von Kalliope
Ich sehe zu, wie der Regen fällt.
Dunkle Wolken schlingen sich um die Berggipfel und tauchen die Welt in ein tristes grau, das einem jede Lebensfreude zu nehmen scheint.
Ich sitze allein in meinem Abteil, wie immer. Mein Gepäck habe ich auf den Sitz mir gegenüber gelegt, meine Jacke auf den zu meiner Linken, Platz gibt es genug, mag der Zug noch so voll sein.
Die Fenster sind beschlagen und ich male mit dem Finger Kreise und Linien, bis die ganze Fläche von einem fahrigen Muster bedeckt ist.
Stimmen hallen vom Gang her. Sie klingen fröhlich, erwartungsvoll, beschwingt.
Ich muss an meinen Vater denken, der zum Abschied wie immer ein würdevolles, aber nichtsdestotrotz liebenswertes Gesicht aufgesetzt hatte und mich mit einer festen Umarmung auf den Weg schickte, wohl wissend, dass uns beiden etwas fehlen würde.
Uns ist klar, dass wir nicht allein sind all die Zeit über, doch es ist schwer, sich das zwischen all den glücklichen Elternpaaren, die ihre Kinder verabschieden, vor Augen zu halten.
Dieser erste Tag ist besonders schwer, jedes Jahr aufs Neue.
Wie hätte sie sich gefreut, mich in der blauen Uniform zu sehen, den Adler auf der Brust?
Wäre sie traurig gewesen über meinen Abschied und hätte sie nicht doch unter Tränen gelächelt und mir über die Haare gestrichen?
Manchmal ist es schwer, in die Realität zurückzufinden, wenn man nach Antworten auf diese Fragen sucht.
Das Abteil ist gut geheizt, doch plötzlich scheint ein Luftzug durch die geschlossene Tür hereinzuwehen, der mich frösteln lässt.
Ich greife nach meiner Jacke, muss aber mitten in der Bewegung innehalten, als das Licht zu flackern beginnt.
Kälte kriecht meinen Rücken hinauf, erfasst meine Schultern, meinen Nacken und dringt über die Schläfen in meinen Kopf ein.
Mein Herz pocht wie wild, als wolle es aus dem eisigen Griff entfliehen, der es festhält.
Plötzlich öffnet sich die Tür wie von Geisterhand. Eine Gestalt, in einen schwarzen Umhang gehüllt, erscheint und füllt das Abteil mit einer unheimlichen Präsenz und rasselnden Atemgeräuschen, die in meinem Kopf widerhallen.
Ich erstarre.
Der Dementor scheint mich zu fixieren. Ich möchte meinen Blick abwenden, doch ich kann mich nicht von ihm lösen.
Leise Geräusche scheinen in meinem Kopf zu entstehen. Zunächst höre ich das Lachen einer Frau, leises Murmeln, eine Stimme, die meinen Namen sagt. Doch sofort geht die Stimme über in angstvolles Rufen, Schreien, Krach folgt, lautes Donnern und das Bersten von Steinen.
Eine Explosion.
Die Explosion, die meine Mutter ohne Abschied gehen ließ.
Endlich schaffe ich es, die Augen zu schließen. Eine einsame Träne rollt meine Wange hinab.
Ein paar Augenblicke später lässt die Beklemmung nach, ich registriere, dass das Licht still hält, der Dementor verschwunden ist.
Ich lehne meinen Kopf an das Fenster und beginne, leise zu weinen.
Durch meine Schlieren an der Scheibe und den Tränenschleier vor meinen Augen kann ich die Berge sehen, die immer noch gegen die Wolken kämpfen. Stellenweise bedecken sie ganze Hänge, doch hier und da ragt ein Gipfel, ein Felsmassiv hervor und trotzt dem grau.
Langsam erwärmt sich mein Körper wieder.
Ich blicke immer noch aus dem Fenster, als ich merke, wie das Abteil erneut von einer Präsenz erfüllt wird, doch dieses Mal ist es eine positive, warme Kraft.
Eine Hand, eher ein Lufthauch, streicht über meine Wange.
Leises Sirren erfüllt meine Ohren und ich vernehme das leise Echo einer Stimme, weit entfernt, doch klar verständlich.
Luna...
Allmählich versiegen meine Tränen und ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.
Draußen werden die Wolken von der Finsternis vertrieben, die nun die Berge einhüllt; der Regen prasselt weiter gegen die Scheibe, doch jetzt sieht man ihn nicht mehr.
Ich bin nie allein.
Und irgendwann werden wir uns wieder sehen.
Das weiß ich.
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