von Wizardpupil
„Der Trank ist bereit, mein Lord.“
Der Dunkle Lord öffnete – endlich, nach zehn Minuten – seine Augen. Obwohl er all seine Macht genutzt hatte, um den Ursprung des Triumphgefühls zu entdecken, hatte er den Grund nicht finden können. Gab es überhaupt einen? War es möglich, dass er sich dieses Gefühl nur eingebildet hatte?
All diese Gedanken schon er für einen Moment zur Seite. Severus war zu ihm gekommen und hatte ihm endlich die Worte gesagt, auf die er so lange gewartet hatte.
„Ist er das?“ Mit einer lautlosen Bewegung erhob er sich von seinem Thron.
„Ich bin mir sicher“, sagte Severus, „Herr.“ In seinen Händen hielt er einen silbernen Krug. Aus dessen Inneren drang ein helles Leuchten; ein Leuchten von einer Farbe, die eigentlich gar nicht so sollte strahlen können.
„Hervorragend … ganz hervorragend! Gib ihn mir!“
Severus kam zu ihm, verbeugte sich und hielt ihm den Krug hin. Er nahm ihn in beide Hände, sah hinab in die Flüssigkeit. Das schwarze, schwarze Wasser, das strahle wie die Sonne. Unmöglich – und doch wahr.
„Die Macht der Liebe, nicht wahr?“ Der Dunkle Lord schmunzelte. „Cruelo Cupido … Das ist es. Nun – nicht ganz. Eine Zutat fehlt noch, nicht wahr?“
Severus antwortete nicht.
„Auf eine seltsame Weise kann ich verstehen, warum du nicht bereit bist, diese letzte, wichtigste Zutat selbst hinzuzufügen … Aber Severus, du solltest auch wissen, dass du sie damit bloß ehren würdest.“
Er zog seinen Zauberstab und machte eine schweifende Bewegung in Richtung der Dunkelheit, in der der größte Teil des Raumes lag. Angezogen von dem magischen Ruf, schwebte der kleine Tisch auf sie zu. Und auf ihm stand die glänzende, goldene Schatulle, in der der Dunkle Lord nun schon so lange dieses kostbare Stück aufbewahrt hatte … Er öffnete die Schatulle, nahm es heraus. Es sah aus, als könne es jederzeit wieder zu pulsieren beginnen.
„Ein Herz …“ Der Dunkle Lord runzelte seine Stirn. „Wie seltsam. Ausgerechnet für einen Trank wie diesen ist es notwendig, einem Menschen sein Herz zu entreißen. Dann auch noch das Herz eines Menschen, der zu lieben fähig war – das war der, dem dieses hier gehört, bestimmt. Das wissen wir beide ganz genau, oder, Severus?“
Severus ließ sich in keiner Weise anmerken, ob er ihm zugehört hatte oder nicht.
„Bin ich entlassen, mein Lord?“
„Bist du, Severus, bist du … Aber sieh zu, dass du da bist, wenn ich den Trank einnehme. Das wird keiner von euch verpassen wollen.“
Der Dunkle Lord sah Severus hinterher, während dieser den Raum verließ. Er war ihm treu ergeben, dieser Severus Snape, und er war auf dem richtigen Weg … aber wie ihm dieses Herz immer noch zu Leibe rückte, das schien nicht gut zu sein. Er würde es schon noch lernen.
Der Dunkle Lord stellte den Krug auf dem Tisch neben der Schatulle ab. Und dann endlich war es soweit. So viele Monate hatte er warten müssen. Nun würde er den Zaubertrank, einer der wichtigsten Teile seiner Pläne, endlich fertig stellen.
Er legte das Herz in die schwarze Flüssigkeit, berührte den Krug mit der Spitze seines Zauberstabs. Und er sagte:
„Cruelo Cupido!“
Das Herz schien in den Trank einzuschmelzen, innerhalb nur einer Sekunde. Und sofort veränderte sich seine Farbe. Aus dem grellen Schwarz wurde ein tiefes, dunkles Rot. Dasselbe Rot wie das des Herzen, das er gerade darin versenkt hatte.
Der Zauber war vollbracht. Der Zaubertrank war gebraut. Nun musste nur noch das Herz endgültig einwirken.
Und dann war der Trank fertig.
Bedrückende Stille lag über ganz Hogwarts. Der Mond verschwand hinter einer dichten Wolkenmasse, und im Schulleiterbüro war es stockdunkel. Harry beschwor ein Feuer im Kamin herauf, bevor er sich erwartungsvoll wieder Dumbledore zuwandte. Er begann sofort zu sprechen.
„Die Wichtigkeit der Totenrelikte“, sagte er, „habe ich nie betont erwähnt – weil ich nicht glaube, dass sie wirklich besteht. Mehrmals habe ich dir deutlich erklärt, dass sie nur eine zusätzliche Arbeit für euch sind, die euch darüber hinwegtrösten soll, solltet ihr bei der Suche nach den Horkruxen nicht so viel Erfolg haben. Ich war mir sicher, dass du diese neue Aufgabe nicht überschätzen würdest, und dass du dich weiterhin auf das Wesentliche konzentrieren würdest. Und auch wenn du erst einen Horkrux gefunden hast, habe ich das Gefühl, meine Annahme erwies sich als richtig.
Andererseits …“ Er schloss seine Augen erneut. „… habe ich mir erhofft, du würdest dich durch das Thema der Totenrelikte ein wenig näher mit dem der Liebe beschäftigen, Harry, und dem der Seele an sich.“
„Hermine hat ihnen also erzählt, dass ich das nicht getan habe?“, fragte Harry in provokantem Tonfall.
„Um ehrlich zu sein, nein.“
Harry stutzte. „Nein?“
„Nein“, sagte Dumbledore erneut, „nicht Hermine hat mich über diesen Umstand unterrichtet. Professor Viridian war das.“
„Viridian? Er hatte Kontakt zu Ihnen?“
„Da ich ihn darauf angesprochen habe, der neue Lehrer für Verteidigung zu werden, hatte er sogar viel Kontakt zu mir. Früher mehr als heutzutage – aber um so viel früher, dass er es schon fast vergessen zu haben scheint …“
„Sie haben ihn zum Lehrer ernannt?“ Harry wusste nicht, warum ihn das so erstaunte. Das war Albus Dumbledore: Natürlich hatte er noch über seinen Tod hinaus Einfluss auf die Vorgänge in der Schule. Aber als ehemaliger Schulleiter die Lehrerwahl mitzubestimmen … war das normal?
„Ansonsten wäre er wohl nicht gekommen“, antwortete Dumbledore; es schien ihm schwer zu fallen, zu sprechen. „Unser Verhältnis war nicht das allerbeste, aber es reichte gerade aus, um ein Gespräch zwischen uns zu arrangieren. Und in diesem Gespräch habe ich ihm klar gemacht, warum er unterrichten muss in diesem Jahr.“
„Wel- welches Verhältnis?“ In keinem Gespräch mit Dumbledore hatte Harry ihm jemals so wenig folgen können wie jetzt. „Wovon reden Sie?“
Dumbledore gab ein leises, klagendes Geräusch von sich. „Es ist nicht einfach, davon zu sprechen. Selbst wenn ich es dir sagen sollte, Harry, dann bitte nicht jetzt. Lass uns erst die wichtigen Dinge besprechen.“
Harry wollte nicht so schnell aufgeben, aber bevor er ein weiteres Wort von sich geben konnte, fuhr Dumbledore schon fort.
„Ich wollte, dass du mehr über Liebe und Seele, Leben und Tod – uralte Magie nachdenkst, und dass du dich mit Professor Viridian darüber unterhältst. Nicht, weil dir das mit den Horkruxen und Voldemort sehr viel gebracht hätte. Sondern nur, weil du dann vielleicht mehr verstehen würdest, mehr erkennen könntest – Dinge, die ich dir auch einfach erzählen kann, was aber wohl nicht die notwendige Wirkung erzielt hätte.“
„Was zum Teufel –“
„Die Totenrelikte –“, unterbrach ihn Dumbledore, „– der Gründer können dir möglicherweise helfen. Ich bin mir nicht sicher. Aber ich halte es für äußerst wahrscheinlich. Vier Objekte, deren magische Eigenschaften durch eine aus reiner Liebe auf sie übertragene, unsterbliche Seele entstanden sind –“
„Was bedeutet das mit der Unsterblichkeit nun?“, fiel Harry ihm ins Wort. „Was bringt mir das? Zerstören kann man sie doch trotzdem!“
„Wenn sie zerstört werden, werden die Seelenteile darin nichts tun als zu ihrem Ursprung zurückkehren“, sagte Dumbledore. „Sie werden Godric Gryffindor, Rowena Ravenclaw, Salazar Slytherin und Helga Hufflepuff wiederfinden, egal, wo sie sind, und zu ihnen zurückkehren. Ich denke nicht, dass ihre Magie dadurch aufhört zu wirken, wenn du sie erst einmal aktiviert hast.“
„Und wie soll ich das machen?“ Langsam wurde Harry verzweifelt: Nicht nur redete Dumbledore belangloses Zeug, er schien auch etwas ganz Wichtiges nicht zu begreifen. „Wir haben Hufflepuffs Becher nicht! Ich dachte, man müsse die Relikte vereinen!“
„Du wirst schon bald Hufflepuffs Becher in Händen halten, das wage ich zu versprechen.“
Nein, Harry verzweifelte nicht, er war bereits verzweifelt, musste sich zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. „Aber wie kommen Sie darauf?“
„Das wirst du schon bald sehen.“
„HÖREN SIE AUF DAMIT!“
Harry war wieder auf seinen Beinen. Es war ihm nicht möglich gewesen, länger zu sitzen, sich länger zurückzuhalten. Wie konnte Dumbledore glauben, er ließe sich mit solchen dämlichen Kommentaren abschütteln? Wie konnte Dumbledore ernsthaft denken, es wäre Zeit für ein solch sinnloses Gespräch, wenn Voldemort wahrscheinlich kurz davor war, seine letzten Trümpfe auszuspielen?
Aber bevor Harry noch etwas schreien konnte, bevor Dumbledore wieder mit seiner merkwürdigen Rede beginnen konnte, öffnete sich die Tür zum Büro. Harry drehte sich um: Hermine und Neville kamen herein. Neville sah gar nicht gut aus; sein Mund stand offen, seine Augen schienen nichts Bestimmtes anzusehen, und er machte einen kleinen Buckel, als wüsste er nicht mehr, wie man sich aufrecht hielt.
„Ich bin gekommen so schnell ich konnte“, entschuldigte sich Hermine. „Neville – nun, ihm geht es nicht besonders, und Madame Pomfrey sagt, er muss bald wieder zurück in den Krankenflügel.“
Sie führte ihn langsam zu dem Stuhl, von dem Harry gerade aufgestanden war, und half ihm dabei, sich auf ihn zu setzen. Dann ließ sie etwas Kleines aus ihrer Hand auf den Schreibtisch fallen, richtete ihren Zauberstab darauf – und das Kleine fing an, mit rasender Geschwindigkeit zu wachsen. Schon lagen Godric Gryffindors Schwert, Salazar Slytherins Medaillon und Dumbledores Denkarium neben Ravenclaws Zepter.
„Gut“, sagte Dumbledore, „nun, da Mr Longbottom hier ist, werden die Dinge vielleicht schnell klarer für dich werden, Harry.“
„Aber wieso?“
„Das wirst du schon bald ver-“
„SAGEN SIE NICHT SOWAS!“
Jetzt hatte er genug; wie konnte Dumbledore glauben, diese Nacht wäre der richtige Zeitpunkt, um auf Harrys Fragen nicht einzugehen? Um ihn zappeln zu lassen, obwohl Voldemort jeden Moment angreifen könnte?
„Ich verstehe, warum du dich so aufregst, aber –“
„GAR NICHTS VERSTEHEN SIE!“
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
„Harry, bitte“, sagte Hermine in sein Ohr, „bitte beruhig dich. Komm, setzen wir uns.“
Sie verzog konzentriert ihr Gesicht, malte mit der Spitze ihres Zauberstabs zwei etwas wackelige Formen in die Luft, und auf dem Boden vor ihr landeten zwei unbequeme Holzstühle.
„Ich kann es noch nicht besser“, sagte sie errötend, „tut mir Leid …“
„Das Ergebnis Ihres Zaubers ist weit mehr als zufriedenstellend, Miss Granger. Und nun nehmt bitte Platz.“
Hermine setzte sich sofort, und auch Harry zögerte nicht lange. Er wollte nicht einmal noch etwas erwidern; die ganze Sache wurde ihm zu blöd.
Dumbledore sah die beiden einen Moment länger an, dann wandte er sich an Neville. „Mr Longbottom, hören Sie mich?“
Neville nickte, aber seine Augen nahm er nicht von dem Nichts, in das er starrte, und er sagte kein Wort.
„Ich weiß, Sie haben heute Nacht einiges durchgemacht. Und schon als Kind ist Ihnen Schreckliches nicht erspart geblieben. Aber Sie sollen wissen, dass Sie das Richtige getan haben, als Sie Bellatrix Lestrange nicht angriffen, auf Ihre Rache zu verzichten – eine Tat, die genauso viel Weisheit wie Mut verlangt.“
Harry dachte darüber nach, ob Dumbledore möglicherweise deshalb Neville geholt hatte: Um in diesem Seitenhieb, den er gerade gemacht hatte, Harry mitzuteilen, wie dumm und feig es damals von ihm gewesen war, sich nach Sirius‘ Tod an Bellatrix rächen zu wollen. Aber so etwas Schwachsinniges, Unnötiges würde nicht einmal Dumbledore einfallen zu einer Zeit wie diesen.
Neville zeigte keine Reaktion auf Dumbledores Worte.
„Mr Longbottom, ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen, die Sie als merkwürdig empfinden könnten. Hören Sie mir immer noch zu?“
Kurz schien es, als würde er nicht antworten – dann aber nickte er. Und sagte schließlich sogar: „Ja. Ja, ich höre Sie.“ Aber seine Augen blieben dorthin gerichtet, wo sie waren.
„Gut. Meine Frage lautet – haben Sie ihre Kröte bei sich?“
Ganz egal, womit Harry gerechnet hätte – wahrscheinlich wäre ihm gar nichts eingefallen, was Dumbledore möglicherweise fragen könnte – das wäre es sicher nicht gewesen. Er sah hoch zu Dumbledores Porträt, sah zu dem alten Mann, der darin saß, und wusste, dass seine Miene seine Gedanken verraten musste – war Dumbledore jetzt völlig verrückt geworden?
Als er sich wieder an Neville wandte, erkannte er ähnliche Gedanken bei diesem – nur vielleicht weniger extrem. Neville war nur offensichtlich sehr verwirrt.
„J-ja.“ Er griff in seine Tasche und zog einen kleinen grünen Gegenstand heraus, den er auf seinen Schoß legte: Es war der Käfig, in dem seine Kröte Trevor lebte. „Gestern Abend bin ich sofort zu dem Gewächshaus gegangen, in dem er gewohnt hat, hab den Käfig wieder auf seine originale Größe geschrumpft und ihn eingesteckt, damit ihm nichts passiert.“
Ein plötzlicher Anflug von Schuldgefühlen durchströmte Harry, der mit diesem Gespräch nichts zu tun hatte. Er hatte Hedwig vergessen!
„Die Eulen haben wir übrigens weggeschickt“, sagte Neville da zu Harry, als hätte er seine Gedanken gelesen. „McGonagall hat Hedwig gesagt, sie soll in den Grimmauldplatz fliegen.“
Harry nickte, aber er war nicht fähig, das Lächeln, das Neville ihm mit Mühe zeigte, zu erwidern. Zwar war er erleichtert, dass es Hedwig gut ging – aber es war nicht er gewesen, der daran gedacht hatte, sie in Sicherheit zu bringen …
„Was wollen Sie denn nun von meiner Kröte?“ Nun sah Neville Dumbledore an.
„Dazu kommen wir gleich“, sagte Dumbledore. „Lassen Sie mich erst einmal etwas erklären. Vor bald zehn Jahren besuchte mich Ihre Großmutter hier in Hogwarts. Sie kam, um mir von Ihren furchtbaren Albträumen und Angstzuständen zu erzählen, an denen Sie seit der Folterung Ihrer Eltern litten. Sie kam, um ihre Besorgnis auszudrücken, dass diese Ängste möglicherweise der Grund waren, warum Ihre magischen Fähigkeiten so lange unterdrückt gewesen waren.“
„Was?“ Neville legte die Stirn in Falten. „Ich kann mich an keine Albträume erinnern – eigentlich war ich sogar immer ein bisschen besorgt, weil ich mir so wenige Gedanken um meine Eltern machte. Meine Oma hat immer gesagt, das läge daran, dass ich noch so klein gewesen bin, als es passiert ist.“
„Ja, das ist es, was Sie heute denken. Die Wahrheit ist die: Ihre Großmutter hat mich um einen großen Gefallen gebeten. Sie wollte, dass ich etwas tue, um Ihre Ängste zu beenden. Dass ich – Ihre Erinnerungen an die Nacht, in der die Todesser Ihre Eltern angegriffen haben, egal, wie gering sie auch sein mochte, löschen sollte. Und ich habe zugestimmt.“
Neville schien zu erstarren.
„Ich dachte damals, Ihnen die schwierige Aufgabe zu nehmen, selbst mit Ihren Erinnerungen fertigzuwerden, Sie davor zu bewahren, sich mit Ihren Erlebnissen auseinanderzusetzen, sei das Richtige. Aus diesem Fehler habe ich glücklicherweise gelernt.“
Das war definitiv ein Seitenhieb auf Harry – Dumbledore sah sogar für einen winzigen Augenblick zu ihm.
„Ich habe Ihrer Großmutter damals klar gemacht, welche Risiken Erinnerungszauber in sich tragen. Dass es möglich war, dass Ihre magischen Fähigkeiten danach nur noch stärker abfallen würden, dass Ihr Gedächtnis möglicherweise dauerhaften Schaden nehmen könnte. Aber Augusta hatte es entschieden. Sie hat zu mir gesagt, alles wäre in Ordnung, solange Sie nur nicht weiterhin von den Erinnerungen geplagt werden. Wie gesagt, habe ich ihr damals Recht gegeben. Ich habe einen Erinnerungszauber ausgesucht, der mir am geeignetsten schien – den, der die wenigsten Risiken in sich barg. Aber ein Problem gab es mit diesem Zauber: Die Erinnerungen durften nicht einfach ins Nichts verschwinden. Sie mussten auf ein anderes Lebewesen übertragen werden.“
Mit einem Mal war Harry klar, worauf das alles hinauslief. Erfüllt von Schock starrte er erst auf Dumbledores Porträt, in das unglaublicher Weise vollkommen ruhige Gesicht dieses Mannes; dann wandte er sich an Hermine, deren konzentrierter, neugieriger Blick ihm verriet, dass sie schon viel früher verstanden hatte als er, und die nicht einmal annähernd so schockiert zu sein schien wie er; und letztlich sah er zu Neville. Der teilte sein Empfinden. Entsetzen zog sich durch sein Gesicht wie ein Schleider, der darüber gelegt wurde. Er gaffte Trevor an, der in seinem Käfig umhersprang auf der Suche nach einer Spalte zwischen den grünen Gitterstäben, durch die er flüchten konnte.
„Eine Woche zuvor“, sagte Dumbledore, „hat Ihr Großonkel Ihnen diese Kröte geschenkt.“
„Nein …“ Neville schüttelte seinen Kopf, als wäre er in einer Art Wahn, als glaubte er, so könne er ungeschehen machen, was Dumbledore hier erzählen wollte. „Nein – Sie haben nicht …“
„Ich befürchte, ich habe.“ Wenigstens war Dumbledores Stimme nun nicht mehr so ruhig; sie klang schwer, beladen mit einem Gefühl, das Harry nur allzu gut kannte. Die Schuld … ein bitterer Geschmack, nicht wahr, Dumbledore?
„Soll das heißen …“, murmelte Neville, aber er wurde immer lauter. „Soll das heißen, dass Trevor deshalb immer versucht, von mir wegzulaufen, weil sie –“
„Wie viel mehr die Erinnerungen an die Nacht damals diese arme Kröte plagen müssen, als sie Sie geplagt hätten, können wir uns wohl kaum vorstellen“, sagte Dumbledore, und die Trauer, die Harry hörte, war so echt, dass sie sogar ihn noch mehr schaudern ließ. „Ihr Trevor wusste nicht anders mit diesen Bildern, die Tag und Nacht durch seinen Geist schossen, umzugehen, und wollte sich verstecken, wie jedes Tier es in Panik versucht.“
„Nehmen Sie die Erinnerung von ihm.“ Neville war aufgestanden, legte den Käfig neben die Relikte und das Denkarium. „Auf der Stelle!“
Die Art, wie Neville diese Worte sagte, jagte ihm einen neuen Schrecken ein. Dieser befehlende Tonfall – Tom Riddle hatte im Waisenhaus so ähnlich geklungen …
„Genau das hatte ich vor, Mr Longbottom.“ Hinter den Halbmondbrillen schimmerten Dumbledores Augen – Tränen standen darin. „Ich kann mich nur noch einmal für das entschuldigen, was ich Ihnen und Ihrer Kröte angetan habe –“
„Nehmen Sie die Erinnerung von ihm!“, wiederholte Neville, noch lauter, noch wütender.
„Ich selbst kann das jetzt nicht mehr“, sagte Dumbledore. „Ich bin tot, und kann von diesem Porträt aus nicht zaubern – aber Harry kann Ihrer Kröte helfen.“
„Ich? Wieso ich?“
„Du hast bereits gesehen, wie ich meinem Kopf Erinnerungen entnommen habe. Trevor wird die Bilder bestimmt die ganze Zeit vor Augen – er hat wahrscheinlich keine andere Wahl, als sich auf diese Gedanken zu konzentrieren.“
„Aber wird das nicht nur ein Abbild der Erinnerung schaffen?“, fragte Hermine. „Ich meine – er wird sie doch weiterhin behalten.“
„Professor McGonagall wird sich um den Rest des Zaubers kümmern“, sagte Dumbledore. „Was natürlich bedeutet, dass Sie, Mr Longbottom, die Erinnerung wieder in sich tragen –“
„Das ist gut.“ Neville wandte sich an Harry. „Jetzt mach bitte.“
„Aber – und was – muss ich …“ Er sah sich nach Hermine um; er hatte zwar tatsächlich Dumbledore schon beim – was war es? Erzeugen, Extrahieren? – Entziehen von Erinnerungen beobachtet, hatte aber keine Ahnung, welcher Zauberspruch dafür notwendig war.
„Ich mach schon.“ Hermine erhob sich aus ihrem Stuhl – aber Harry hielt sie zurück.
„Nein“, sagte er. „Nein, ich – ich will’s versuchen.“
Er wusste nicht, was ihn dazu veranlasste. Aber er hatte das Gefühl, es in jedem Fall selbst schaffen zu wollen. Nach einem Blick auf Dumbledore – der mit einem für Harrys Geschmack zu wissenden Ausdruck auf ihn zurücksah – stand er auf, zog seinen Zauberstab und ging hinüber zu dem Käfig.
„Warte.“ Neville streckte seine Hand vor Harry aus.
„Ich werde ihr nicht weh–“
„Nein, darum geht’s mir nicht.“ Neville richtete seinen eigenen Zauberstab auf Trevor; als die Kröte lange genug still saß, um sie gut anzielen zu können, sagte er: „Dormo. Ich will nur, dass er schläft. Ich vermute mal, er träumt auch davon.“
Trevor blieb von einem Moment auf den anderen stehen, ließ seinen Körper auf den Grasboden seines Käfigs sinken – und schlief ein.
Harry wartete, bis Neville sich gesetzt hatte, dann machte er einen weiteren Schritt vorwärts. Als er vor dem Käfig stand, fragte er sich, was er hier überhaupt wollte. Er hatte keine Ahnung, wie er der Kröte die Erinnerung entreißen sollte. Er konnte nur raten; wenn Trevor wirklich ununterbrochen daran dachte, hatte Harry wohl nichts mehr zu tun, als den Zauberstab an seinen Kopf zu führen …
Er versuchte es, aber nichts passierte.
„Konzentrier dich, Harry“, sagte Dumbledore. „Es ist nicht einfach, die Erinnerungen anderer ihren Köpfen zu entziehen. Konzentrier dich auf das, was du erreichen möchtest.“
Harry tat das. Er schloss die Augen, stellte sich vor, wie der silberne Faden aus dem Kopf er Kröte kam, wie er die Erinnerung in dem Denkarium ablegen würde – und dann überlegte er, ob Dumbledore wirklich das gemeint hatte. Oder ob er nicht über Harrys wahre Ziele gesprochen hatte. Das Finden der Horkruxe, die Zerstörung Voldemorts – war es das, woran Harry denken sollte?
Er versuchte es – stellte sich vor, wie er über Voldemorts leblosen Körper stand – und ein Gefühl solchen Triumphs machte sich in ihm breit, dass ihm jetzt der mächtigste Patronus möglich gewesen wäre. Und schon spürte er, wie die Magie durch seine Finger, über seinen Zauberstab glitt. Und als er seine Augen wieder öffnete, klebte ein kleiner silbriger Faden an der Spitze seines Zauberstabs. Er zog ihn von Trevors Kopf weg und beförderte ihn in den seltsamen Stoff, der im Denkarium wirbelte.
„Sehr gut, Harry!“ Dumbledore strahlte. „Ich schlage vor, du und Miss Granger, ihr seht es euch gemeinsam an. Ich schätze, Mr Longbottom wird es reichen, wenn diese Erinnerung später wieder Teil seines eigenen Gedächtnisses wird.“
Harry wartete darauf, dass Neville etwas dazu sagte – aber das tat er nicht. Also deutete Hermine, sie solle kommen. Sie stand auf, gemeinsam beugten sie sich über das Denkarium – und ließen sich fallen in den Wirbel, hinein in völlige Dunkelheit …
Und sie landeten, Seite an Seite, in einem gemütlichen, runden Zimmer. In einem Kamin brannte ein niedriges Feuer; es war offenbar kurz davor, zu erlöschen. Zwei Sofas standen um einen Holztisch herum, und ein Teppich war vor dem Kamin ausgebreitet.
Und auf dem Kamin saß ein winziger Junge, fast noch ein Säugling. Er trug einen himmelblauen Strampelanzug, hatte einen Schnuller im Mund. Eine Krötenfigur hüpfte über seine Beine, und das schien dem Jungen unendlich viel Spaß zu bereiten: Neville lachte aus vollem Hals.
Ein Geräusch lenkte Harrys und Hermines Aufmerksamkeit auf sich. Sie drehten sich um und sahen einen Mann und eine Frau, die durch eine Tür in den Raum gelaufen kamen. Der Mann ging zu dem Tisch, stellte etwas darauf ab, und die Frau lief zu dem Kamin und hob ihr Kind vom Boden auf. Nevilles Eltern begannen zu sprechen, aber Harry war abgelenkt von dem, was Nevilles Vater mitgebracht hatte:
Ein silberner Helm stand da auf dem Tisch, mit einer Drachenfigur auf dem Kopf.
Godric Gryffindors Helm.
„Frank“, hörte Harry Nevilles Mutter dann sagen, „willst du den Helm nicht bald Dumbledore geben?“
„Er hat gesagt, Dumbledore wird ihn sich holen“, erwiderte Frank. „Und wie es schien, hatte er klare Anweisungen von Dumbledore. Was hätte er sonst auch in Godric’s Hollow verloren gehabt?“
Harry riss seine Augen weit auf; Hermines Hand umklammerte fest seinen Arm. Er sah zu ihr, und sie formte mit dem Mund die Worte „Godric’s Hollow“, als hätte sie vergessen, dass sie hier ohnehin niemand hören könnte.
„Ja, aber –“
„Alice, es wird alles gut“, sagte Frank. „Vielleicht werden wir Dumbledore ja heute sogar treffen! Immerhin sind wir auf dem Weg zum Hauptquartier. Ich hole nur noch schnell meinen Zauberstab, den hab ich in der Küche vergessen.“
Frank verließ das Zimmer wieder durch die Tür. Harry und Hermine beobachteten Alice eine Weile, während sie ihren Sohn auf ihren Armen langsam in den Schlaf wiegte. Es war grausam, zu wissen, was gleich passieren würde …
„Alice, sie sind hier! Schnell, verschwinde mit Neville!“
Harry erschrak – die Worte waren denen, die sein Vater seiner Mutter zugerufen hatte, so ähnlich …
Aber Alice verschwand nicht. Sie hörte, wie ihr Mann einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß, und traf eine Entscheidung. Sie zog ihren Zauberstab, belegte ihren Sohn erst mit einem Schweigezauber, dann mit dem gleichen Schlafzauber, den Neville vorhin bei seiner Kröte angewandt hatte und desillusionierte ihn; sie wickelte ihn in eine Decke ein, machte diese ebenfalls unsichtbar und versteckte ihn neben dem Kamin, wo sie ihn an die Wand lehnte. Dann rannte sie aus dem Raum – in die Arme von Bellatrix Lestrange, ihrem Bruder, ihrem Ehemann, und Barty Crouch Junior, wie Harry und Hermine wussten.
Harry war sich auch sicher, dass Neville bereits aufgewacht war, denn ansonsten könnte er das alles nicht mitbekommen. Er wollte nur noch fort von hier. Er wusste zwar, dass die Todesser Neville nicht finden, aber er wollte nicht mit anhören, was den Longbottoms zustieß, wollte nicht erleben, wie ihr kleiner Sohn das ebenfalls mitbekommen musste … Wollte nicht sehen, wie einer der Todesser in diesen Raum gestürmt kam, den Helm fand und ihn mit sich nahm. Denn das war, was passieren musste.
Hermine schien dasselbe zu denken wie er. Sie sah ihn flehentlich an, als wolle sie ihn bitten, dass sie verschwinden könnten. Harry warf noch einen letzten Blick auf den Helm, dann konzentrierte er sich auf den Gedanken, das Denkarium wieder zu verlassen. Sie schwebten durch die Schwärze, durch den Nebel –
Und standen dann wieder im Büro des Schulleiters.
„Nun?“, begrüßte sie Dumbledore. „Habt ihr Neues erkannt?“
„Ich glaube, wir haben das Wichtigste erfasst.“ Hermine schluckte; dann sah sie sich um. „Wo ist Neville?“
„Mr Longbottom hat sich mit seiner Kröte auf den Weg zu Professor McGonagall gemacht, damit diese die endgültige Trennung der Erinnerung vornehmen kann. Was habt ihr nun herausgefunden?“
Es war Harry, der antwortete.
„Frank Longbottom war in der Nacht, in der meine Eltern gestorben sind, in Godric’s Hollow, nicht wahr?“, sagte er. „In Great Hangleton.“
Dumbledore nickte. „Das ist richtig.“
„Und dort hat er Gryffindors Helm gefunden und ihn mit sich genommen.“ Harry hatte genau verstanden, was das zu bedeuten hatte, da war er sich sicher. „Also wollte Voldemort den Helm mit meinem Tod zu einem Horkrux machen. Aber es ist ihm nicht gelungen, weil der Fluch abgeprallt ist – und Frank hat den Helm dann mit sich genommen.“
„Ich bin derselben Überzeugung“, sagte Dumbledore.
„Aber Frank hat ihn nur genommen …“ Harry atmete tief durch. „… weil ihm jemand gesagt hat, dass das Ihr Auftrag war. Ist das richtig?“
Zwar antwortete Dumbledore nicht sofort, aber ließ nicht lange auf sich warten. „Das ist richtig.“
„Also … also war noch jemand außer Frank in der Nacht im Haus meiner Eltern?“
Dumbledore nickte.
„Wer?“
„Das, Harry –“ (Dumbledore lehnte sich in seinem Thron zurück) „– das sollst du jetzt endlich erfahren.“
Die Anspannung stieg in Harry, während er darauf antwortete, dass Dumbledore ihm den Namen verriet. Aber Dumbledore sagte kein Wort.
„Wer war es?“, fragte Harry.
„Das kannst du selbst herausfinden.“
„Das kann – was? Aber – wie?“
Dumbledore legte seine Fingerspitzen aneinander, betrachtete Harry über sie hinweg. „Du musst dich nur erinnern, Harry.“
„Aber ich erinnere mich nicht –“
„Glaubst du das? Glaubst du wirklich, dass du dich an nichts von dieser Nacht erinnerst?“
„Nein! Also –“ Harry zögerte – sicher konnte es nicht sein … „Ich hab natürlich gehört, was die Dementoren in mir geweckt haben. Und – und ich hab als Kind öfters von einem grünen Lichtblitz und einem lauten Lachen geträumt, aber – aber das reicht doch sicher nicht aus, um mich an die Nacht zu erinnern!“
„Für dich vielleicht nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass dir etwas deine Erinnerung zeigen kann. Wenn du nur die einzelnen Teilchen aneinander fügst, alles, was du über diese Nacht weißt – wenn du dieses Bild dann –“
„Das Denkarium!“, kreischte Hermine. „Harry, du musst es ins Denkarium legen!“
Harry zog die Augenbrauen zusammen. „Das – das geht?“
„Du weißt doch schon viel über die Nacht!“, sagte Hermine; sie klang ganz aufgeregt. „Zusätzlich zu dem, was du eben aufgezählt hast, kommt noch der Helm – Frank Longbottoms Stimme! Und natürlich, dass noch jemand da war! Und du weißt, dass Hagrid dich von dort mit Sirius‘ Motorrad weggebracht hat!“
Harry wusste nicht, was er denken sollte. Das waren alles einzelne Teilchen eines Puzzles. Würden sie ausreichen, um eine ganze Erinnerung zu erschaffen? Müsste er nur dieses Mosaik zusammenbasteln, sich darauf konzentrieren – so, wie er sich vorhin bei Trevor konzentriert hatte – und würde er dann schon im Denkarium die Nacht erneut erleben können, in der seine Eltern gestorben waren?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Wieder schloss er seine Augen. Aber diesmal führte er die Spitze seines Zauberstabs an seinen eigenen Kopf. Er berührte damit seine rechte Schläfe. Und dann konzentrierte er sich; konzentrierte sich … Konzentriere dich!
Lily, nimm Harry und lauf!
Nicht Harry, nicht Harry, bitte nicht Harry!
Geh zur Seite, du dummes Mädchen!
Die Stimmen hallten durch seinen Kopf, laut, klar und deutlich. Aber da waren noch andere Stimmen. Ganz konfuse Stimmen, bei denen er nicht ein Wort verstehen konnte … aber auch … ein Geräusch – Musik! Jemand sang, sang in einer fremdartigen Sprache …
Ein grüner Lichtblitz, wieder die Stimmen seiner Eltern, der Gesang, das Lachen – jetzt war alles durcheinander. Aber Harry spürte, dass sich etwas in seinem Kopf formte. Ein festes Bild – und dann noch eines, und noch eines, und alles schien sich aneinanderzureihen …
Er entfernte den Zauberstab langsam von seinem Kopf. Und er spürte, dass dennoch etwas beides verband. Er öffnete seine Augen – der Faden hing zwischen seinen Haaren und der Stabspitze, wurde länger und länger.
„Du hast es geschafft!“, rief Hermine begeistert. „Du hast es geschafft!“
Aber Harry ließ sich nicht ablenken, legte die Erinnerung in das Denkarium. Endlich würde er erfahren, was damals wirklich geschehen war. Endlich würde er sehen, wie alles begonnen hatte!
Und Harry tauchte ein in diesen mysteriösen Nebel am Boden des Steinbeckens, fiel, fiel tief durch die Dunkelheit, raste auf einen Raum zu, in dem ein Mann mit seinem kleinen Sohn auf dem Boden spielte; er erkannte den Raum als das Wohnzimmer des Hauses, welches er vor so vielen Monaten besucht hatte, das Haus seiner Eltern, und den Mann als James, das Kind als sich selbst; aber er sah noch etwas, außerhalb des Hauses, auf dem Waldweg davor, und dorthin zog es ihn …
Der Auror war an einem Baum angelehnt, seine Augen fixiert auf eine bestimmte Stelle auf der anderen Straßenseite. Er tat dies nun den dritten Tag in Folge, stand jedesmal an der gleichen Stelle. Anderen wäre dabei wahrscheinlich langweilig geworden – nicht so Frank Longbottom. Nur eines war Frank wichtiger als seine Arbeit für den Orden, und das war seine Familie. Aber heute Nacht musste – wie schon die bisherige Zeit und den Rest der Woche – sein Auftrag von höchster Priorität sein. Dumbledore hatte ihm genau erklärt, was er zu tun hatte, wie entscheidend es war, dass er seine Aufgabe erfüllte. „Sieh alles“, hatte Dumbledore gesagt. „Dir darf nichts entgehen, denn wenn uns bei der Vorbereitung ihres Verstecks auch nur das kleinste Detail misslungen ist, schweben sie in höchster Gefahr. Sie wissen, dass zusätzliche Wache um ihr Haus postiert ist, werden dich das aber nicht bemerken lassen. Caradoc hat seine Aufgabe hervorragend gemacht – ich erwarte von dir das gleiche, Frank.“
Frank hatte ganz genau zugehört. Und nun führte er aus, was ihm aufgetragen worden war. Gegen seinen Baum gelehnt hatte er das Haus der Potters im Blickfeld. Nein, das war nicht richtig – er hatte die Stelle im Blickfeld, an der das Haus der Potters seines Wissens nach stand. Das Haus an sich konnte er nicht sehen, da ihm der Geheimniswahrer – angeblich sollte das Sirius Black sein – den Standort des Gebäudes nicht verraten hatte. Das war auch gut so; man konnte nur hoffen, dass auch niemand in Lord Voldemorts Kreisen jemals von dem Versteck hören würde.
Frank musste nicht darauf achten, sich selbst zu verbergen: James hatte Dumbledore seinen Tarnumhang geliehen, damit dieser ihn der Wache überreichen konnte. Caradoc hatte ihn nur ungern aufgegeben, hatte Frank gehört, und er konnte verstehen, warum. Auf einem Waldweg zu stehen, den regelmäßig Muggel-Wägen und Fußgänger passierten, und trotzdem von niemandem gesehen zu werden, war ein sehr interessantes Gefühl.
Bisher war nichts Merkwürdiges geschehen. Die vielen Menschen, die diesen Wald besuchten, schienen gewöhnliche Muggel zu sein. Niemand hatte sich besonders für die Stelle interessiert, an der das unsichtbare Haus sich befand. Nichts kam ihm verdächtig vor. Das einzige Problem wäre, wenn der Geheimniswahrer sie wirklich verraten würde: Voldemort und seine Todesser könnten direkt in den Garten des Hauses apparieren, und Frank würde nichts davon mitbekommen. Sollte das passieren, wäre es Lilys Aufgabe, sofort den Fidelius-Zauber aufzuheben, den sie über das Haus gesprochen hatte, sodass Frank ihnen zu Hilfe kommen konnte.
Warum Lord Voldemort hinter den Potters her war, wusste Frank nicht. Er musste sich damit begnügen, nicht alles erfahren zu dürfen. Er tat einfach seine Aufgabe so gut er konnte, Tag für Tag, obwohl bisher noch nichts geschehen war, dem er Aufmerksamkeit hätte schenken müssen. Aber heute hatte er besonders viel zu tun, aus zwei Gründen: Einerseits, weil er die Nachtschicht auch noch übernehmen müssen. Gideon Prewett, dessen Aufgabe das eigentlich war, war nur wenige Stunden zuvor zusammen mit seinem Bruder von Todessern getötet worden. Das war einer der tragischsten Verluste für den Orden seit langem.
Und andererseits musste Frank sehr wachsam sein, weil es eine ohnehin schon besondere Nacht war: Halloween. Viel mehr Muggel als sonst strömten an seinem Baum vorbei, liefen in den Wald, wo wohl ein Fest stattfinden sollte. Einige von ihnen waren verkleidet. Und das bedeutete für Frank, er müsste besonders umsichtig sein: Zwischen den Menschenmengen könnte sich jederzeit ein echter Zauberer oder eine echte Hexe verstecken.
Also tauchte Gideon nicht wie bisher um zehn Uhr abends auf. Frank übergab ihm nicht wie sonst den Tarnumhang und verschwand dann sofort nach Hause, sondern er blieb an seiner Stelle stehen. Ausgerechnet heute – Alice machte wohl gerade mit Neville einen Ausflug zu einem der großen Seen, an denen manche Zauberer ihre Feste abhielten. Er wäre so gerne dabei gewesen …
Rotes Licht schimmerte durch die Bäume. Tief im Wald schienen die Muggel ein Lagerfeuer gezündet zu haben. Erstaunlich, wie sehr die Rituale der Muggel an diesem Festtag den überlieferten Ritualen der Zauberer ähnelten. Gelächter und betrunkene Stimmen wurden vom Wind an seine Ohren getragen.
Und dann sah er ihn kommen.
Frank hatte sofort das Gefühl, dass das kein Muggel in Festtagsstimmung war. Der schwarze Mantel hatte zwar durchaus etwas von einer Halloween-Verkleidung, aber auch bei richtigen Zauberern bekam man so etwas oft zu sehen. Und die Gestalt kam nicht aus dem Dorf, sondern aus dem Wald – bewegte sich langsam, fast vorsichtig. Er kam Frank gegenüber zum Stillstand – hob den Kopf, um genau die Stelle zu betrachten, auf die Frank die ganze Zeit gestarrt hatte – und verschwand dann plötzlich.
Frank wusste, was das bedeutete. Seinen Zauberstab hatte er die ganze Zeit bereit gehalten, und sofort beschwor er einen Patronus herauf und schickte ihn mit einer Nachricht davon. Er sah seinem silbernen Frosch hinterher, bis dieser zwischen den Bäumen verschwunden war – und dann hieß es warten. Warten, bis das Haus für ihn sichtbar wurde. Vorher konnte er in das Geschehen nicht eingreifen.
Aber das Warten zog sich in die Länge. Was war los? Wieso bemerkten James und Lily nichts von ihrem ungebetenen Gast? Eine Sekunde verstrich nach der anderen –
Und dann war es endlich da. Das Haus der Potters stand da, wo kurz zuvor nichts gewesen war.
In Sekundenschnelle hatte Frank seine gesamte Umgebung in Augenschein genommen – niemand war in seiner Nähe. Er lief hinüber zu dem Haus, durch das Zauntor, in den Garten. Vorbei an dem Brunnen –
Grünes Licht drang durch die Fenster im oberen Stockwerk. Frank wurde nun doch davon abgehalten, ins Haus zu laufen, als eine Explosion das ganze Grundstück, vermutlich den ganzen Wald erschütterte; Brocken des Hauses regneten auf ihn herab, zwangen ihn dazu, einen Schild heraufzubeschwören. Dann endlich stürmte er durch die Tür – und hielt sofort wieder an.
„J-James … nein …“
James Potter lag auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, sein Zauberstab noch in seiner Hand. Frank hatte seinen Auftrag nicht erfolgreich ausgeführt.
Aber vielleicht ging es den anderen noch gut … der letzte Fluch war oben abgefeuert worden. Er durfte sich nicht ablenken lassen.
Die Treppe hoch – aber der Weg war von Trümmern des Hauses blockiert. Keine Körper waren in den Garten gefallen, also mussten sie in der Ruine dahinter liegen. Beide, wahrscheinlich – Lily und das Baby …
Und ihr Mörder war vermutlich auch immer noch da.
Frank hoffte, dass Lily auch den Apparierschutz zusammen mit dem Geheimniswahrerzauber aufgehoben hatte, versuchte, auf die andere Seite des Trümmerhaufens zu appariren. Es funktionierte: Er stand auf einem Flur, der auf der einen Seite in die nächtliche Dunkelheit führte, die Wand weggesprengt. Aber ihm gegenüber war eine Tür. Sie stand offen. Und Schreie drangen daraus hervor. Schreie, die Frank bisher nicht gehört hatte – kaum verständlich, so laut, wie sie waren. Die Schreie eines Kleinkindes.
Der Junge lebte noch!
Frank wollte das Kind holen – da sah er, dass bereits jemand an der Wiege stand. Der lange schwarze Umhang und die Kapuze, die sein Gesicht verdeckten, ließen bei Frank keinen Zweifel, dass diese Person dieselbe war wie die, die er vorher auf das Haus zugehen hatte sehen – aber die Hände, die sie vor sich ausstreckte, hielten keinen Zauberstab.
„Entferne dich von dem Kind!“
Die Person blickte hoch, aber gehorchte dem Befehl nicht. Frank fragte sich, warum sie ihn nicht direkt ansah; da fiel ihm ein, dass er immer noch den Tarnumhang trug. Er riss ihn von sich.
„Geh zurück, Lord Voldemort!“, rief Frank. Er wusste nicht, ob einer seiner Flüche mächtig genug wäre, um Voldemort zu überwältigen, egal, ob jener einen Stab bei sich trug oder nicht.
„Ich bin nicht der Dunkle Lord.“ Es war ein Mann; seine Stimme war tief und schwer und leise, aber trotzdem über dem Geschrei des Säuglings zu hören. „Der Dunkle Lord ist tot.“
Dann wies er auf den Boden vor sich. Frank senkte seinen Blick ein wenig – und sah Lily Potter vor dem Kinderbett liegen. Es stand außer Frage, dass sie es war. Und offensichtlich war sie tot. Doch ihr Körper war nicht der einzige, der in dem Raum am Boden lag. Oder – war das gar kein Körper? Das schwarze Knäuel war eindeutig ein Umhang, aber niemand schien ihn zu tragen. Stattdessen drang etwas, das wie Staub aussah, aus den Ärmeln, der Kapuze. Asche …
Konnte es wahr sein? Konnte Lord Voldemort wirklich –
„Wer bist du und was willst du hier?“, fragte Frank den Mann.
Dieser schien einen Augenblick zu zögern – dann hob er seine Hände und nahm die Kapuze von seinem Gesicht. Frank erstarrte.
„Severus! Was tust du hier?“
Severus Snape sah, wenn das überhaupt möglich war, noch schlechter aus als gewöhnlich. Es war schon eine ganze Weile her, dass Frank ihn das letzte Mal getroffen hatte. Aber damals hatte er noch sicher keine so knochigen Wangen, keine so blasse Haut gehabt. Seine Augen schimmerten seltsam in dem Licht der elektrischen Muggellampe, die an der Decke des Raumes hing; als wären sie feucht …
„Ich war hier, um mit Lily zu sprechen.“ Er blickte hinab auf Lilys Körper. „Ich wollte sie warnen. Ich habe in letzter Sekunde erfahren, dass der Dunkle Lord plant, sie schon heute anzugreifen. Ich kam zu spät.“
Frank runzelte die Stirn. „Wo warst du, als er sie getötet hat?“
Severus antwortete nicht sofort. „Ich wollte gegen ihn kämpfen“, sagte er dann, „aber Lily war der Meinung, ich sollte mich verstecken, damit der Dunkle Lord nicht erkennt, auf welcher Seite ich wirklich stehe. Und …“
„Du hast dich dann wirklich versteckt?“ Frank war entsetzt – er hatte viel Negatives über Severus Snape gehört, aber dass er dazu fähig wäre …
„Als ich zurück in dieses Zimmer kam, hat er gerade den Fluch gewirkt. Lily fiel tot zu Boden und – und ich konnte nichts tun, ich wusste nicht, was ich hätte tun sollen! Dann hat der Dunkle Lord den nächsten Todesfluch gesprochen und auf das Kind gezielt …“
„Warum lebt Harry noch?“ Frank war froh, dass das Thema gewechselt war. Er wollte sich gar nicht vorstellen, welche Gewissensbisse Severus nun haben musste.
„Ich weiß es nicht.“ Severus wandte sich wieder dem Kind zu. „Der Zauber ist – ich kann es mir nicht erklären … er ist einfach an dem Kind abgeprallt. Zumindest hat es so ausgesehen. Ist auf den Dunklen Lord zurückgeprallt. Dann waren da irgendwelche Lichter – der Teil des Hauses da ist in die Luft geflogen – und schon lag nur noch diese Asche dort auf dem Boden, und das Baby schreit seitdem. Es sieht überhaupt nicht gut aus.“ Er richtete seinen Zauberstab auf das Kind in der Wiege.
„Halt! Was – was machst du da?“
„Ich werde ihn heilen.“ Frank wollte näher herangehen, aber Severus rief: „Nein – komm nicht her. Du hast einen Sohn – ich weiß nicht, ob du das hier verkraften könntest.“
Frank blieb aber aus einem anderen Grund gleich wieder stehen: Sein Fuß hatte etwas Hartes berührt. Er sah hinunter – ein prächtiger, silberner Ritterhelm lag da auf dem Boden.
„Was ist das?“
„Nimm es mit“, sagte Severus. „Gib es später Dumbledore. Er wird es sich holen, du musst es ihm nicht bringen. Behalte es so lange bei dir.“
„Gut, aber – was geschieht denn jetzt? Ich habe keine Aufträge von Dumbledore erhalten, sollte es Lord Voldemort doch gelingen, die Potters zu töten …“
Frank wusste nicht, was er fühlen sollte. Lily und James, tot! Aber andererseits schien Lord Voldemort auch erledigt zu sein. Wie war das nur möglich?
„Dumbledore wird bald jemanden schicken, um den Jungen zu holen. Bis dahin muss ich sein Gesicht halbwegs wiederhergestellt haben. Du sollst zurück zu deiner Familie – und den Helm mit dir nehmen.“
Frank nickte, aber er verschwand nicht sofort. „Bist du – bist du dir sicher, dass du das hier –“
„Los, geh!“
Frank disapparierte mit dem Helm. Severus ließ seinen Blick noch einmal über Lilys leblosen Körper streifen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Kind. Wenn es weiter so schrie, würde er sich nicht konzentrieren können. Mit einem Schwenk seines Zauberstabs war es stumm. Sein Gesicht sah aus, als wäre es in der Mitte aufgeplatzt. Severus musste sofort etwas tun – aber welcher Heilzauber war der richtige?
„Severus!“
Er drehte sich um, den Zauberstab bereit zum Angriff – aber es war nur Peter Pettigrew.
„Severus, der Dunkle Lord!“ Peter lief zu dem, was von seinem Meister noch übrig war. „Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht.“
„Was sollen wir jetzt tun?“ Peters Zähne klapperten, seine Arme und Beine zitterten. „Was – was –“
„Nimm den Umhang und den Zauberstab – der liegt unter dem Umhang. Dann verstecke beides, nimm es mit – du musst ohnehin flüchten. Wenn der Orden erfährt, dass du der Verräter bist –“
„Gute Idee, Severus, gute Idee!“ Peter beugte sich über die Überreste des Dunklen Lords, sammelte alles auf, was er finden konnte – steckte sogar die Asche in seine Taschen – dann murmelte er einen Abschiedsgruß und disapparierte.
Wieder widmete sich Severus dem Baby, das den Mund aufriss, aber keinen Ton erzeugen konnte. Er glaubte jetzt zu wissen, welcher der richtige Heilzauber war. Aber hier in diesem Raum könnte er nicht zaubern – es würde einfach nicht gehen …
Er schnappte nach der Hand des Kleinen, die wild in der Luft herumschlug, und apparierte mit ihm ins Wohnzimmer des Hauses. Am liebsten hätte er Godric’s Hollow einfach verlassen – aber er wusste, dass er das nicht tun konnte.
Dann machte er sich ans Werk, begann die Formel zu summen. Er fand es schrecklich, dass diese Magie ausgesprochene Formeln benötigte, und dieser unmenschliche Gesang, der da von seinen Lippen drang, gefiel ihm überhaupt nicht …
Er wusste nicht, wie lange er arbeitete. Aber als er das nächste Mal unterbrochen wurde, war er immer noch nicht fertig. Das würde wohl noch lange dauern …
Lautes Getrampel kündigte das Ankommen der Person an, auf die er gewartet hatte.
„James! Oh nein, James – James … Wo sin‘ die andern? Wo is‘ der – Professor Snape! Sie hier? Wo is‘ der Junge!“
„Beruhigen Sie sich, Hagrid“, sagte Severus, als der Wildhüter auf ihn zugestürmt kam. „Dem Jungen wird es bald wieder gut gehen. Sie müssen noch eine Weile warten, bevor Sie ihn zu Dumbledore bringen können.“
„Sie sin‘ auf Dumbledores Befehl hier?“ Hagrid klang erstaunt. „Wo is‘ – also – hab’n Sie Lily –“
„Sie ist oben. Gehen Sie jetzt nicht hinauf – das Fundament des Hauses wurde erschüttert, Ihr Gewicht könnte die Decke zum Einstürzen bringen.“
„Wie hat – wie hat der Junge überlebt?“
Severus zögerte. „Ich weiß es nicht. Ich vermute, dass Lily – dass sie sich für ihn geopfert hat.“
„Geopfert? Wie schrecklich … schrecklich!“
Severus überließ Hagrid seinem aufgeregten Geschnatter, seinem Schluchzen, um mit der Arbeit an dem Gesicht des kleinen Potters fortzufahren. Er war mittlerweile eingeschlafen. Severus nahm den Schweigezauber von ihm; und dann tat er alles, was in seiner Macht stand …
„Ich bin fertig.“
Severus wusste nicht, zu wem er das sagte. Zu Hagrid? Der konnte ihn nicht hören, so, wie er weinte. Zu dem Jungen? Sicher nicht. Zu sich selbst? Zweifelhaft …
Ich habe alles getan, was ich kann, dachte er – und sah hoch zur Decke. Nur noch eine blitzförmige Narbe war auf der Stirn des Jungen zu sehen.
Als er seinen Blick wieder senkte, fiel er auf etwas an der Wand ihm gegenüber. In einem Regal standen Fotos von den Potters; der kleine Harry, der verhasste James und Lily waren auf ihnen zu sehen. Und eines faszinierte ihn ganz besonders … Er ging hin, nahm das Bild aus dem Rahmen und steckte es ein.
„Professor Snape? Haben Sie schon aufgehört?“
„Was? Ja – ja, ich bin fertig. Sie können ihn nun –“
„Hallo? Hallo, ist da jemand?“
Severus brach sofort ab, als er die Stimme aus dem Garten hörte. Er hatte jetzt keine Lust, Sirius Black zu treffen.
„Hören Sie zu, Hagrid – Sie dürfen niemandem erzählen, dass Sie mich hier getroffen haben. Das ist eine Sache zwischen Ihnen, Dumbledore und mir, haben Sie das verstanden?“
„Ich – ja – aber –“
„Tun Sie jetzt, was Dumbledore Ihnen aufgetragen hat. Auf Wiedersehen.“
Und als Snape disapparierte, wusste Harry, dass es auch für ihn Zeit war, zu gehen. Während er sich immer weiter von dem Wohnzimmer des Hauses seiner Eltern entfernte, gerade noch sah, wie Sirius den Raum betrat, schienen seine Gedanken zu toben und gleichzeitig stillzustehen. Neue Erkenntnisse waren es, die ihn antreiben, so schnell das Denkarium zu verlassen – Erkenntnisse, die alles veränderten …
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