Kapitel 60-Die Hammer-Insel
Harry und Chris waren so müde, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, und nachdem ihre erbeuteten Gegenstände und ihre Listen endlich kontrolliert waren und die Auroren einstimmig zu dem Schluss kamen, dass beide die Zwischenprüfung bestanden hatten, schickte Dwight sie ins Bett, was sie nur zu gerne annahmen. Todesähnlich fielen sie in ihre Betten hinein, die sich so weich und angenehm wie noch nie anfühlten. Es war das erste Mal seit sie auf der Insel angekommen waren, dass Harry nicht mit einer Erektion einschlafen musste, und auch Chris brachte nicht mehr die Energie auf die Photos von Lavender zu nutzen. Beide taten nur noch einen einzigen Atemzug und fielen gleich in tiefen Schlaf, aus dem sie erst am späten Mittag des folgenden Tages wieder erwachten.
Es stellte sich heraus, dass nur sehr wenige Schüler die Zwischenprüfung bestanden hatten. Selbst die Auroren schienen enttäuscht zu sein. Sie hatten mit einer Handvoll Scheiternder gerechnet, in Wirklichkeit hatten von den 54 Aurorenschülern gerade mal zwölf ihre drei Gegenstände innerhalb der gesetzten Zeit abliefern können und waren damit zum weiteren Training zugelassen. Tatsächlich hatten neben Harry und Chris nur Maurice (als damit einziger noch verbliebener Vertreter Frankreichs), der Amerikaner Mark, Lars aus Norwegen, sein finnischer Kollege namens Esko, der Chinese Zhu, die beiden Russen Alexander und Viktor, der Deutsche Thomas sowie die beiden Spanier Manuel und Felipe die Aufgabe bestanden. Italien, Südafrika und Schweden waren vollständig ausgeschieden.
Taylor und Boulez erklärten mit belegter Stimme, dass sie mit einer derartig großen Zahl an Ausfällen nicht gerechnet hatten, während Dwight kaum seine Freude darüber verstecken konnte, dass beide Aurorenschüler Englands die Prüfung bestanden hatten. Hinzu kam noch, dass sie mit neunzehn und zwanzig Jahren zu den jüngsten Absolventen der Zwischenprüfung gehörten.
„Worauf warten wir noch, Sir?“, fragte Chris ungeduldig. Mit Abschluss der Zwischenprüfung war ihr Training auf Bangakilu Island abgeschlossen, und der zweite Teil ihrer Aurorenausbildung sollte auf einer anderen Insel stattfinden. Die Mitschüler, die durch die Prüfung gefallen waren, befanden sich bereits wieder auf dem Rückweg nach Hause. Nur Harry, Chris, die verbliebenen anderen zehn Aurorenschüler sowie Dwight und seine Kollegen aus Frankreich und den USA warteten noch am Strand. Ihre Koffer standen bereits gepackt neben ihnen. Auch die Schiffe, die sie zur Insel gebracht hatten (in Englands Fall das rote Schiff Owens namens Jenny) standen bereits abfahrbereit zur Verfügung, diesmal jedoch nicht schwebend in der Luft, sondern ganz normal und wie für Schiffe üblich im Wasser.
Dwight schaute auf seine silberne Taschenuhr. Als er sie aufschnappen ließ, konnte Harry nur ein paar merkwürdige Runen, aber keine Zeiger erkennen.
„Sie kommen zu spät...“, bemerkte er.
„Wer kommt zu spät?“, fragte Harry.
„Die andere Trainingseinheit...“, murmelte Dwight.
„Die andere...was für eine...“, begann Chris, wurde jedoch unterbrochen.
„Haben Sie sich je gefragt, warum Owens Schiff eigentlich Jenny heißt?“
„Nein!“, antworteten Harry und Chris wahrheitsgemäß.
„Es ist der Name seiner Frau...gewesen.“, erklärte Dwight mit belegter Stimme.
„Oh...“, machten Harry und Chris und schauten betreten zu Boden. „Was ist mit ihr...was ist mit ihr passiert?“
„Sie wurde ermordet. Von Du-weißt-schon-wem.“, fügte er mit einem Seitenblick auf Harry hinzu. „Potter, Sie wissen von der Prophezeiung? Aus der Pyramide?“
Harry nickte, Chris starrte ihn verständnislos an.
„Harry, was...“
„Später!“
„Nun, Owen und ich wissen es erst seit wenigen Monaten.“, gab Dwight zu. „Es war sträflicher Leichtsinn von Ihnen, es uns nicht sofort zu erzählen, Potter. Doch Owen kannte auch die andere Prophezeiung, die besagt, dass nur Sie Du-weißt-schon-wen vernichten können.“ Harry wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also schwieg er. Dwight senkte noch ein wenig die Stimme, um sicherzugehen, dass niemand sonst ihn hörte. „Dumbledore hatte es ihm erzählt. Sie wissen, dass Dumbledore, Owen und Moody alte Freunde sind? Gut. Im selben Jahr, als Du-weißt-schon-wer seine Frau tötete, meldete sich Owen trotz seines schon damals hohen Alters zur Aurorenausbildung an, vorher war er nicht mehr als nur ein Zaubertrank-Hersteller gewesen. Und binnen zwei Jahren wurde er Leiter der Aurorenzentrale bis heute.“, erzählte Dwight und kratzte sich an dem Stoppelbart, der ihm mittlerweile gewachsen war. „Es war hart für Owen zu verstehen, dass er selbst Du-weißt-schon-wen nicht beseitigen konnte um Rache für seine Frau zu nehmen. Deshalb, und weil er sicher ist, dass Du-weißt-schon-wer wie in der Prophezeiung überliefert ein weiteres Mal zurückkehren wird, steckt er alles an Energie und Zeit in Ihre Ausbildung, um Sie vorzubereiten.“
„Im Moment jawohl nicht!“, fuhr Chris dazwischen. „Owen ist immer noch nicht wieder da! Wo bleibt er?“
„Er hat wichtige Angelegenheiten in England zu erledigen.“, antwortete Dwight nur. „Ah, da kommen sie ja endlich! Bei Merlin, nur ein einziges Schiff?“
Ein einzelnes, elfenbeinfarbenes Schiff war vor ihnen schwankend aus dem Wasser aufgetaucht. Es glitzerte noch vor Nässe, als die Planke von selbst ausschlug und den Weg zum Strand überbrückte. Im selben Moment kamen fünf bibbernde, in dicke, weite Pelzmäntel gehüllte Frauen über die Reling geschritten. Die ersten beiden Frauen mochten Ende dreißig sein, die anderen drei wohl erst knapp zwanzig. Als sie Bangakilu Island betreten hatten und das schwülheiße Klima bemerkten, seufzten sie befreit auf und ließen erleichtert die Pelzmäntel zu Boden fallen. Eine der Frauen kam lächelnd auf Dwight zu.
„Ah, guten Tag, Ken!“, lächelte sie und schüttelte ihm die Hand. „Tut mir Leid, dass wir so spät kommen.“
„Kein Problem, Nicole!“, versicherte er.
„Ganz schön heiß auf eurer Insel!“, bemerkte sie. „Besonders nach dem ersten Teil des Aurorentrainings.“
„Der liegt noch vor uns.“
„Dann solltet ihr euch unbedingt noch ein paar Handschuhe mit einpacken!“, meinte die Frau namens Nicole und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Hier ist es unvergleichlich heißer!“
Dass dies der Wahrheit entsprechen musste, war nicht zu übersehen: Die drei Aurorenschülerinnen hatten bei den Pelzmänteln nicht Halt gemacht. Froh, wieder Sonne auf ihrer Haut spüren zu können, flogen Hosen und dicke Pullover gleich hinterher, bis sie nur noch in Unterwäsche am Strand standen. Zwölf männliche Aurorenschüler starrten sie an ohne auch nur für einen Moment den Blick abwenden zu können. Nur wenigen blieb der Mund nicht offen stehen. Die drei noch dazu überaus attraktiven Mädchen bemerkten natürlich grinsend die Bewunderung, die ihre Kollegen für sie hatten. Aber auch sie musterten die Männer voll Interesse. Immerhin war es auch für sie ein halbes Jahr her, seit sie zuletzt einen Mann gesehen hatten.
„Ihr seid so wenige?“, fragte Dwight die Frau. „Nur drei Schülerinnen?“
„Oh ja.“, nickte sie. „Du weißt ja, es gibt nie so viele weibliche wie männliche Bewerber um den Aurorenposten...am Anfang waren wir siebzehn, aber ganze vierzehn von denen sind ausgeschieden.“
„Bei uns sind auch viele durchgefallen!“, nickte Dwight. „Scheint ein trauriger Jahrgang zu sein.“
„Hi!“, lächelte eins der drei Mädchen, die inzwischen auf Harry und Chris zugekommen waren. Sie hatte strahlende, grüne Augen und ebenso kastanienbraune Haare wie Hermine. „Ich bin Yvette und das sind meine Freundinnen Jennifer und Maria.“ Zwei blonde Mädchen zwinkerten den beiden zu.
„Hi...“, murmelte Harry nur und sowohl er als auch Chris (der überhaupt keine Begrüßung hervorbringen konnte) waren, trotz aller Liebe zu Hermine und Lavender, unfähig den Blick von ihnen zu lösen. Seit sechs Monaten hatten sie keine Frau mehr zu Gesicht bekommen. Yvette kicherte.
„Na, ihr habt schon lange keine Mädchen mehr gesehen, was?“, kicherte sie. „Mit wem haben wir denn die Ehre?“
„Christopher Wenders!“, brach es aus Chris heraus, und er wischte sich (möglichst unauffällig) den Schweiß von der Stirn.
„Harry Potter.“, fügte Harry hinzu. Die grünen Augen Yvettes leuchteten Harry einen Moment lang an, als sie schon die Arme um ihn schlang und ihn fest an sich drückte. Die kastanienbraunen Haare kitzelten ihn und er fühlte sich irgendwie an Hermine erinnert, während Yvette sich noch stärker an ihn presste.
„Oh danke, danke, Harry!“, schniefte sie. „Danke, dass du Du-weißt-schon-wen aus dem Weg geräumt hast. Er hat die Hälfte meiner Familie getötet! Danke, dass du ihn erledigt hast, vielen Dank!“
Harry wollte gerade erklären, dass nicht nur er, sondern auch Hermine Voldemort besiegt hatte, doch die weichen Hügel von Yvettes Brüsten schmiegten sich angenehm an seine Brust, und er nahm diese Berührung (da er keinen Brustpanzer trug) durch ihren BH und sein T-Shirt noch sehr intensiv wahr. Auch Yvette konnte die Erektion, die er ja bereits seit Monaten fast ständig hatte, in der engen Umarmung nicht entgangen sein. Sie löste sich nur einen Spalt von ihm und lächelte ihn verführerisch an.
„Uh...“, machte sie nur. „Was ist denn das Große da unten bloß? Was meinst du, wollen wir zwei Hübschen nicht schnell einen Spaziergang am...“
„Tut mir Leid Miss, aber wir müssen nun wirklich aufbrechen!“, unterbrach Dwight sie. „Schließlich muss auch unser Training weitergehen.“
Mit diesen Worten wies er Harry und Chris an ihm aufs Schiff zu folgen. Yvette stemmte beleidigt die Fäuste in die Hüften und rief ihm ein „Spielverderber!“ hinterher.
„Danke, Sir!“, nickte Harry. „Das wäre beinah knapp geworden!“
„Ist ja noch mal gut gegangen.“, grinste Dwight. „Jetzt wollen wir aber los!“
Zitternd ließen sich Harry und Chris auf die Bänke in der Messe fallen.
„Ehrlich, das waren Veelas...“, meinte Chris nach einer Weile. „Oh Mann...scheiße, Alter!“
Nachdem sie sich ein wenig von ihrer unerwarteten Begegnung mit den attraktiven, leicht bekleideten Mädchen erholt hatten, wollte Chris von Harry wissen, was Dwight mit den beiden Prophezeiungen gemeint hatte. Harry überlegte. Die Prophezeiungen waren eins der geheimsten Themen, die er kannte, allerdings hatte Chris sich in den vergangenen anderthalb Jahren als treuer Freund herausgestellt und ihm zudem noch am vorigen Tag das Leben gerettet. Also nickte Harry und erzählte ihm bereitwillig alles über die erste Prophezeiung, die er von Dumbledore erfahren hatte, und die zweite, die er mit Hermine zusammen in der Pyramide entdeckt hatte. Chris hörte gespannt zu und meinte schlussendlich mit brüchiger Stimme:
„Also...müssen Hermine und du zusammen Du-weißt-schon-wen besiegen, wenn er ein zweites Mal zurückgekehrt ist?“
Harry nickte.
„Ja. So steht's jedenfalls in der Pyramide.“
„Weißt du was, Harry? Ich hab dir nie dafür gedankt, dass du damals Lavender gerettet hast.“
„Keine Ursache. Im Grunde war's ja auch meine...“
„Nein, es war nicht deine Schuld!“, erklärte Chris mit Nachdruck. „Du kannst nicht immer dir selbst die Schuld zuschreiben, wenn Leute dich angreifen wollen und deshalb deine Freunde attackieren. Ich wünschte...“, meinte er und setzte einen missmutigen Gesichtsausdruck auf. „...ich wünschte, ich hätte auch schon gegen Todesser gekämpft. Weder die Schlacht um Hogwarts noch Lavenders Entführung hab ich miterlebt.“
„Keine Sorge, du bekommst früh genug die Gelegenheit, gegen Todesser zu kämpfen.“, versicherte ihm Harry. „Du konntest nicht dabei sein, du warst in Spanien!“
Chris nickte langsam und bedächtig.
„Ich könnte Weasley in Stücke dafür reißen, was er getan hat.“, zischte er. Harry fühlte eine plötzliche Leere in sich.
„Du weißt das?“, flüsterte er.
„Natürlich!“, knirschte Chris.
„Aber...aber du wirst nicht...“
„Nein, keine Sorge...“, versprach er. „Lavender hat ihm verziehen, obwohl er ihr soviel angetan hat, und Hermine und du habt erklärt, was für ein treuer Freund er damals war und dass er kein böser Kerl ist, nur einen Fehler gemacht hat. Und Julia scheint ihn ja auch zu lieben, und das würd sie sicher nicht, wenn er durch und durch schlecht wäre. In diesem Fall verlass ich mich auf euch vier.“, erklärte er großmütig, lehnte sich ins Leder der Bank zurück und schloss die Augen. „Er soll seine Strafe absitzen, dann ist gut. Aber beste Freunde werden wir sicher nicht!“, fügte er noch hinzu.
Harry nickte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass Chris keine Rache an Ron nehmen wollte. Schließlich waren ihm beide inzwischen sehr wichtig geworden. Ron war sein ältester Freund und hatte ihm lange zur Seite gestanden, hatte natürlich einen riesigen Fehler begangen, verbüßte dafür aber auch eine gerechte Strafe. Und Chris hatte sich als unersetzlicher Kamerad erwiesen, der Harry in allem unterstützte und, wenn er auch oft Witze über ihn machte, doch treu zu ihm stand. Keinen der beiden wollte Harry verlieren.
„Dann müsst ihr beide also Du-weißt-schon-weg fertig machen.“, riss ihn Chris' Stimme wieder in die Wirklichkeit zurück. „Alles klar, dann macht ihr das mal schön und ich kümmere mich um die dutzend Todesser um ihn herum.“
„Na klar, Wenders...“, grinste Harry. Auch Chris grinste. „Hast du ne Ahnung, warum den Mädchen vorhin eigentlich so kalt war?“
„Ich glaube, ihnen wurde ganz schnell heiß, als sie uns gesehen haben!“ Chris reckte überheblich die Brust. „Aber offenbar ist der andere Trainingsort ein bisschen kälter als Bangakilu Island.“
Es war eine ebenso starke Untertreibung als wenn Hagrid einen Drachen als possierliches Haustier bezeichnet hätte. Als Harry und Chris das Schiff verlassen und die zweite Insel betreten hatten, stob ihnen eine derartige Eiseskälte entgegen, dass sie wie von einem Schockzauber getroffen erstarrten. Die Wärme wurde augenblicklich aus ihren Wangen getrieben, ihre Augen tränten und es dauerte nicht lange, bis auch ihre Lippen blau anliefen. Allein das Einatmen der kalten Luft schien zu schmerzen. Die ganze Insel war über und über bedeckt mit Schnee. Selbst die Wipfel der Tannen, die einzigen Bäume die hier wuchsen, waren voller weiß. Die einzige Abwechslung in der fast vollständigen Schneepracht bildeten zehn große, aus mächtigen Balken zusammengezimmerte Hütten, deren Dächer ebenfalls schneeweiß (natürlich, es war ja Schnee!) waren. Sie umringten einen großen, quadratischen Platz, in dessen Zentrum die Statue eines mächtigen Zauberers mit erhobenem Zauberstab aufgebaut war. Ob sie selbst weiß war oder das nur am Schnee darauf lag, war schwer auszumachen. Drei Hütten standen zur Linken, drei zur Rechten, drei Vorne und die letzte und größte von ihnen erhob sich hinter Platz und Statue. Im Dachfirst war das große Symbol eines rötlichen Hammers angebracht, und ein Schild mit selbem Zeichen baumelte über der Tür. Die gewaltige Blockhütte hatte mächtige Giebel, einen hohen, steinernen Turm und schien Haupthaus und Versammlungsort zu sein, während die übrigen und kleineren Hütten ebenso wie die Bambusexemplare auf Bangakilu Island wohl den einzelnen Ländern zugeordnet waren. Auch sie hatten (beinah komplett übergefrorene) Flaggen auf den Dächern.
Auf dem seltsam dunklen Wasser des Meeres trieben einzelne Eisschollen hin und her.
„Herzlich Willkommen auf Mjöllnir! Wegen ihrer hammerähnlichen Form wurde die Insel so genannt.“
Dwights Atem war in der kalten Luft gut zu erkennen, während Harry und Chris ihn bibbernd vor Kälte verständnislos anstarrten.
„Mjöllnir ist in der germanischen Mythologie der Hammer des Gottes Thor.“, erklärte er augenrollend. „Lesen Sie zur Abwechslung mal ein Buch! Nicht ganz so heiß wie auf Bangakilu Island, nicht wahr?“, fügte er grinsend hinzu. Harry und Chris versuchten krampfhaft nicht mit den Zähnen zu klappern. Beide sorgten sich langsam, ob ihre Finger und Zehen wohl abfrieren würden. Sechs Monate lang waren sie auf einer Insel mit tropischen Temperaturen gewesen, jetzt hatten sie das Gefühl im Polareis aufzuwachen. Harry schloss den dunkelblauen Mantel aus Pogrebin-Fell, den Hermine ihm vorletztes Weihnachten geschenkt hatte, enger um den Leib. Chris versenkte die Fäuste in den Achselhöhlen, um sie zu wärmen.
„Tja...“, meinte Dwight zögernd, als er sah, wie seine Schüler unter dem Temperatur-Unterschied litten. Harry war bereits zweimal (wenn auch nur kurzzeitig) in Afrika gewesen und Chris hatte fast ein komplettes Jahr in Spanien verbracht. Mit solchen frostigen Temperaturen hatten sie jedoch keinerlei Erfahrung, selbst der Winter im verschneiten Godrics Hollow war nicht annähernd so eisig wie diese Insel. „...wir treffen uns zum Abendessen um sechs Uhr im Haupthaus, vielleicht sollten Sie bis dahin erstmal Ihre neue Hütte beziehen. Dort finden Sie auch einen Kamin vor!“, schloss er noch an und bibbernd nickend stapften Harry und Chris durch den dicken Schnee in Richtung ihres neuen Zuhauses davon.
Die Hütte war aus festen, dicken Eichenholzbalken gezimmert, die auch stärksten Schneestürmen trotzen konnten. Innen ließ die Kälte ein wenig nach. Chris entzündete mit seinem Zauberstab das Holz im Kamin und eine wohltuende Wärme breitete sich sogleich im ganzen Raum aus. Harry und Chris rückten Schemel dicht an den Kamin heran und wärmten sich am flackernden Feuer. Die Hütte bestand nur aus drei Räumen: Links befand sich das Badezimmer, in der Mitte eine Art Wohnzimmer, das im hinteren Bereich und durch eine halbe Lehmwand ein wenig abgeschirmt ein Hochbett für zwei Personen beinhaltete. Weiter vorne im Raum befanden sich ein stabiler Tisch und zwei dazu passende Stühle. Hier war auch der steinerne Kamin gemauert, dessen hoher, schmaler Schornstein sich die Wand entlang bis in stabile, dicke Dach hineinzog. Im rechten Trakt der Hütte befand sich (Harrys und Chris' Herzen machten einen Satz) eine tadellose, kleine Sauna, die wohl zumindest das vollständige Erfrieren verhindern würde.
Dass das Abendessen im Haupthaus und nicht wie auf Bangakilu Island auf offenem Platz verspeist wurde, schien nicht nur Harry und Chris zu freuen. Abgesehen von Lars und Esko, denen die niedrigen Temperaturen nicht so viel ausmachten, schien jeder von ihnen unter der Kälte zu leiden. Viele trugen selbst hier im Haus (wo stattliche vier Kamine brannten) Wintermäntel, und sehr hungrig fielen sie über ihre heißen Fleischeintöpfe her, die sie wunderbar von innen heraus wärmten.
„Vielleicht ganz gut, dass Südafrika ausgeschieden ist...“, murmelte Maurice Harry zu. „Könnte mir gut vorstellen, dass sie diese Scheiß-Kälte nicht so gut verkraften würden.“
Harry beschränkte sich auf ein leichtes Nicken.
„Haben wir hier auch Möglichkeit, Briefe an unsere Freundinnen zu schreiben, Sir?“, fragte Chris in diesem Moment Dwight. Auch Harry spitzte die Ohren.
„Natürlich!“, nickte Dwight und goss sich noch etwas von dem Pfefferminztee ein. „Und was das angeht: Ich muss Sie beide loben. Dass Sie der Trennung mit solcher Stärke entgegen getreten sind, alle Achtung!“
„Sieht nur von außen so aus.“, grinste Chris. „In Wirklichkeit sind wir kurz davor Selbstmord zu begehen.“
„Wie auch immer, auf der Spitze des Turms hier haben wir einen kleinen Schwarm von speziell dressierten Schneeeulen.“, klärte Dwight sie auf. „Vermutlich werden sie die Briefe auch in kürzerer Zeit überbringen, da wir uns näher an England befinden als noch auf Bangakilu Island.“
„Da ich davon ausgehen kann, dass ihre Mägen nun einigermaßen gefüllt sind...“, meinte Taylor, nachdem das reichliche Abendessen abgeschlossen war, „...ist es wohl Zeit für einige Worte der Erklärung. Wir möchten Sie herzlich dazu beglückwünschen, dass Sie die Zwischenprüfung bestanden haben. Wir sind sehr überrascht, dass nur so wenige von Ihnen die Ihnen anvertrauten Aufgaben bewältigen konnten. Sehen Sie es als hohes Niveau der Aurorenausbildung und auch als große Leistung Ihrerseits.“
„Wie Sie sicherlich bemerkt haben, herrscht hier auf Mjöllnir ein ganz anderes Klima als noch auf Bangakilu Island.“, setzte Boulez hinterher. „Die eisigen Temperaturen mögen noch eine große Belastung für Sie ausmachen, aber Sie werden sich schon daran gewöhnen.“
„In den nächsten sechs Monaten werden wir Sie in ähnlicher Weise unterrichten, wie bereits in der ersten Hälfte Ihres Trainings.“, verkündete nun Dwight. „Konditionstraining und abendliche Duelle werden ihren festen Bestand bei uns behalten. Schließlich wird kein Schwarzmagier Rücksicht darauf nehmen, ob Sie an das jeweilige Klima gewöhnt sind, deshalb ist es wichtig, auch unter diesen Temperaturen geübt im Duell zu sein. Sowohl unter sengender Hitze als auch unter Eiseskälte. Wie Sie sicherlich noch wissen, haben wir in den vergangenen Monaten verschiedene Themen behandelt, wie etwa das Freisetzen der magischen Kraft, den Gebrauch von Angriffs- und Verteidigungszaubern, den Umgang mit magischen Geschöpfen, einige wichtige Tränke und zu guter Letzt die unverzeihlichen Flüche. In unserem Training hier auf Mjöllnir wollen wir unser Hauptaugenmerk auf Bereiche wie stumme und stablose Magie, kluges Handeln unter Stresssituationen, Überleben in der Wildnis sowie die zentralen Aufgaben eines Auroren richten.“
„Wir treffen uns zum Ausdauertraining morgen um neun Uhr auf dem Platz der Magier, hier vor dem Haus.“, erklärte Taylor. „Und nun, marsch ins Bett mit Ihnen oder was immer Sie auch so machen wollen!“
Harry musste sich am Geländer festhalten, als er noch am späten Abend die teilweise zugefrorenen Stufen des steinernen Turms hinauf schritt. Ganz gemächlich setzte er einen Fuß nach dem anderen auf. Der Turm war hoch und der Aufstieg erwies sich als ungeheuer zeitraubend, bis er endlich in der Voliere angekommen war. Ein Geruch von einer gehörigen Menge Eulenmist drang ihm gleich in die Nase, als er die Tür aufstieß und ihn die bernsteinfarbenen Augen von gut einem Dutzend Schneeeulen argwöhnisch betrachteten.
„Dann mal los...“, meinte er aufmunternd zu einer der Eulen, nachdem er ihr einen Brief für Hermine ans Bein gebunden hatte. „Bring das zu Hermine Granger nach Godrics Hollow, okay?“
Der Vogel breitete sogleich die Schwingen aus und segelte aus einer großen Dachluke davon in die rabenschwarze Nacht.
„Sind alle bereit?“, fragte Taylor in die Runde. Neben ihm stand sein Auroren-Kollege Hawkins. Er war im Gegensatz zu Taylor nicht groß und schlaksig, sondern stämmig gebaut und hatte weißblondes statt schwarzes Haar. Erwartungsvoll schaute er die zwölf Aurorenschüler an, die murmelnd zustimmend ihr Einverständnis gaben. Wie Harry und Chris hatten sie sich mit Mänteln, Handschuhen, Schals und Mützen dick und warm angezogen. Besonders die Vertreter Spaniens schienen im Moment nur aus Kleidung zu bestehen und lediglich ihre Augen ließen sich zwischen dem hochgestreiften Schal und der runtergezogenen Mütze erkennen. Andere, wie etwa die Aurorenschüler aus Russland, Finnland und Norwegen hatten sich auf einen dicken Mantel und eine Kopfbedeckung beschränkt und ließen sogar die Handschuhe weg. „Wie ich sehe, kommen Sie unterschiedlich mit der Temperatur zurecht!“, nickte Taylor. „Aber das wird sich bald ändern. Kommen Sie!“
Gemeinsam gingen Sie im Schritttempo los. Taylor vorne weg, dann die Aurorenschüler, zum Schluss Hawkins. Es war schwer, voranzukommen. Der hohe Schnee behinderte sie sehr, und nach nur einer kurzen Weile rieselten noch neue Flocken vom Himmel herab. Bald schon hatte Harry das Gefühl, dass seine Stiefel völlig durchnässt waren. Sie durchquerten eine (ebenfalls komplett weiße) schmale Brücke ohne Geländer und schritten schließlich durch eine Senke zwischen zwei kleinen Bergen und, einige wären beinah abgestürzt, in ein steil abfallendes und tiefes Tal, das wohl die Ausmaße eines Quidditch-Feldes besaß. Es schneite nun schon stärker.
„Das hier ist das Schneetal!“, rief Taylor seinen Schülern zu.
„Ich wär nie auf den Namen gekommen...“, murmelte Chris und sah sich im kompletten Weiß um.
Der Wind hatte hier in der Senke aufgehört. Harry spürte, wie seine Sinne sich schärften und sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufstellten. Irgendetwas war merkwürdig.
„Sie müssen wissen, dass...“ Und Harrys Vorahnung sollte sich als richtig erweisen, als ein roter Zauber Taylor direkt in den Kopf traf und er bewusstlos zusammensackte. Harry und fast alle anderen Aurorenschüler rissen den Kopf in die Richtung, aus der der Fluch gekommen sein musste. Über den Steilhang rannten, wild Flüche hin und her schießend, etwa zehn schwarz gekleidete, vermummte Gestalten hinunter ins Tal. Sie trugen Masken, wie Harry sie erst einmal in seinem Leben gesehen hatte: Auf dem Friedhof von Little Hangleton, als sie auf Voldemorts Befehl zu ihm apparierten. Er brauchte nicht erst den Ruf von Hawkins, der mit gewaltiger Stimme „TODESSER!“, schrie, um seine Gegner zu erkennen. „Schockt sie! Wir brauchen sie lebend!“, rief Hawkins mit lauter Stimme, als Harry bereits nach vorn stürmte und einen Schockzauber auf den ersten Todesser jagte, der ihn noch mitten im Lauf erwischte und zu Boden stürzen ließ. Seine Mitschüler schienen wie aus einer Starre zu erwachen und verteidigten sich ebenfalls. Der Kampf ging länger und war schwieriger, als man hätte vermuten können. Die Todesser wichen, völlig ungeachtet dem hohen Schnee, den auf sie geschossenen Flüchen mehr als einmal leicht aus und Harry hätte gut darauf verzichten können, als Hawkins „Von da kommen auch noch welche!“, rief und von der anderen Seite noch zehn weitere Gestalten herunterliefen. „Denkt dran, wir brauchen sie lebend!“ Harry sah, wie Lars neben ihm, von einem blauen Fluch getroffen, niedersank und hoffte inständig, ihm wäre nichts passiert, als auch schon ein Fluch nur Zentimeter über seinem Ohr entlang schoss und ihn beinah gestreift hätte. Chris kämpfte wie ein Löwe und schickte einen Fluch nach dem anderen auf die Todesser. Der herabfallende Schnee behinderte die Sicht und Harry konnte überhaupt nicht einschätzen, wie viele Gegner sie überhaupt noch bekämpfen mussten. Schließlich ebbte der Kampf ab. Die Geräusche verstummten allmählich, die Zauber hörten auf und sogar der Schnee ließ nach. Jetzt konnte Harry erkennen, dass nur, dicht neben ihm, noch Chris stand, alle anderen, sogar Hawkins, lagen bewusstlos oder vielleicht sogar getötet im Schnee, während von den Todessern noch genug übrig geblieben waren. Harry und Chris stellten sich Rücken an Rücken und hoben kampfbereit erneut ihre Zauberstäbe, während von beiden Seiten noch je fünf verbliebene Todesser langsam und unheilvoll mit ebenfalls erhobenen Zauberstäben auf sie zugingen. Harry überlegte noch, ob er irgendwie die übrigen Auroren, die im Haupthaus waren, benachrichtigen konnte. Wie ein kalter Schauer kam ihm der Gedankenfetzen, dass, selbst wenn er es schaffen sollte, dort nur noch drei Auroren zum Kampf bereit wären. Dwight sowie seine beiden Kollegen aus Frankreich. Die Todesser schlossen ihren Ring enger um die beiden. Der Todesser, der ihm am nächsten war, lachte laut auf und mit einem Mal flammte Zorn in Harry auf.
„Stupor!“
Wie eine Pistolenkugel schoss der Fluch aus seinem Zauberstab, wurde von dem Schild des Todessers jedoch mühelos abgeblockt.
„Man richtet den Zauberstab nicht auf seinen Lehrer!“, tadelte ihn die Person. „Aber ich bin stolz, dass Wenders und Sie bis zum Schluss durchgehalten haben.“ Damit zog er seine Maske ab und das grinsende Gesicht von Dwight erschien dahinter. „Boulez war eigentlich nicht für diesen Plan. Ihm war es zu riskant, dass sie vermeintliche Todesser wohl auch töten würden. Aber Hawkins hat ihnen ja laut und klar zu verstehen gegeben, dass sie uns lebend erwischen sollen.“
Es fiel Harry wie Schuppen von den Augen. Es hatte hier nie Todesser gegeben. Wo sollten sie auch herkommen und vor allen Dingen wie? Aber die plötzliche Situation hatte keine Zeit zum Nachdenken gelassen. Auch dass Taylor sich freiwillig von einem Schockzauber hatte treffen lassen (wobei er im Nachhinein Boulez anschnauzte, was ihm einfiele, diesen ausgerechnet auf seinen Kopf zu jagen) hatte an der Glaubwürdigkeit der gelungenen Inszenierung beigetragen. Die übrigen maskierten Gestalten hatten nun ebenfalls ihre Masken abgenommen und er erkannte einige Auroren aus dem Ministerium, wie Lesnie und Gilbert, aber auch viele Personen, die er noch nie gesehen hatte.
„Ich hielt diese Übung für sinnvoll.“, erklärte Dwight seinen beiden Schülern. „Schließlich werden Sie als Auroren auch in spontanen Situationen kämpfen müssen, und Sie werden sich auch in unvorbereiteten Fällen verteidigen müssen. Dass dies mehr als nötig war, wurde ja vor Augen geführt. Ich hatte mit wesentlich mehr Verlusten auf der Todesser-Seite gerechnet!“, lachte er. „Obwohl Sie Wenders, mich mit ihrem Schleuderfluch ganz übel am Oberschenkel getroffen haben. Sie haben mir ja beinah das Bein ausgekugelt!“
„Hallo Harry.“ , sagte plötzlich eine Stimme hinter Harry, die er schon ewig lange nicht mehr gehört hatte. Er wirbelte herum. Hinter ihm standen, ebenfalls in schwarze Umhänge gehüllt und die Todessermasken noch in Händen haltend, ein Mann und eine Frau.
„Tonks!“, rief er überrascht. „Remus!“
„Schön dich zu sehen.“, lächelte Lupin, als Harry sich auch schon auf die beiden stürzte und sie fest umarmte. Es gab nur sehr wenige Leute, zu denen er ein inniges oder freundschaftliches Verhältnis hatte, von denen er wusste, dass sie ihn mochten und voll unterstützten. Eigentlich waren da nur Chris und in geringerem Ausmaße auch Lavender und Julia, auch Ron gehörte inzwischen wieder dazu, Hagrid und Dumbledore, auch Tonks und Lupin und natürlich allen vorweg Hermine. Und bis auf Chris hatte er keinen von ihnen über sechs Monate lang zu Gesicht bekommen. Es tat gut, endlich wieder bekannte Leute zu sehen.
„Wir wollten doch mal sehen, wie sich Englands bester Aurorenschüler so macht.“, lächelte Lupin. Chris sah in eine andere Richtung und tat, als hätte er nicht zugehört.
„Es läuft gut!“, nickte Harry.
„Obwohl die kleine Miss Granger schon fehlt, nicht wahr?“, fragte Tonks mit einem spitzbübischen Lächeln. Ihr Lächeln steckte an und wieder nickte Harry.
„Du hättest sie mal sehen müssen, Tonks...“, grinste Lupin. „Vor dem Kamin in ihrem Schlafsaal in Hogwarts...wie verliebt die beiden da miteinander gekuschelt haben...“
„Du meinst, als du Harry abgeholt hast zu diesem Fiasko in Afrika? Wo ihn eine Chimära fast umgebracht hätte?“, giftete seine Frau ihn an.
Lupin sah betreten zu Boden. Man sah, dass ihn die Erinnerung noch quälte.
„Es tut mir Leid, Harry...“, murmelte er. „Ich glaube, ich habe mich nie richtig dafür entschuldigt, was damals passiert ist. Aber ich war so sicher und hatte gehofft, wir beide würden mit einem schnellen Kampf alles entscheiden.“
„Ist schon gut, Remus!“, versicherte Harry. „Schnee von gestern!“
„Möglicherweise...“, grinste Tonks und blickte sich in der weißen Pracht um. „Vielleicht aber auch von heute.“
„Oh, ganz vergessen!“, rief Harry und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Herzlichen Glückwunsch! Hermine hat es mir geschrieben.“
„Danke, Harry.“, lächelte Tonks. „Wir würden dich diesbezüglich gern noch einmal sprechen. Ken, darf ich deinen begabtesten Schüler für den Rest des Vormittags mal ausleihen?“
Dwight, der damit beschäftigt war, die geschockten Aurorenschüler wieder zu erwecken, sah mit einem Stirnrunzeln auf.
„Aber Tonks, das hier ist immerhin ein internationales, faires Training. Gleiche Bedingungen für...“
„In Merlins Namen, jetzt stell dich nicht so an!“, zischte Tonks. „Das ist jetzt wichtig. Du musst nicht so spießig sein wie Owen, bloß weil du jetzt Leiter der...“
„Ist ja gut!“, unterbrach Dwight sie. „Meinetwegen nehmt Potter mit. Aber nach dem Mittagessen ist er bei dem Training wieder dabei!“
„Abgemacht! Kommst du, Harry?“
Gemeinsam gingen die drei zurück zum Platz der Magier, während die übrigen weiter die Insel erkundeten.
„Wie läuft es zuhause?“, fragte Harry. „Was ist mit Hermine?“
Lupin und Tonks lächelten sich gegenseitig zu.
„Sie hat uns einmal besucht und wir sie.“, antwortete Tonks. „Sie war froh über Gesellschaft und sie vermisst dich wirklich schrecklich, das hat man gemerkt.“
„Sie hat uns erzählt, dass sie kurz davor sei, ins Ministerium zu rennen und alles und jeden zu verfluchen, bis sie endlich erfährt, wo du steckst!“, fügte Lupin grinsend hinzu. „Ein bisschen geweint hat sie auch. Sie meinte, dass sie danach nie wieder von dir getrennt sein will und dass es besonders schwer für sie sei. Seit ihr euch kennengelernt habt, seid ihr noch nie so lange auseinander gewesen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr mittlerweile eine Beziehung miteinander habt.“
„Was auch viel früher hätte passieren können!“, bemerkte Tonks mit einem hinterhältigen Lächeln. „Haben Remus und ich damals oft gesagt, nicht wahr Schatz? Am Grimmauldplatz?“
„Allerdings. So verliebt, wie ihr euch immer angeschaut habt...“
Harry schmunzelte. Das gefiel ihm. Und es gefiel ihm auch, dass Hermine ihn scheinbar ebenso vermisste wie er sie, auch wenn er ein bisschen deprimiert darüber war, dass sie manchmal weinen musste. Er wollte nicht, dass sie weinte. Aber er verstand das nur zu gut. Er selbst war manchmal kurz davor gewesen. Gerade wo sie bereits ein Jahr gemeinsam in einem Haus gewohnt hatten und davor fast ein ganzes Jahr zusammen im Schlafsaal der Schulsprecher in Hogwarts, hatten beide sich sehr an die traute Zweisamkeit gewöhnt, in der ihre Liebe kein Stück abgenommen, sondern wenn überhaupt möglich noch größer geworden war. Ihm machte die lange Trennung nicht weniger zu schaffen als ihr. Ganz abgesehen vom Sexuellen, worauf ihn sein Körper nicht nur morgens und abends im Bett, sondern eigentlich permanent aufmerksam machte, war es noch viel mehr: Sie zu umarmen, sie zu küssen, morgens in ihr lächelndes Gesicht zu schauen, wie sie sich abends vor dem Schlafen gehen an seine Brust schmiegte, sie zu beobachten, wie sie friedlich schlummerte, mit ihr in Bett oder auf dem Sofa gemeinsam zu kuscheln, mit ihr gemeinsam zu lachen, sich zu unterhalten, ihr bei der Unterhaltung über den Rücken und den Bauch zu streicheln, an ihrem Haar zu riechen, ihr zuzusehen, wenn sie mit gerunzelter Stirn in einem schwierigen Fachbuch fürs St. Mungo büffelte, ihr strahlendes Lächeln, wenn sie Harry etwas kochte oder ihm ein Geschenk machte, ihr nicht weniger strahlendes Lächelnd, wenn er ihr ebenfalls ein Geschenk machte, aber auch ihre hilfreichen Ratschläge, die er in ganz frühen Jahren als Besserwisserei betrachtet hatte, ihre Tapferkeit und ihre Treue, ihr Humor oder auch einfach nur ihre starke Liebe, ihr lasziver Blick und ihre leicht heisere, erotische Stimme wenn sie ihn verführen wollte oder auf seine eigenen Versuche einging, ihr Lächeln, wenn sie ihn ärgerte....Harry hätte noch Stunden damit verbringen können aufzuzählen, was er an Hermine alles vermisste. Doch Tonks und Lupin ließen ihm keine Zeit dafür und wollten von Harry alles über seine Zwischenprüfung erfahren. Harry berichtete in allen Einzelheiten, und als die drei am Haupthaus angekommen waren, hatte er seine Geschichte gerade beendet.
„Eigentlich hab ich's gar nicht verdient, bestanden zu haben.“, murmelte er. „Ohne Chris hätte der Opalauge mich kaltgemacht.“
Tonks lächelte.
„Harry, glaubst du denn im Ernst, dass sie von einem Aurorenschüler erwarten, alleine einen Drachen umzulegen? Man ist davon ausgegangen, dass ihr euch ein wenig unter die Arme greift. Es war nicht nur eine Prüfung um euer Kampfgeschick und euren Verstand zu testen, sondern auch, ob ihr euch in den letzten Monaten sozial engagiert habt und Freunde gewonnen habt, die euch zu Hilfe kommen würden. Das hast du doch, oder?“
„Ja...“, murmelte Harry. Sicher, er war nie groß Freund geworden mit jemand anderem von seinen Mitschülern als Chris, aber es gab dennoch Leute, mit denen er sich besonders gut verstand und die ihm auch sehr sympathisch waren. Lars aus Norwegen zum Beispiel. Und Thomas aus Deutschland auch. Und irgendwie gehörte auch Maurice aus Frankreich dazu, obwohl er ein bisschen zu überheblich für Harry war und ihn doch unangenehm stark an Draco Malfoy erinnerte. Mit den übrigen verband ihn aber nichts Besonderes.
„Stimmt es, dass Moody jetzt wieder im Ruhestand ist?“, fragte er. Tonks nickte.
„Ja. Mad-Eye hat entschieden, dass es jetzt genug ist. Er hat noch ein Jahr weitergemacht, weil er mit einem großen Racheakt der Todesser gerechnet hat, aber jetzt ist ihm wohl endgültig die Lust vergangen. Er meint, wäre er noch ein bisschen jünger gewesen, hätte niemals irgendjemand Askaban angreifen können.“, erklärte Tonks, während sie nicht dem rechten Korridor (der zum Speisesaal führte) sondern dem linken folgten und über eine mit Holz getäfelte Treppe in den ersten Stock kamen, wo Lupin eine breite Flügeltür aufstieß, hinter der eine Art Arbeitszimmer war. Auf der einen Seite stand ein großes Feindglas, in einer Ecke surrte ein Spickoskop vor sich hin und im Zentrum stand ein großer Schreibtisch, übersät mit Tintenflecken und Pergamentrollen. Davor war eine kleine Wiege, neben der fürsorglich ein Hauself, bewaffnet mit Fläschchen, Schnuller, Teddybär und Ersatzwindeln, bereitstand.
„Danke Wolber...“, nickte Tonks ihm zu. „Du kannst gehen.“
„Sehr wohl, Mrs. Lupin!“, nickte der Hauself und verschwand wie aus dem Nichts. Lupin ging zur Wiege und hob lächelnd ein kleines Bündel hervor. Harry wusste nicht, wie er reagieren sollte, und deshalb fragte er:
„Hier gibt es Hauselfen?“
„Natürlich!“, meinte Lupin „Was glaubst du denn, wer dein Abendessen hier kocht? Hermine?“
„Möchtest du ihn auch mal halten, Harry?“, fragte Tonks, die Harrys Blick auf das Bündel in Lupins Arm bemerkt hatte.
„Ja...“, flüsterte Harry und sehr schüchtern nahm er das Baby entgegen. Das Neugeborene war erst anderthalb Monate alt, und schlief augenscheinlich tief und fest, doch als Harry es in den Arm nahm, schlug es die Augen auf, die sofort von blau in braun wechselten.
„Er heißt übrigens Ted...“, hauchte Tonks Harry zu. „Nach meinem Vater. Und er ist auch ein Metamorphmagus.“ Als wollte Ted ihre Aussage bestätigen, zog sich seine Nase plötzlich in die Länge und wurde ganz schmal.
„Das lernt er noch...“, grinste Tonks.
„Zum Glück hat er mehr von seiner Mutter als von seinem Vater geerbt.“, schmunzelte Lupin, worauf Tonks ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Ted schmatzte und schaute neugierig auf den unbekannten Mann, der ihn im Arm hielt. Harry hatte das Gefühl, als würde sein Herz aufklappen. Wie schön es wirklich war, ein Kind haben zu dürfen, wurde ihm in diesem Moment überdeutlich bewusst, und er freute sich schon darauf, irgendwann einmal selbst mit Hermine einen Sohn zu haben.
„Er mag dich...“, meinte Tonks.
„Ich mag ihn auch...“, erwiderte Harry und wiegte den kleinen Ted leicht hin und her.
„Wir haben uns etwas überlegt, Harry...“, fuhr Tonks fort und sah mit einem Mal sehr nervös aus, was Harry noch nie bei ihr gesehen hatte. Unruhig knetete sie ihre Hände. „Du musst natürlich nicht, aber weil du so ein guter Freund von Remus und mir bist...möchtest du vielleicht Teds Pate werden?“
Überrascht sah Harry sie an. Er war immerhin erst neunzehn. Aber andererseits damit in der Zaubererwelt schon zwei Jahre lang volljährig, hatte ein Haus und genug Geld und eine wundervolle Frau an seiner Seite, Aussicht auf einen gutbezahlten Beruf und außerdem mochte er die beiden (und Ted nun auch) sehr gern.
„Ja.“, nickte er lächelnd. „Ja, ich möchte sehr gerne Teds Pate sein.“
Wieder schaute er auf den kleinen Jungen in seinen Armen, und konnte kaum glauben, dass er auch einmal so klein gewesen sein musste. Teds Augen (diesmal ebenso smaragdgrün wie seine) schauten ihn immer noch voll Neugier an.
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