von Wizardpupil
Der Traum hatte Harry eines klar gemacht. Etwas, das ihm schon viel früher hätte klar sein sollen. Wie dumm er gewesen war, wie arrogant, anzunehmen, er wüsste besser als alle anderen, was zählte … besser als Dumbledore und Hermine, die immer Recht gehabt hatten.
Die Totenrelikte waren wichtig. Er wusste nicht, in welcher Form und warum, aber sie waren wichtig. Voldemort suchte sie, und Harry musste sie vor ihm finden.
Als er Ron und Hermine einige Stunden nach ihm aufwachten und er ihnen von seinem Traum erzählte, reagierte Hermine glücklicherweise nicht mit dem „Ich hab’s dir doch gesagt!“, das er erwartet hatte. In erster Linie waren sowohl sie als auch Ron einfach nur entsetzt.
„Ein Traum über Voldemort?“ Ron wusste wahrscheinlich selbst nicht, warum, aber er flüsterte. „Du meinst – eine richtige Vision? Schon wieder?“
Harry nickte nur.
„Das ist furchtbar!“, rief Hermine. „Du musst dich gegen ihn abschirmen, Harry! Du musst wieder Okklumentik üben!“
„Das ist doch jetzt egal!“ Harry stand auf und begann, im Raum der Wünsche hin und her zu laufen. Verstanden die beiden denn nicht? „Voldemort sucht die Totenrelikte! Er hat zu Snape gesagt, sie wären wichtig! Er hat Snape beauftragt, sie zu finden, seinen treuesten Diener! Hermine, ich hätte auf dich hören sollen – die Totenrelikte sind wichtig und wir müssen sie finden, bevor Voldemort sie in die Finger bekommt!“
Wie von einer fremden Hand geleitet, setzte er sich wieder hin, schloss die Augen und konzentrierte sich.
„Schreib mit, Hermine“, sagte er, und fügte hinzu, nachdem sie länger zögerte: „Na los!“
Als er hörte, wie sie ein Tintenfass aufschraubte, begann er zu reden:
„Wir suchen nach Horkruxen und Totenrelikten, mach also zwei Spalten. Bei den Horkruxen schreib hin, dass wir den Kessel von Hufflepuff bereits haben, der ist hier in Hogwarts gewesen. Wir sind uns unsicher, was das goldene Medaillon angeht, das Voldemort fälschlicherweise für Slytherins gehalten hat, aber wir können nur annehmen, dass Voldemort es selbst hat. Abgesehen von diesen beiden müssen wir noch die Schlange, die ebenfalls bei Voldemort ist, und einen unbekannten Gegenstand von Gryffindor oder Ravenclaw finden, der überall versteckt sein könnte.“
Das klang in Harrys Ohren nicht einmal hoffnungslos, jetzt, wo ihn eigentlich etwas völlig anderes beschäftigte.
„Und nun zu den Totenrelikten. Wir haben Gryffindors Schwert und Slytherins Medaillon. Wo Hufflepuffs Becher und Ravenclaws – Ravenclaws – was war es nochmal?“
„Ein Zepter“, sagte Ron. „Schon vergessen? Das ist das mit der Gruselgeschichte, dieser Riesenrabe, der das Zepter bewacht.“
„Gut“, fuhr Harry fort, „ein Zepter … Wo der Becher und das Zepter sind, können wir nur raten. Im Falle des Bechers müssen wir davon ausgehen, dass Borgin und Burkes es Voldemort verkauft haben, also hat Voldemort möglicherweise sowohl dieses als auch den Medaillon-Horkrux.“ Dann hörte er auf zu reden, öffnete die Augen – und sah Ron und Hermine, die ihn anstarrten.
„Was ist?“, fragte er, etwas schärfer als beabsichtigt.
„Bist du dir sicher, dass du möchtest, dass wir uns mit den Totenrelikten jetzt genauso intensiv wie mit dem Horkruxen beschäftigen?“ Hermine legte die Feder, mit der sie geschrieben hatte, beiseite. „Du warst doch so wenig überzeugt davon …“
„Hast du mir vorhin nicht zugehört?“ Harry hob die Hand so blitzartig, dass Hermine zurückschreckte, aber er zeigte nur auf die Narbe auf seiner Stirn. „Du weißt doch, was das hier ist. Durch diesen dämlichen Blitz bin ich mit Voldemort verbunden. Und letzte Nacht habe ich ihn gesehen – er hat mit seinem wichtigsten Untergebenen gestritten, weil der die Totenrelikte noch nicht gefunden hat!“
„Ja, schon, aber –“
„Kein aber, das beweist, dass – Moment –“ Harry war noch etwas eingefallen … „Könnte das … könnte das bedeuten, dass Voldemort den Becher gar nicht hat?“
Ron runzelte die Stirn. „Wie kommst du denn darauf?“
„Voldemort hat nicht von den anderen oder den restlichen Totenrelikten gesprochen, sondern von allen!“ Harry klatschte in die Hände. „Er hat den Becher noch gar nicht! Wir können den auch noch vor ihm finden!“
Harry war überzeugt, dass er Recht hatte. Mit allem. Gerade noch rechtzeitig hatte er erkannt, dass die Totenrelikte doch wichtig waren … Hätte er Hermine von Anfang an geglaubt, hätten sie vielleicht schon lange alle vier beisammen. Aber daran durfte er nicht denken, jetzt war es Zeit, etwas zu tun. Er sah wieder zu Hermine, da es doch eigentlich sie sein müsste, die seine Freude am meisten teilte – aber sie schien kein bisschen begeistert zu sein.
„Harry, du musst deinen Geist verschließen“, sagte sie, ihre Miene voller Sorge, „du musst wirklich! Das ist zu gefährlich!“
„Was soll denn passieren?“, erwiderte Harry. „Er kann mir doch nichts antun im Traum!“
„Schon vergessen, was damals geschehen ist?“ Hermine seufzte. „Kannst du das wirklich vergessen haben?“
„Was – a – ach so …“ Nun verstand Harry, was sie meinte … Sirius …
„Was, wenn er dir wieder eine Falle stellt?“, sagte Hermine. „Was, wenn er von deiner Horkrux-Suche weiß und dich davon ablenken will?“
Aber Harry hörte nur noch mit einem Ohr zu. Das Bild von Sirius, auf dem Boden der Halle der Prophezeiungen kauernd, neben ihm Voldemort, der ihn mit dem Folterfluch quälte, hatte ihn für kurze Zeit aus dem Raum der Wünsche gerissen, weit weg getragen … obwohl dieses Bild tatsächlich nur ein Traum gewesen war. Wie lange hatte er nun schon nicht mehr an Sirius gedacht? An ihn und an die anderen, die ihm genommen worden waren? Ihre Gesichter verfolgten ihn nun nicht mehr, nicht im Schlaf, nicht nach dem Aufwachen. War er so beschäftigt, dass er nicht einmal mehr der Toten gedenken konnte?
„Rede doch keinen Blödsinn“, holte Rons Stimme ihn zurück, „du weißt doch, dass Voldemort die Verbindung zwischen den beiden zu gefährlich geworden ist! Er würde nichts riskieren, nur, um Harry auf eine falsche Fährte zu locken!“
„Aber wenn er keine andere Wahl hat?“, entgegnete Hermine.
„Warum sollte er denn keine andere Wahl haben? Er könnte seine Horkruxe doch auch einfach wieder einsammeln!“
„Er kann doch nicht einfach in die Küche von Hogwarts spazieren und nachsehen, ob sein Kessel noch da ist!“
Harry hatte kein Interesse an dem Streit der beiden. Er wandte sich ab, blickte in den leeren Kamin hinein und dachte weiter nach, blockte die Stimmen der anderen vollkommen ab. Dann sahen sie eben jetzt noch nicht ein, dass sie die Totenrelikte finden mussten. Bald würden auch sie verstehen. Und jetzt brauchten sie erst einmal Hinweise, wo die anderen beiden Relikte versteckt sein könnten. Er musste mit den Ravenclaws sprechen, die wussten vielleicht etwas. Luna zum Beispiel. Und wegen Hufflepuffs Becher, da konnte er sich nur an die Spur halten, die Smith ihm gegeben hatte – Borgin und Burkes. Wer hatte dem Laden den Becher abgekauft?
„– muss aber sein, Harry!“
Harry richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Hermine.
„Was ist?“
„Dass du wieder Okklumentik lernst!“, sagte sie. „Das muss sein. Ich hoffe, du siehst das auch ein!“
„Jaja“, murmelte Harry. Aber Okklumentik interessierte ihn in diesem Moment überhaupt nicht. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich.
„Wo gehst du denn hin?“, wollte Ron wissen.
„Bin gleich wieder da.“ Er lief in sein Zimmer, zielte direkt auf seinen Koffer zu und öffnete ihn. Als er die Karte des Rumtreibers hervorgekramt hatte, aktivierte er sie und suchte nach einem bestimmten Namen.
Perfekt, dachte er. Genau da, wo er es sich erhofft hatte.
Er verließ sein Zimmer schon wieder, als Ron und Hermine es gerade betreten wollten.
„Was hast du gemacht?“, fragte Hermine, die sich irritiert in dem Raum umsah.
„Ich hab nichts verändert oder so“, sagte Harry, „ich hab nur nachgesehen, wo Luna ist. Und jetzt gehe ich, um mit ihr zu sprechen.“
„Wegen des Zepters?“, fragte Ron, und Harry nickte. „Gute Idee!“
„Nein, keine gute Idee!“ Hermine verschränkte die Arme. „Erinnere dich doch an das Schlamassel mit All Hallows Eve – Luna erzählt nur Blödsinn, du kennst sie doch!“
„Sie ist aus Ravenclaw, sie mag uns, sie kennt viele Legenden und Geschichten“, sagte Harry. „Wen sollte ich sonst wegen des Zepters befragen, wenn nicht sie? Und jetzt entschuldigt mich.“
Er war bei der Tür, als ihm eine weitere Idee kam.
„Ach ja, und ihr könntet euch inzwischen nützlich machen, indem ihr McGonagall bittet, Lupin ins Haus der Malfoys zu schicken. Nachdem er in der Winkel- und der Nokturngasse nichts gefunden hat, ist das doch der letzte noch mögliche Ort auf unserer Liste, nicht wahr?“
Damit war er auch schon auf dem Weg hinaus zum See. Während er die Korridore entlang lief, folgten ihm die Augen jeden Schülers, dem er begegnete. Kein Wunder; man hatte ihn in letzter Zeit selten außerhalb des Raums der Wünsche angetroffen. Harry ignorierte diese Blicke so gut es ging, aber er konnte nicht umhin, zu bemerken, dass einige feindselige darunter waren. Die mussten wohl denken, er tat nichts, um ihnen zu helfen, sondern saß nur den ganzen Tag rum und ließ sich jeden Traum von einem magischen Raum erfüllen. Er mochte diese Vorstellung nicht, aber andererseits sollten die doch glauben, was sie wollten …
„Autsch!“
Harry war so in Gedanken gewesen, dass er direkt in jemanden hinein gelaufen war. Er hatte sich gerade noch an der Wand abstützen können, aber den anderen hatte es zu Boden geworfen.
„Entschuldigung“, sagte Harry, „kann ich – oh.“
Harry hatte die Hand ausgestreckt und dem anderen hochgeholfen, bevor er gesehen hatte, wer es war. Jetzt erkannte er ihn. Es war Professor Viridian.
„Harry!“ Viridian schüttelte seine Hand, bevor er sie losließ. „Lange nicht mehr gesehen.“
„Ja, stimmt. Ich – hau ab, ich hab nichts gemacht!“
Diese letzten Worte hatte Harry an seine Füße gerichtet. Besser gesagt, was darum herumschlich und an seinen Beinen schnupperte. Mrs Norris schenkte ihm einen kühlen Blick aus ihren gelben Augen, fauchte ihn an und lief dann mit großen Sprüngen davon.
„Wenn ich du wäre, würde ich mit Katzen anders umspringen“, sagte Viridian. „Die wenigsten wissen es, aber Katzen sind sehr sensibel, was Seelen angeht. Schon im alten Ägypten galten sie als die Hüter der Seelen, weil sie –“
„Das ist ja wirklich interessant, Professor, aber ich habe jetzt leider keine Zeit. War nett, Sie wieder einmal zu sehen.“
Er wartete nicht einmal Viridians „ebenfalls“ ab, sondern eilte schon weiter in die Eingangshalle. Als er das Schloss endlich verließ, lief er sofort zu der Stelle, an welcher Luna sich der Karte des Rumtreibers zufolge befinden musste. Hoffentlich war sie noch da, hoffentlich war es für sie noch nicht Zeit gewesen, zurück in den Unterricht zu gehen; die Karte hatte angezeigt, dass Luna ganz allein war. Das wäre so perfekt …
Und er hatte Glück. Luna stand genau dort, wo sie stehen sollte, und niemand war bei ihr.
„Luna! Hey, Luna!“, rief Harry, noch während er den restlichen Weg bis zu ihr rannte. Sie drehte sich um, Strähnen ihres langen Haares, das ziemlich zerzaust aussah, im Gesicht.
„Hallo, Harry!“, sagte sie mit einem breiten Lächeln. „Tut mir Leid, dass ich heute so schrecklich aussehe – manchmal, wenn ich wütend oder traurig oder so bin, habe ich meine Metamorphmagus-Kräfte nicht im Griff und dann machen meine Haare, was sie –“
„Schon gut“, sagte Harry hastig. „Ich wollte kurz mit dir reden. Hast du Zeit?“
Lunas Miene hellte sich noch mehr auf. „Natürlich!“
„Es geht um eine Legende“, sagte Harry; er wollte keine Zeit verlieren. „Die von Ravenclaws Zepter.“
Lunas Augen weiteten sich ins Unermessliche – ein gutes Zeichen, meinte Harry. „Ooh, das Zepter! Ein sehr schönes Thema. Wieso interessierst du dich denn dafür?“
„Ähm – naja, wie du sagst, es ist ein schönes Thema …“
„Ja, ich verstehe schon.“ Lunas Blick, obwohl wie immer merkwürdig und verrückt, war für Harrys Geschmack etwas zu wissend, aber er sagte nichts. „Nun, was willst du denn hören? Ich kenne vier Versionen der Geschichte, zwei magische Tänze, durch die man die Legende ausdrücken kann, ein Gutenachtlied, einen Trank, der die Farbe des Zepters annehmen soll –“
„Wenn du vier Versionen der Geschichte kennst“, unterbrach sie Harry, „welche ist dann die richtige?“
Luna lächelte. „Alle vier.“
Harry war bei dieser Antwort ganz und gar nicht zum Lächeln zumute. „Wie soll das denn funktionieren?“
„Ganz genau.“ Luna nickte. „Ganz genau.“
Harry schloss die Augen. Bloß nicht die Nerven verlieren …
„Tut mir Leid, Luna“, sagte er, „aber dafür hab ich jetzt keine Zeit. Es muss doch eine der vier Versionen der Wahrheit entsprechen – zumindest deiner Meinung nach.“
„Ich glaube, dass alle vier richtig sind“, sagte Luna nur. Ihr Blick wanderte hinaus auf den See, vielleicht auch ans andere Ufer.
„Aber das kann doch gar nicht gehen!“
„Und doch ist es so.“
Harry fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Das durfte doch nicht wahr sein! Er musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht wütend zu werden. Konnte sie nicht ausnahmsweise einfach ganz normal mit ihm reden, seine Fragen beantworten? Beruhig dich, konzentrier dich!
„Luna, kannst du mir sagen“, versuchte er es mit der nächsten Frage, „ob sich außer dir noch jemand aus deinem Haus mit der Legende von Ravenclaws Zepter beschäftigt?“
„Oh, die halten das alle für großen Blödsinn“, sagte Luna gelassen. „Was sehr schade ist, wenn man bedenkt, dass das Zepter jedem einzelnen von ihnen gehört, und dass man Großes damit anstellen kann.“ Ihre großen Augen weiteten sich noch mehr. „Sag, hast du schon davon gehört, dass Ravenclaw ihr Zepter angeblich gegen die magische Trompete des Koboldkönigs Gurug der Große eingetauscht haben soll? Diese Theorie hat mein Vater erst vor wenigen Wochen entwickelt! Dafür gibt es unumstößliche Beweise, zum Beispiel –“
„Danke.“ Harry hatte genug gehört; er hatte keine Lust, sich jetzt Lunas haarsträubende Geschichten anzuhören, nicht einmal die geringste. „Danke, aber – ich hab jetzt leider nicht viel Zeit. Ich muss wieder gehen. Tschüss.“
Er ließ sie zurück, obwohl sie ihren Mund öffnete, um noch etwas zu sagen. An ihre Gefühle konnte er nicht auch noch denken, dazu hatte er zu viele eigene Probleme.
Sein Kopf arbeitete wie verrückt, während er seinen Weg zwischen Schülern und Geistern hindurch zurück zum Raum der Wünsche bahnte. Er wollte etwas tun, irgendetwas. Vielleicht würde ihm gleich ein weiterer Geistesblitz kommen, wie zuvor mit dem Haus der Malfoys.
Denk nach, sagte er zu sich selbst. Denk nach, was könntest du tun? Was hast du noch nicht ausprobiert?
Er wusste, dass er all das, was er noch nicht versucht hatte, nur deshalb ausgelassen hatte, weil es zu seinen Plänen für den absoluten Notfall gehörte. Luna um Rat zu fragen kam ja schließlich auch schon aus dieser Kategorie. Aber was gab es da noch? Er hatte schon die Hilfe des Ordens akzeptiert, die von McGonagall und Lupin … Aber wessen Hilfe konnte er noch anfordern? Mit wem, der ihm möglicherweise von Nutzen sein konnte, hatte er noch nicht gesprochen?
„Denk nach!“
Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn hochschrecken. Schnell drehte er sich um – aber es war nur Mrs Norris, die seinen lauten Ausruf mit einem Fauchen kommentiert hatte. Sie starrte ihn an, als hätte er etwas verbrochen. Er beschloss, sie zu ignorieren, wandte sich um und wollte gerade weitergehen – als ausgerechnet Mrs Norris ihm den Geistesblitz bescherte, nach dem er gesucht hatte.
Viridian!
Es fiel Harry schwer, in Momenten wie diesen nicht an das Schicksal zu glauben. Er wäre wohl nicht auf die Idee gekommen, mit Viridian zu reden, wenn er nicht zufällig heute Morgen diesem und Mrs Norris zur gleichen Zeit begegnet wäre. Das ging ihm zumindest durch den Kopf, während er durch die Gänge zu Viridians Büro lief. Es war nun Zeit, seine letzten Karten auszuspielen. Brenzlige Situationen erforderten brenzlige Maßnahmen; wenn er weiterhin mit niemandem über Horkruxe und Totenrelikte sprach, der möglicherweise etwas darüber wissen könnte, dann würde es ihm auch nie gelingen, Voldemort zu stürzen.
Nur eine Minute später klopfte er an die Tür von Viridians Büro. Glücklicherweise wurde er hineingebeten – er hatte schon befürchtet, Viridian wäre nicht da.
„Mr Potter!“ Viridian erhob sich von seinem Stuhl, als Harry eintrat. „Was kann ich für Sie tun?“
„Hoffentlich einiges“, sagte Harry leise.
„Wie bitte?“
„Ach, nichts.“ Harry schloss die Tür hinter sich. „Können wir uns setzen? Ich habe einige Fragen an sie.“
Viridian sah ihn erstaunt an. Offenbar hatte er gehört, dass Harry sich immer geweigert hatte, mit McGonagall zu reden, und es musste ihn überraschen, dass er nun ihn um ein Gespräch bat. Zum wiederholten Mal, allerdings, erinnerte sich Harry.
„Natürlich“, sagte Viridian, als er sich gefangen hatte. „Bitte, nimm doch Platz.“
Viridian setzte sich wieder und Harry nahm den Stuhl ihm gegenüber, wie schon zuvor.
„Nun …“ Viridian räusperte sich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
Keine Zeit verschwenden. Das musste jetzt sein Motto werden. Er entschied sich, dass es wirklich das Beste war, sofort mit der Sprache herauszurücken.
„Wissen Sie etwas über –“ Harry zögerte so kurz, dass Viridian es wohl kaum mitbekam; sein Entschluss, was er zuerst fragen würde, stand schnell fest. „– Totenrelikte?“
Viridians Reaktion erübrigte eine Antwort. Seine eisblauen Augen weiteten sich so sehr, dass er fast ein wenig Ähnlichkeit mit Luna bekam.
„Totenrelikte?“, wiederholte Viridian. „Eine sehr interessante Frage. Wirklich, sehr interessant.“
„Also wissen Sie, was das ist?“
Viridians Überraschung legte sich ein wenig; er lächelte sein sympathisches Lächeln und sagte: „Oh ja, sehr gut sogar. Wer sich mit Seelen beschäftigt, kennt Totenrelikte. Und wer sich mit der Geschichte von Hogwart beschäftigt, der kennt sie ebenfalls. Und ich habe mich beidem auseinandergesetzt.“
„Sie kennen also die Legende von den Relikten der Gründer?“
„Eine meiner Lieblingslegenden.“ Viridian zwinkerte. „Was aber leider wahrscheinlich bedeutet, dass es sich auch tatsächlich nur um eine Legende handelt. Ich bin für sehr viel offen, Mr Potter – sobald ich einmal an etwas nicht glaube, können sie davon ausgehen, dass das eine auf Sachwissen gestützte Vermutung ist. Ohne arrogant sein zu wollen, so muss ich doch sagen, dass diese Geschichte, wenn ausgerechnet ich, der berühmteste Nekromant der modernen Zeit, das sage, nichts weiter ist als das. Eine Geschichte.“
Das klingt aber sogar sehr arrogant, dachte Harry, völlig unbeeindruckt. Was er aber tatsächlich sagte, war das:
„Nehmen wir an, es gibt so doch – rein theoretisch, hypothetisch, oder was immer Ihnen gefällt. Sie verstehen, worauf ich hinaus will?“
„Wir gehen jetzt davon aus, dass es die Totenrelikte der Gründer gibt, auch wenn Gryffindors Schwert wohl nur ein Schwert, Hufflepuffs Becher nur ein Becher, Slytherins Medaillon nur ein Medaillon und Ravenclaws Zepter, wenn es überhaupt existiert, nur ein Zepter ist.“ Viridian nickte; seiner Miene nach zu urteilen, schien er Harry überraschenderweise komplett ernst zu nehmen. „Ja, ich denke, ich habe verstanden.“
„Gut. Also, wenn wir das annehmen – wo, denken Sie, würde sich dann Ravenclaws Zepter befinden?“
Dem folgte erst einmal Schweigen. Viridian sah Harry mit gerunzelter Stirn an, die Finger verschränkt, das Kinn auf den Daumen abgestützt, die Zeigefinger ausgestreckt und auf den Mund gelegt. Ein richtig nachdenklicher Blick. Ob Viridian auch wirklich nachdachte?
„Das weiß ich nicht“, sagte er schließlich. „Und hier kann ich keine auf Sachwissen gestützte Vermutung abgeben. Außer der natürlich –“, fügte er schmunzelnd hinzu, „– dass das Zepter überhaupt nicht existiert. Aber ich nehme an, diese Antwort wird Sie nicht zufrieden stellen.“
„Nicht wirklich, nein.“ Harry fühlte sich immer mehr entnervt. Da zerfielen sie alle einer nach dem anderen zu Staub, seine Pläne für den Notfall.
„Ich könnte dir Theorien dazu vorstellen, wie die Totenrelikte funktionieren“, sagte Viridian. „Würde dich das interessieren?“
„Im Moment nicht“, sagte Harry; und dann war es an der Zeit, das andere anzusprechen. Das, worüber er am liebsten nicht mit Viridian gesprochen hätte. „Aber ich kann Ihr theoretisches Wissen über die Seele in einem anderen Fachbereich gut gebrauchen, Professor.“
Viridian hob seine Augenbrauen. „Ich denke, ich weiß, worum es Ihnen geht.“
Das bezweifelte Harry – oder wusste Viridian etwas? „Ach ja?“
„Oh ja …“ Viridian seufzte schwer. „Ich dachte mir schon, dass Sie irgendwann wieder kommen würden, um unser Gespräch über die Toten fortzusetzen.“
„Nein, da irren Sie sich.“ Damit hätte Harry rechnen können. „Ich wollte Sie fragen, was Sie über Horkruxe wissen.“
Die Stimmung im Raum änderte sich schlagartig. Das wäre Harry vermutlich nie aufgefallen, wenn nicht wieder die Kerze auf dem Schreibtisch gestanden wäre. Die blaue Flamme wurde kleiner, hörte auf, ihr unheimliches Licht auszustrahlen, wurde kälter und fast ein bisschen gräulich.
Aber Viridian ließ sich nichts anmerken. Er sah Harry nur mit diesem undeutbaren Blick an.
„Das ist kein sehr erfreuliches Thema“, sagte er, seine Stimme ein wenig rauer als zuvor. „Um ehrlich zu sein, habe ich um so schwarze Magie immer einen großen Bogen gemacht.“
„Aber Sie wissen etwas darüber.“ Harry war sich ganz sicher; nach der plötzlichen Veränderung der Kerze konnte es nicht anders sein. „Nicht wahr?“
„Oh ja …“ Viridian nickte. Aber er nickte nicht Harry zu, sondern in sich hinein, als würde er sich selbst etwas bestätigen. „Ja, ich weiß sogar einiges darüber. Es wäre mir aber lieber, wenn es nicht so wäre.“
„Bitte erzählen Sie es mir.“ Harry fühlte, wie in ihm die Aufregung stieg. So ernsthaft hatte er Viridian noch nie erlebt, nicht einmal, als sie über die Toten gesprochen hatten, oder über seine Familie.
Viridian schmunzelte erneut; ein gedankenverlorenes, müdes Schmunzeln war das. „Da gäbe es einiges zu erzählen. Und alles ist sehr kompliziert. Bei Horkruxen herrschen Regeln, die oft nicht einmal denen bekannt sind, die selbst Horkruxe erschaffen. Ein Seelenteil, der bereits als Horkrux existiert, kann nicht noch weiter gespalten werden; nur ein Lebewesen, das eine stabile Seele besitzt, kann ein Horkrux in sich tragen, ansonsten wird der Horkrux die Ursprungsseele restlos zerstören; handelt es sich bei dem Mord, den der Erschaffer des Horkruxes begeht, um einen unbeabsichtigten, also eigentlich um Totschlag, funktioniert das Erschaffen des Horkruxes nicht; wenn –“
„Danke, Professor“, unterbrach ihn Harry hastig, „aber das ist nicht ganz das, was ich mir vorstelle. Mich würde mehr interessieren, wie man –“
„Sie werden doch jetzt nicht fragen, wie man Horkruxe erschafft, oder?“ Viridians Lächeln (und der Kerze, die nun wieder größer und heller wurde) war zu entnehmen, dass er das nicht ernst meinte, und doch rutschte er auf seinem Stuhl herum, als wäre ihm der Verlauf des Gespräches unangenehm. „Dann müsste ich nämlich dringend mit der Schulleiterin –“
„Ich wollte wissen, wie man Horkruxe zerstört.“
„Zerstört?“, fragte Viridian. „Aber dann – aber … natürlich!“ Viridian verengte nachdenklich die Augen. „Also benutzt der Dunkle Lord Horkruxmagie, nicht wahr?“
„Ja.“ Harry dachte nicht einmal eine Sekunde lang nach, bevor er antwortete. Jetzt hatte es ja doch keinen Sinn mehr, es für sich zu behalten.
Viridian betrachtete Harry so intensiv, als wolle er ein Porträt von ihm malen.
„Wissen Sie, Mr Potter“, sagte er dann, „damit ergibt vieles für mich einen völlig neuen Sinn … Ich verstehe nun das ganze Gerede vom Auserwählten. Ja, hoch interessant …“
Harry wartete darauf, dass er fortfuhr; aber Viridian sagte nichts mehr, sah ihn nur an.
„Professor?“
„Ich bin noch hier, keine Sorge“, antwortete Viridian, viel schneller, als Harry es erwartet hatte. „Auch mit den Gedanken. Es ist nur so, ich finde das Ausmaß dieser ganzen Geschichte einfach … erstaunlich.“
„Ähm – ja.“ Zum Teufel, das darf doch nicht wahr sein … Harry musste sich zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen. „Das ist es bestimmt. Allerdings wäre es doch ganz nett von Ihnen, wenn Sie mir –“
„Ich weiß nichts über die Zerstörung von Horkruxen.“ Viridian ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. „Sehr bedauernswert, aber ich weiß überhaupt nichts darüber.“
„Überhaupt nichts?“ So schnell würde Harry nicht aufgeben. „Wirklich gar nichts?“
Viridian schüttelte seinen Kopf. „Leider. Aber – wenn Sie vielleicht schon den Horkrux des Dunklen Lords gefunden haben –“
„Einen davon haben wir“, warf Harry ein; neue Hoffnung keimte in ihm auf.
„Einen – einen davon?“ Viridian starrte Harry ungläubig an. „Der Dunkle Lord hat mehrere?“
„Ja, hat er – aber sagen Sie schon! Was genau ist denn, wenn wir schon einen Horkrux gefunden haben?“
Scheinbar musste Viridian sich erst einmal von dem Schock erholen, dass Voldemort seine Seele mehrmals gespalten ha, denn er machte nicht die geringsten Anstalten, zu antworten.
„Professor?“
„Ja – ja, genau. Was habe ich gesagt? Ach ja. Wenn Sie bereits einen Horkrux gefunden haben, dann könnten Sie ihn ja vorbeibringen. Ich untersuche ihn dann und versuche, herauszufinden, wie Sie ihn zerstören können.“
Harry dachte darüber nach. Wenn ihm, Ron und Hermine jemand weiterhelfen konnte, dann wohl Professor Viridian. Sollte er es also riskieren, den Horkrux für eine Weile aus der Hand zu geben? Oder wäre das unnötig? Immerhin hatte Hermine ihn doch schon mehr oder weniger davon überzeugt, dass Viridian, was seine Nekromantiekünste betrifft, ein Schwindler war. Aber dann war da dieses Gespräch gewesen, das er mit Viridian nach Dobbys Tod geführt hatte …
„Ich werde mit Ron und Hermine darüber sprechen“, sagte Harry und er stand auf. „Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“
Als er aber den anderen beiden von Viridians Angebot erzählte, waren die ganz und gar nicht begeistert. Sie schienen nicht einmal wie Harry darüber nachdenken zu wollen.
„Bist du verrückt?“, kreischte Hermine sofort. „Sicher nicht!“
„Das können wir doch nicht machen!“, rief Ron. „Den Horkrux einfach so verleihen!“
„Der steht da ganze Zeit da hinten in dem Schrank rum!“, erwiderte Harry, überrascht davon, wie sehr sie gegen diese Möglichkeit waren. „Jeder könnte reinkommen und ihn sich holen!“
„Die Magie des Raumes beschützt ihn und uns vor Eindringlingen, die uns nichts Gutes wollen, das weißt du doch!“ Hermine schlug das Buch zu, das sie in der Hand hielt. „Nein, wir werden den Kessel sicher nicht Viridian geben.“
„Er will uns doch nur helfen! Wer außer ihm könnte das?“
„Glaubst du wirklich, dass er helfen will?“, fragte Ron. Seine Stimme hatte er auf ein verschwörerisches Flüstern gesenkt.
„Was soll das denn schon wieder bedeuten?“
„Na ja, denk doch mal nach – ist sein Interesse an dem Horkrux und an Voldemort und dem Zeug nicht etwas auffällig? Er nennt Voldemort den Dunklen Lord!“
„Was, du meinst, er ist ein Todesser?“ Harry lachte. „Bitte, es steckt nicht hinter jedem Schwindler auch gleich ein Bösewicht!“
„Auch wenn Rons Theorie natürlich nicht stimmt“, sagte Hermine, „es kommt nicht in Frage, dass wir den Kessel Viridian geben!“
„Was?“ Ron stand auf. „Auch wenn Rons Theorie natürlich nicht stimmt? Was soll das hier, bin ich schon wieder der Dumme, der nur blöde Ideen in die Runde wirft?“
„Nicht schon wieder …“, flüsterte Harry – und er hätte nicht gewartet, dass Ron ihn hören wurde.
„Genau, und natürlich beschwere ich mich nur die ganze Zeit, was?“, fauchte Ron ihn an. „Ich hab es gründlich satt – wir sitzen nur hier und kommen nicht voran, dann werde ich ausgeschlossen oder beleidigt, dann sitzen wir wieder blöd in der Gegend rum. Ich hab genug!“
Dann drehte er sich um, lief in sein Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Harry saß staunend und mit offenem Mund.
„Was war das denn jetzt?“, fragte er, während er seinen Kopf an Hermine wandte; doch als er ihren Sessel im Blickfeld hatte, war dieser leer. Er blickte gerade noch rechtzeitig hoch, um Hermines Umhangsaum hinter der Tür verschwinden zu sehen, bevor diese mit einem noch lauteren Krachen als Rons ins Schloss fiel.
Harry hatte sie den gesamten Rest des Tages nicht mehr gesehen, obwohl er am Tisch darauf gewartet hatte, dass sich einer von ihnen beruhigen würde – umsonst. Er war hungrig und überhaupt nicht müde ins Bett gefallen, und als er am nächsten Morgen aufwachte, standen die Zimmertüren der anderen offen und niemand außer ihm war da.
Und wieder saß er an dem Tisch, nun aber allein. Er aß die Sandwiches, die ein Hauself vorbeigebracht hatte, und starrte aus dem Fenster. Der Juni war gekommen. Es war ein sehr heißer Juni; eine schmerzlich helle Sonne brannte in das Zimmer hinein. Nicht einmal ansatzweise war das Geräusch eines Windstoßes zu hören – alles war ruhig draußen.
Die Zeit tickte. Ihren Zielen waren sie noch keinen Schritt näher.
Harry erschrak, als jemand an der Tür klopfte. Hastig drehte er sich um und rief „Herein!“ Er dachte, Ron oder Hermine würden endlich zurückkehren – aber warum sollte einer von beiden anklopfen? Und sie waren es tatsächlich nicht …
„Ginny!“
Er stand sofort auf, als hätte ihn eine Biene gestochen. Da im Türrahmen stand tatsächlich Ginny. Ihr feuriges Haar schimmerte fast unheimlich in dem grellen Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie. Sie klang sehr gelassen.
„Ja – ja klar.“
Harry sah zu, wie Ginny die Tür hinter sich schloss, auf ihn zu ging, ohne die Augen von ihm zu nehmen und sich wie selbstverständlich in den Sessel neben ihm setzte.
„Warum setzt du dich nicht auch wieder hin?“
Harry errötete und nahm hastig wieder Platz. Er hatte die ganze Zeit Ginny angestarrt. Es hatte eben ein wenig gedauert, bis er sich wieder gefasst hatte … Mit ihr hatte er nicht gerechnet.
„Was machst du hier?“, sagte er, und nur eine Sekunde später wurde ihm klar, wie harsch das geklungen haben musste. Aber Ginny schien nicht beleidigt zu sein.
„Ich dachte, ich komm mal vorbei“, antwortete sie. „Immerhin wohnen hier mein Bruder und eine meiner besten Freundinnen.“
Harry nickte – dann wurde ihm klar, dass sie ihn nicht erwähnt hatte. Schnell senkte er seinen Kopf, damit sie nicht sehen konnte, dass dieser noch dunkler anlief.
Aber dann sagte sie es.
„Und du.“
Er blickte wieder hoch; Ginny sah ihm direkt in die Augen. Ein merkwürdiger Nebel lag in ihren eigenen. Noch nie waren ihm irgendwelche Augen so verzaubernd vorgekommen, nicht einmal Lunas …
„Ich bin mir nicht sicher, wie es zwischen uns steht“, sagte Ginny plötzlich, und die Magie war dahin.
„Ginny, du weißt doch –“
„Du hast dich vor kurzem mit Luna unterhalten“, unterbrach sie ihn. „Du hast dich sogar schon öfters mit ihr unterhalten dieses Jahr.“
Harry konnte es nicht glauben – kam sie ihm jetzt mit Eifersucht? „Ja, aber –“
„Und natürlich bist du andauernd mit Hermine zusammen, das darf man auch nicht vergessen.“
„Hermine ist Rons Freundin!“, warf Harry ein; das ging ihm wirklich zu weit.
„Ist sie das?“ Ginny hob die Augenbrauen. „Muss ja toll laufen zwischen den beiden.“
„Ginny, ich –“
„Ist ja auch egal.“ Ginny stand auf. „Ich bin ja eigentlich nur gekommen, um dir etwas Tolles zu erzählen. Aber wenn wir hier gleich zu streiten beginnen –“
„Nein!“ Harry stand ebenfalls auf, legte seine Hände auf Ginnys Schultern. „Nein – Ginny, bitte bleib. Erzähl mir, was du mir erzählen wolltest. Vergiss – vergiss Hermine und Ron und Luna und all das einfach.“ Er probierte den flehentlichsten Blick, der ihm möglich war. „Bitte. Setz dich wieder.“
Er wollte wirklich, dass sie blieb. Er wollte mit ihr reden – oder vielleicht auch nur schweigen. Hauptsache, er verbrachte Zeit mit ihr. Ginny. Wie hübsch sie war. Sie sah älter aus, als Harry sie in Erinnerung hatte, erwachsener. Und ihr Haar war etwas kürzer; er würde das sicher nachher erwähnen, um ihr zu zeigen, wie aufmerksam er war. Er könnte sie jetzt endlich einmal wieder für sich haben, etwas lockerere Gegenwart genießen als die von Ron und Hermine, mit denen er nur noch nachdenken und planen konnte, oder die von Luna, deren Merkwürdigkeit auf Dauer gelinde gesagt anstrengend wurde. Mit Ginny konnte er scherzen und Spaß haben, über Dinge wie Quidditch reden … Was Ron und Hermine dazu sagen würden, dass er jetzt Gespräche über Quidditch führen wollte, versuchte er zu verdrängen.
„Also gut“, sagte Ginny. Sie griff nach seinen Händen; er dachte schon, sie wolle sie in ihre nehmen, aber sie entfernte sie nur von ihren Schultern. „Hinsetzen kann ich mich allein auch, du musst mich nicht runter drücken.“
Sie nahm Platz, Harry tat es ihr gleich. Für eine Weile saßen sie still da, sahen einander nur an. Das war doch nicht das Wahre, dachte Harry, vielleicht sollte er doch besser etwas sagen.
„Du wolltest mir etwas erzählen?“
„Ja, genau.“ Ginny erhob sich wieder; als wäre er an sie gekettet, tat er sofort das gleiche. Sie lachte. „Setz dich wieder!“
„Aber wo willst du denn hin?“
„Dir was zeigen.“ Sie drückte ihn zurück auf den Sessel, dann ging sie einige Schritte in den Raum hinein, drehte sich zu ihm um und fragte: „Bereit?“
„Wofür?“
„Sieh einfach her!“
Sie lächelte ihm ein letztes Mal kurz zu, dann schloss sie die Augen. Harry wartete gespannt. Es sah ein wenig merkwürdig aus, wie sie da mit leicht erhobenen Armen und in tiefer Konzentration stand, tief atmend und, wie Harry jetzt auffiel, ihren Kopf kaum merklich nickend. Und gerade, als er sie fragen wollte, was das werden sollte, geschah es –
Harry erschrak so sehr, dass er mit dem Sessel nach hinten umfiel. Er drehte sich schnell auf den Bauch, strampelte den Stuhl von sich und mühte sich hoch. Als er dorthin blickte, wo eben noch Ginny gestanden hatte, stellte er fest, dass er es sich nicht eingebildet hatte. Anstelle von Ginny sah Harry nun nur noch eines.
Eine kleine Katze mit feurig rotem Fell, die vom Boden zu ihm hochblickte.
„Wow!“, stieß Harry hervor.
Die Katze gab ein lautes „Miau!“ von sich, dann schloss sie ihre Augen – und binnen Sekunden stand Ginny wieder da.
„Die Rückverwandlung ist einfacher als die Verwandlung zur Katze“, sagte sie, mit einer Stimme, als wäre überhaupt nichts Besonderes geschehen. „Aber das ist doch cool, oder?“
„Wahnsinn!“, rief Harry, und er meinte es auch so. „Wie lang kannst du das schon?“
„Ich hab mit dem Animagus-Training vor ein paar Jahren begonnen“, sagte Ginny. „Da war ich dreizehn. McGonagall hat uns erklärt, was ein Animagus ist, und ich war so begeistert, dass ich noch am selben Tag begonnen habe, die Verwandlung zu üben.“
„Mit dreizehn?“ Harry musste an seinen Vater und Sirius denken; die waren auch ungefähr in dem Alter gewesen, als sie ihr Animagus-Training gestartet haben. „Warum hast du uns nie was erzählt?“
„Hermine wusste immer, dass ich es versuche.“ Ginny setzte sich wieder; sie trug ein heiteres Lächeln auf ihren Lippen. „Aber ich hab ihr nichts gesagt, als es mir endlich gelungen ist. Das war ein paar Tage vor deinem siebzehnten Geburtstag.“
„Und du hast uns die ganze Zeit – Moment …“ Harry erinnerte sich jetzt an etwas. „Dann … dann warst du die Katze, die wir im Hof von Sirius‘ Haus gesehen haben?“
Ginny zwinkerte. „Ja, die war ich. Und du hast mich auch hier in Hogwarts schon öfters gesehen. Erinnerst du dich? Zum Beispiel, als du und Luna um Halloween rum am See gewesen –“
Sie wurde unterbrochen, als jemand durch die offene Tür in den Raum kam.
„Harry – oh.“
Ron blieb stehen, als er Ginny erkannte. Seine Augen wanderten von ihr zu dem umgeworfenen Sessel am Boden und weiter zu Harry, der einen misstrauischen Glanz darin zu sehen glaubte.
„Ginny hat mir nur –“
„Ist schon okay“, sagte Ron schnell, aber seine Ohren liefen in einem unglaublich dunklen Rot an. „Ich hab auch nicht viel Zeit – ich wollte dir nur sagen, dass Hermine und ich jetzt dem Orden des Phönix beitreten.“
„Dass – dass – was?“
Ron ging an ihm vorbei zu seinem Zimmer, betrat es und rief ihnen durch die offene Tür zu:
„Heute Morgen bin ich gleich zu McGonagall gegangen und hab ihr gesagt, dass ich Mitglied werden möchte. Sie hat gesagt, es wäre okay.“ Harry hörte, wie Ron einen Schrank öffnete. „Hermine hat davon erfahren und sofort gesagt, dass sie auch mitmachen will. Jetzt bin ich eigentlich nur hier –“, sagte er, als er sein Zimmer wieder verließ, etwas Grünes unter seinem Arm, und direkt auf Hermines zusteuerte, „– um ihren und meinen Festumhang zu holen. Die Zeremonie findet auf dem Gelände von Hogwarts statt, in –“ (er kam aus Hermines Zimmer, etwas Violettes unter dem anderen Arm, und sah auf seine Armbanduhr) „– zwanzig Minuten.“
„Aber – aber –“ Mehr konnte Harry nicht sagen; er stammelte vor sich hin, starrte Ron an – und konnte es einfach nicht fassen.
„Mach den Mund wieder zu“, sagte Ron kühl, aber Harry konnte hören, dass er es genoss, so mit ihm zu reden. „Mir war klar, dass du nicht auch Mitglied werden wolltest. Aber eingeladen bist du herzlich zu unserer Aufnahme.“
Dann verließ er den Raum der Wünsche. Harrys Kopf arbeitete wie verrückt, versuchte, all das zu verstehen. Bedeutete das … War das das Ende ihrer Suche zu dritt? War die Trennung jetzt gekommen, obwohl nicht einmal ein triftiger Grund dazu bestand?
„Unglaublich“, sagte er leise.
„Ja.“
Er schreckte hoch, denn er hatte nicht bemerkt, dass Ginny aufgestanden war. Sie war nun direkt hinter ihm, legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Das ist wirklich unglaublich“, sagte sie. „In der Zeit, die ich ihn jetzt nicht gesehen habe, ist er ein noch größerer Mistkerl geworden.“
Ach was, wollte Harry sagen. Das war doch nicht Rons Schuld. Eigentlich war alles seine Schuld.
Aber stimmte das? Was hatte er denn getan? Er hatte darüber nachgedacht, Viridian den Kessel für eine Weile zu überlassen. Reichte das schon aus, damit sie sich ohne Chance auf Vergebung zerstritten?
„Wir werden doch nicht zu der Zeremonie gehen, oder?“, fragte Ginny. „Wieso brauchen die überhaupt eine Zeremonie? So ein übertriebener Blödsinn, das ist ja –“
„Doch“, sagte Harry, so entschlossen, dass es sogar ihn selbst überraschte. „Ich möchte hingehen.“
Ginny nahm die Hand von seiner Schulter, stellte sich vor ihn und sah ihm direkt ins Gesicht.
„Möchtest du etwa selbst dem Orden beitreten? Ich dachte, das willst du nicht.“
„Will ich auch nicht“, entgegnete Harry. „Aber ich möchte dabei sein, wenn die beiden aufgenommen werden. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt für sie. Vor allem für deinen Bruder.“
Harry wusste nicht, woher er dieses Wissen, diese Weisheit nahm. Er wusste auch nicht, wieso er es als seine Pflicht empfand, dabei zu sein, oder warum er überhaupt auf solche Weise dachte, so etwas sagen konnte. Aber es war so. Er hatte das Gefühl, er sollte die Zeremonie nicht verpassen.
„Dann komm ich mit“, sagte Ginny; sie besah sich ihres Körpers. „Denkst du, wir sollten uns auch umziehen? Du trägst ja wenigstens einen Umhang.“
„Ja, einen gewöhnlichen schwarzen Schulumhang“, sagte Harry grinsend. „Sehr festlich.“
„Besser als meine Jeansjacke allemal.“ Ginny nahm ihn bei der Hand. „Ist wohl egal – komm schon.“
Harry genoss es, von Ginny geführt zu werden. Wie perfekt ihre Hände ineinander passten, das hatte er schon fast vergessen … Er dachte nicht an den Streit, den er mit Ron und Hermine hatte, während Ginny ihn auf die Ländereien brachte, sondern zurück zu den Stunden, die er mit ihr verbracht hatte. Wie er sich danach zurücksehnte! Da hatte er noch nicht gewusst, dass er ganz ohne Dumbledore Voldemorts Seelenteilen nachjagen müsste …
„Das dort sind sie wohl.“
Harry sah hoch. Sie hatten die Ländereien erreicht. In der Nähe von Hagrids Hütte standen fünf Personen, die Harry in der Ferne kaum erkennen konnte. Ron, Hermine und McGonagall waren bestimmt darunter; zufrieden stellte Harry fest, dass sie zumindest den Anstand besessen hatten, die Zeremonie weit weg von Dumbledores Grab und Dobbys Gedenkstein stattfinden zu lassen.
Als Harry spürte, dass Ginny weitergehen wollte (sie zog an seiner Hand), hielt er sie zurück.
„Was ist denn?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Willst du doch nicht gehen?“
„Versteh das jetzt nicht falsch“, sagte er – und wusste, dass sie es wohl falsch verstehen würde, „aber ich möchte lieber nicht, dass wir Hand in Hand dort ankommen.“
Harry merkte sofort, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Ginnys Blick veränderte sich. Sie sah ihn mit glasigen Augen an, ihre Hand immer noch in seiner. Aber dann ließ sie ihn los.
„Ich glaube, du kannst auch allein gehen.“
Bevor er richtig reagieren konnte, war sie an ihm vorbei gelaufen.
„Ginny – nein!“
Aber als er sich umdrehte, sah er nur noch, wie eine kleine rote Katze die Treppe hoch zurück ins Schloss lief.
Das hatte er ganz toll gemacht. Erst hatte er es sich mit Ron und Hermine verscherzt, und jetzt auch noch das! Und was sollte er tun? Ginny hinterher laufen und sich mit ihr versöhnen, oder zu Rons und Hermines Zeremonie gehen und einen Weg dafür ebnen, dass sie wieder zueinander finden konnten?
Glücklicherweise musste er sich gar nicht entscheiden.
Harry nahm aus den Augenwinkeln ein silbriges Licht wahr, das auf ihn zusteuerte. Als er sich dem Licht zuwandte, schoss es auch schon an ihm vorbei – und direkt auf die Gruppe von Leuten bei Hagrids Hütte zu. Harry wusste nicht, was geschah, hatte aber einen Verdacht, worum es sich bei dem Licht handelte. Gespannt beobachtete er, wie es die fünf Personen erreichte, dort eine unerkennbare Form annahm, eine Weile in der Luft zu schweben schien, und dann verschwand. Kurz standen alle fünf bewegungslos da, oder zumindest sah aus dieser Entfernung so aus. Doch dann wurde einer der fünf plötzlich – kleiner? Harry sah verwirrt zu, wie diese Person auf ihn zugerannt kam. Als er sie erkannte, verstand er: Es war Professor Flitwick, und er hatte wohl auf einem Baumstumpf oder etwas in der Art gestanden.
Der Professor rannte direkt auf ihn zu. Harry hatte noch nie gesehen, dass er sich so schnell bewegte. Er schien irgendetwas zu murmeln, während er lief; je näher er kam, desto besser konnte Harry die piepsige Stimme verstehen.
„… darf doch nicht wahr sein! Der Schädel! Der Schädel ist da!“, hallten seine aufgeregten Worte zu ihm hinüber. „Muss es den Schülern sagen – muss die Schüler warnen!“
„Professor!“, rief Harry, als Flitwick fast bei ihm war; aber er rannte einfach an ihm vorbei. „Professor!“
Harry setzte ihm mit einem Sprung hinterher und packte Flitwick am Arm. Der kleine Professor erschrak so sehr, dass er einen ganzen Meter in die Luft sprang.
„Professor, was ist denn passiert?“, fragte Harry. Er hörte, dass seine Stimme zitterte; was sollte das heißen, der Schädel war da? Etwas Gutes konnte es nicht bedeuten …
„Der Schädel, der Schädel!“, rief Flitwick, während er versuchte, sich Harrys Griff zu entreißen. „Das Mal! Sein Mal! Es ist erschienen – über Gringotts!“
Harry merkte gar nicht, dass er Professor Flitwick losließ. Aber da lief der auch schon weiter Richtung Schloss, abwechselnd murmelnd und rufend. Harry hingegen blieb noch eine ganze Weile stehen. Das Dunkle Mal über Gringotts – dem sichersten Ort in der Zaubererwelt, von Hogwarts einmal abgesehen.
Es geht los, dachte Harry.
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