, aber ich bin glücklich, dass wir ihn durch unsere Liebe erlösen konnten. Seltsamerweise geht mir sein Schicksal mehr ans Herz als das der Menschen in diesem Haus!"
"Weißt du, Leonie, du hast mir einmal gesagt, dass du es gut findest, dass ich mich nicht um die Vergangenheit meiner Eltern kümmere. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass mir wohl auch der Mut dazu fehlt."
"An Mut fehlt es dir sicher nicht, mein liebster Jack, aber vielleicht ist es für dich einfach nicht wichtig, irgendwelche Geheimnisse aus der Vergangenheit auszugraben. Du kannst dich vielleicht noch ein kleines Bisschen an deine Eltern erinnern, nicht wahr?"
"Ja, ich weiß noch, dass sie sehr liebevoll und geduldig waren, und als ich gebissen wurde, haben sie alles in ihrer Macht stehende getan, um mir ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Leider sind sie beide bei einem Unfall durch ein Muggelauto ums Leben gekommen."
"Das tut mir so Leid, Jack! Aber du hast immerhin schöne und gute Erinnerungen an sie. Weißt du denn, wo sie begraben sind?"
"Auf einem Muggelfriedhof in der Nähe von Glasgow. Meinst du, wir könnten eines Tages zusammen das Grab suchen?"
"Ganz bestimmt werden wir das tun. Du warst mit mir bei meinen Vorfahren, nun ist es an der Zeit, dass wir uns auch gemeinsam um deine Familie kümmern."
Doch dann wechselte Leonie das Thema und erinnerte ihren Liebsten an das, weswegen sie hierher gekommen waren:
"Ich denke, wir sollten jetzt endlich mal ins Wasser gehen, was meinst du, Jack?"
"Hmmm, ich bin eigentlich nicht so begeistert davon. Aber geh du schon mal rein, ich schau dir lieber zu."
Am Tonfall erkannte Leonie, dass Jack ihr etwas zu verheimlichen versuchte.
"Was ist wirklich los, Jack?"
"Also gut, lügen ist bei dir sowieso zwecklos. Ich... kann... nicht... schwimmen!" stammelte er, weil er glaubte, dass er sich wegen dieses Geständnisses schämen müsste.
"Ach, das hätte ich mir eigentlich denken können, entschuldige bitte, dass ich nicht selber drauf gekommen bin. Wie solltest du im Rudel auch irgend etwas beigebracht bekommen haben, das dem Vergnügen dient. Gedulde dich ein bisschen, ich werde Ausschau nach einem Delfin halten, der dich auf seinem Rücken durchs Wasser trägt. Du brauchst keine Angst zu haben, dass er zu weit hinaus schwimmt, denn er spürt genau, wenn du dich fürchtest."
Leonie hatte inzwischen ihren Badeanzug an und bedeutete Jack, dass auch er sich umziehen sollte. Doch auch dies schien ein Problem für ihn zu sein.
"Ich glaube, es ist besser, wenn ich gar nicht ins Wasser gehe."
"Warum denn, Jack? Empfindest du beim Schwimmen vielleicht dasselbe wie ich beim Fliegen?"
"Nein, aber ich denke, dass das Salzwasser meiner Haut nicht gut tun wird."
"Wie kommst du darauf?"
Jack sagte nichts weiter, weigerte sich jedoch hartnäckig, seinen Oberkörper zu entblößen.
"Liebster Jack, bitte sag mir doch, was los ist!" flehte Leonie ihn nun an.
"Kannst du dir das nicht denken, Leonie? Was glaubst du, macht ein Werwolf ohne den Trank, wenn er niemand verletzen möchte?"
"Heißt das, dass du dich damals immer selber verletzt hast, Jack?" fragte Leonie nun ganz vorsichtig nach.
"Ja, und diese Wunden werden nie mehr heilen. Leider gibt es dagegen immer noch kein Mittel. Mein Körper ist übersät mit Wunden, die sich mein ganzes Leben lang nicht verschließen werden. Deshalb fürchte ich das Meerwasser, weil durch das Salz die Schmerzen größer werden."
"Liebster Jack, darf ich diese Wunden wenigstens sehen, wenn ich auch kein Mittel habe, um sie zu heilen?"
"Ich weiß, dass ich sie nicht ewig vor dir geheim halten kann. Irgendwann wollen wir uns ja auch körperlich näher kommen - auch wenn wir zuerst einmal unsere Seelen sich ganz nahe kommen lassen wollen. Aber ich wollte dir jetzt, wo unsere Liebe noch so neu ist, den Anblick gerne ersparen."
"Liebster Jack, wenn ich später einmal Heilerin bin, werde ich tagtäglich mit solchen Dingen konfrontiert werden. Und ich sehe nicht ein, warum ich dann ausgerechnet deine Wunden nicht sehen soll. Bitte hab so viel Vertrauen zu mir!"
Da hatte Jack endlich den Mut, sein T-Shirt auszuziehen. Leonie sah unzählige tiefe Fleischwunden, die wirklich schlimm aussahen. Ohne lange darüber nachzudenken, küsste sie eine besonders tiefe Wunde auf Jacks Schulter und legte ihre ganze Liebe in diesen Kuss. Jack fühlte eine Erleichterung über sich kommen, wie er sie seit ewigen Zeiten nicht mehr erlebt hatte. Alle Schmerzen schienen aus dieser Stelle zu verschwinden und ihm war, als wäre diese Wunde gar nicht mehr da! Als Leonie nach einer kleinen Ewigkeit wieder aufschaute, war Jacks Schulter wirklich vollständig verheilt. Ohne zu überlegen, küsste sie eine andere Wunde, und nun kam auch Cléante herbeigeflogen, setzte sich auf Jacks andere Schulter und weinte. Und auch seine Tränen verschlossen eine Wunde nach der anderen, so dass Jack bald ganz geheilt war. Die Sonne war längst im Meer versunken, und doch hätten Beobachter einen glühend roten Feuerball an diesem Strand sehen können - wenn sie die dazu nötige Begabung gehabt hätten. Aber zum Glück für die Liebenden war weit und breit weder Zauberer noch Muggel hier, und so geschah es, dass diese Geste der vollkommenen Liebe dann wie selbstverständlich zu ihrer ersten körperlichen Vereinigung führte. Als sie danach eng umschlungen gleich an diesem Strand einschliefen, kreisten Cléante und Lion die ganze Nacht um das Paar, damit ihnen ja kein Leid geschähe.
Jack wurde am nächsten Morgen vom ersten Sonnenstrahl geweckt und schaute seine Leonie so liebevoll an, dass auch sie davon wach wurde. Es war nicht nötig, irgend etwas zu sagen, weil alle Liebe, die sie füreinander empfanden, in ihren Blicken lag. Irgendwann schaute Jack an die Stellen, an denen jahrelang schmerzhafte Wunden ihm sein Leben erschwert hatten. Als er dort nichts als reine und heile Haut sah, sagte er nur:
"Leonieküsse und Phönixtränen!"
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