von Wizardpupil
Fred erwachte mit einem lauten Keuchen. Er hatte wieder einmal den Traum gehabt. Den grauenvollen Albtraum, der ihn Nacht für Nacht plagte, seit er hier war. George … er starb wieder und wieder, rief um Hilfe und starb, bettelte ihn um Hilfe an – und starb …
Er stellte fest, dass er wieder in der Ecke saĂź, in die er sich meistens zurĂĽckzog. Sich einfach nach hinten fallen zu lassen und an beiden Seiten Wand zu spĂĽren, das war ihm jetzt wichtig. Das gab ihm Halt. Halt, den er hier sonst nirgendwo finden konnte.
Er wusste nicht einmal genau, wo er war. Es war ein dunkler, kalter Keller, so viel stand fest. Ein Verlies, nur hundertmal schlimmer als die Kerker von Hogwarts. Meistens konnte er nicht mal einen Meter weit sehen, denn kaum hatten sich die Augen an die Finsternis gewöhnt, musste er sie vor Erschöpfung schließen. Und dann war es nicht etwa noch dunkler – die Schwärze, die hier den Raum füllte, übertraf das Innere seiner Lider bei weitem. Es war unglaublich. Es war furchteinflößend … Vor allem, weil er in der Dunkelheit andauernd die letzten Bilder sah, an die er sich noch von vor seinem Aufenthalt hier erinnern konnte. Dieses Gesicht … sein Gesicht. Er, dessen Name nicht genannt werden darf – das war der Ort, an dem er lebte! Und da war noch ein Gesicht – das verhasste Gesicht von Snape. Er hatte ihn in dieses Verlies geführt. Kerkermeister, egal, wo er war, wie es schien. Woanders als unter der Erde sollte sich dieses dreckige Schwein auch nicht sehen lassen.
Wie lang saß er jetzt schon hier fest? Wochen? Monate? Jahre? Oder vielleicht doch nur Tage, oder Stunden? Er konnte es nicht sagen. Hier unten gab es so etwas wie Zeitgefühl nicht. Aber wenigstens war er nicht völlig allein. Nein, da war nicht nur die Wache, die von Zeit zu Zeit kam und ihm Wasser und etwas zu essen brachte – er konnte diese Person nie sehen, sie trug vermutlich ein Licht, das ihr niemand sehen konnte. Hier unten waren noch andere Gefangene. Mindestens zwei, da war er sich sicher – einen hörte er hin und wieder laut atmen und weinen. Aber mit dem anderen Gefangenen hatte er sich schon öfters unterhalten. Er war mehr als überrascht gewesen, ausgerechnet sie hier anzutreffen. Sie war eine Weile nach ihm eingesperrt worden. Oder vielleicht auch erst vor ganz kurzem, möglicherweise vor wenigen Minuten, er konnte es nicht genau sagen. Sie saß in der Zelle direkt neben ihm. Wenn es denn Zellen waren. Fred war sich nicht ganz sicher, worin er festsaß.
Als sie erklärt hatte, was mit ihr geschehen war und warum ausgerechnet sie von Ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, geschnappt worden war, hatte Fred alle Hoffnung verloren. Wenn diesem Monster das gelungen war, dann hatte der Orden keine Chance mehr
Ein quietschendes Geräusch riss Fred aus seinen Gedanken. Er wandte sein Gesicht nach rechts, auch wenn er nichts sehen konnte, denn er wusste, woher das Geräusch gekommen war. Jemand hatte die Tür geöffnet, die zu diesem Kerker führte. Und jetzt kamen Schritte die Treppe hinunter. Bekam er schon wieder etwas zu essen? Er war sich sicher, erst vor kurzem gegessen zu haben … Aber schließlich hatte er kein Zeitgefühl mehr.
Doch die Wache schien nicht zu ihm zu kommen. Fred hörte, wie ein anderes Verlies geöffnet wurde. Eine schwache, krächzende Stimme stammelte etwas.
„Ruhig“, zischte eine andere Stimme – das musste die Wache sein. Fred erkannte die Stimme nicht, auch wenn ihm irgendetwas sagte, dass er sie schon einmal gehört hatte. „Du hast etwas zu tun.“
Das Gittertor wurde wieder geschlossen, die Schritte entfernten sich. Die Wache war aber nicht allein – es waren eindeutig vier Füße, die da gingen, das eine Paar langsam und schleifend, das andere alle paar Sekunden anhaltend, wahrscheinlich, um auf den schwachen Gefangenen zu warten. Als die Tür zufiel, wandte sich Fred um.
„Was da wohl wieder abgeht?“, fragte er in die Dunkelheit hinein.
„Sicher nichts Gutes“, antwortete die Stimme von Tonks.
Es war eisig kalt im St Mungos Hospital. Harry blickte zu Ron und Hermine hinüber. Sie saßen eng beieinander, hatten ihre Arme umeinander gelegt; die Eifersucht versetzte ihm einen grausamen Stich mitten ins Herz. Wenn Ginny doch bloß hier war …
Im Grunde genommen war sie ja hier. Allerdings in einer anderen Abteilung.
Als Harry Hermines Worte verstanden hatte, war ihm erst nicht klar gewesen, was er tun, wie er reagieren sollte. Dann – wie von einem Geistesblitz getroffen – hatte er sich von Florean Fortescue verabschiedet, hatte ihn gebeten, ihr Gespräch später fortsetzen zu können, und war dann mit Hermine in die große Halle gelaufen, wo McGonagall ihr zufolge gerade sein sollte. Sie hatten sie überredet, sie ins St Mungos gehen zu lassen, und als sie mit Ron hatten abreisen wollen, war Ginny hinzugekommen, die alles mit angehört hatte.
„Ich will Bill sehen!“, hatte sie gerufen, und schon waren sie zusammen in das grüne Kaminfeuer gesprungen – und im Krankenhaus wieder herausgekommen.
Ginny war nun in dem Stockwerk, in welchem Verletzungen durch magische Geschöpfe behandelt wurden. Die Heiler wollten Bill einfach nicht gehen lassen, es sei zu gefährlich, sagten sie. Harry wusste nicht einmal genau, was mit ihm los war. Im Moment interessierte es ihn herzlich wenig.
Er, Ron und Hermine warteten außerhalb der Tür, hinter welcher Neville nun zusammen mit seiner Großmutter und seinem Vater war. Und lange warteten sie schon – mindestens zwei Stunden, wenn Harry richtig schätzte. Sie hatten weder Neville noch einen seiner Verwandten schon gesehen, aber eine Heilerin hatte sie hier her geführt, als sie nach den Longbottoms gefragt hatten.
Nevilles Vater … Frank Longbottom … Sein Vater ist aufgewacht. Und er wiederholt andauernd deinen Namen … Hermines Worte hallten in seinem Kopf, hinterließen dort aber keinen Sinn. Seinen Namen? Wieso seinen? Frank Longbottom kannte ihn nicht einmal! Er war nur wenige Stunden, nachdem Harry Voldemorts Avada Kedavra überlebt hatte, in die Verrücktheit gefoltert worden, also konnte er Harrys Namen gar nicht so gut kennen! Und doch erinnerte er sich daran … hatte den Namen über so viele Jahre in seinem gequälten Kopf gespeichert gehabt …
Neville musste es schrecklich gehen. Ja, sein Vater war aufgewacht – aber er wollte nicht mit seinem Sohn, sondern mit Harry Potter reden, dem berühmten Harry Potter! Und seine Mutter war gestorben, und beides am selben Tag … Nevilles ohnehin schon furchtbares Schicksal hatte eine noch viel schlimmere Wendung genommen.
Endlich öffnete sich die Tür. Harry stand sofort wie vom Blitz getroffen auf, Ron und Hermine taten es ihm gleich. Die Gestalt, die den Flur betrat, konnte Harry beinahe nicht ertragen, so verstört, endlos verstört wirkte sie. Nevilles Großmutter trug einen Gesichtsausdruck, der an eine extreme Version von Luna Lovegood erinnerte. Als wüsste sie gar nicht, wo sie war, wer sie war. Der Mund kaum merklich offen, die Augen geweitet wie in schrecklicher Angst, den Kopf leicht zur Seite geneigt, was das verrückte Aussehen nur noch verstärkte. Der Adlerhut auf dem fassungslosen, geschockten Kopf war das i-Tüpfelchen. Man hätte beinahe Angst vor dieser Frau empfinden können in diesem Moment, in dem sie da durch die Tür trat.
„Tot“, sagte sie nur. „Tot. Tot. Tot.“
Harry erstarrte. Meinte – meinte sie Alice Longbottom, Nevilles Mutter? Oder – oder konnte es sein, dass …
Augusta Longbottom brach zusammen, fast noch im TĂĽrrahmen. Sie fiel zu Boden und begann zu schreien, tat nichts als schreien.
„MEIN SOHN! MEIN EINZIGER SOHN!“ Sie stützte sich auf ihre Knie, warf den Kopf in den Nacken; Harry sah zu, wie gelähmt von dieser Situation, dieser unvorstellbaren Szene. „WIESO? WIESO?“
Ja, wieso?, dachte Harry.
Hinter Mrs Longbottom kam eine weitere Person durch die Tür. Es war eine der Heilerinnen in ihren weißen Umhängen. Sie lächelte Harry, Ron und Hermine mitfühlend zu – vermutlich hielt sie sie für Angehörige. Dann bückte sie sich und griff Mrs Longbottom unter die Arme. Sie hatte einige Mühe damit, sie hochzuheben – aber Harry war einfach nicht imstande, ihr zu helfen, sich zu bewegen.
„Sie verstehen nicht!“, hörte Harry Mrs Longbottom jetzt der Heilerin zu zischen. „Sie können gar nicht verstehen – dreimal! Dreimal haben sie Ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, getrotzt, dreimal haben sie gegen ihn gekämpft und sind mit dem Leben davongekommen! Dreimal! Und dann – dann –“
„Schon gut, Madam“, sagte die Heilerin, als sie Mrs Longbottom an Harry vorbeiführte; er hätte verstehen können, wenn Nevilles Großmutter diese Frau für diese Worte an Ort und Stelle zusammengeschlagen hätte.
„GAR NICHTS IST GUT!“ Mrs Longbottom riss sich von der Heilerin los. „SIE WERDEN STERBEN! SCHRECKLICH LEIDEN! ALL DIE TODESSER, FÜR DAS, WAS SIE MEINEM SOHN ANGETAN HABEN!“
Harry hätte gerade einmal Zeit gehabt, einmal zu blinzeln, als Nevilles Großmutter auch schon verschwunden war. Die Heilerin verschränkte empört die Arme.
„Also sowas!“, rief sie und sah zu Harry. „Wem man auch helfen will, jeder wehrt sich! Wie auch immer – Sie sollten zurück in die Schule gehen, Ihr Freund ist bestimmt noch nicht bereit, mit euch zu reden.“ Dann eilte sie zurück in den Krankensaal.
Harry stand steif da, als wäre er festgewachsen. Wohin Mrs Longbottom wohl disappariert war? Ob es der Hass und die Wut, die sie in diesem Moment empfunden hatte, ihr möglich gemacht hatten, direkt zu Voldemort zu gelangen, um sich gleich an der Quelle zu rächen? Für die alte Frau hoffte Harry, dass es nicht so war … Aber das war nicht das, was ihn im Moment interessierte.
Frank Longbottom war tot. Frank Longbottom, der seinen Namen andauernd wiederholt hatte, seit seine Frau gestorben und er scheinbar aus seiner VerrĂĽcktheit erwacht war. Und Neville war hinter dieser TĂĽr zusammen mit seinem toten Vater.
„Sollen wir reingehen?“, drang Hermines unsichere Stimme an sein Ohr. Er drehte sich zu ihr und Ron um, sah in ihre besorgten Gesichter. Um wen waren sie besorgt? Um Neville? Oder doch eher um ihn?
Harry schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er nur. Er war sich sicher, dass die Heilerin Recht gehabt hatte. Neville wollte jetzt sicher allein sein.
Der nächste Morgen kam mit einem kalten und trüben Wind, der laut heulte und an den Fensterläden rüttelte. Harry wachte mit einem Mal auf, als ein lautes Klirren durch sein Schlafzimmer hallte. Als er sah, dass der Wind sein Fenster aufgeschlagen und den Wasserkrug vom Tisch geworfen hatte, ließ er sich zurück in sein Bett fallen. Um die Scherben konnte er sich später auch kümmern. Jetzt war er zu müde.
Als er gestern nach Hogwarts zurückgekehrt war, hatte er eigentlich gleich sein Gespräch mit Florean Fortescue fortführen wollen. Doch McGonagall hatte ihm gesagt, dass er wieder im Ministerium war. Er hatte nur eine Stunde Ausgangszeit gehabt – offensichtlich saß er in Untersuchungshaft. Als Harry McGonagall erklärt hatte, wie dringlich es war, dass er sich mit Florean unterhielt, hatte sie versprochen, ein weiteres Treffen mit dem Minister zu engagieren. Harry hoffte, dass sie das mittlerweile getan hatte.
Er wollte sich wieder hinlegen, in dem tiefen Schlaf versinken, in dem es keine Sorgen gab, aber er kam nicht weit. Die Tür zu seinem Zimmer flog auf. Er plagte seinen Körper gerade wieder hoch, als sie gegen die Wand krachte, abprallte und Hermine, die eben eingetreten war, ins Gesicht fiel.
„Kannst du nicht ohne so eine Ankündigung reinkommen?“, knurrte Harry müde. Dann sah er Hermines Gesichtsausdruck. Er erstarrte – sie wirkte entsetzt, aufgerüttelt – als wäre etwas geschehen.
„Was ist passiert?“, fragte er.
„Malfoys“, sagte sie mit knappem Atem; offensichtlich war sie gerannt. „Wieder aufgetaucht!“
Sofort war Harry wach.
„Was?“
„Ich glaub’s auch kaum!“ Das war Rons Stimme. Eine Sekunde später stand er neben Hermine, den Kopf schüttelnd. „Saßen die doch einfach in ihrem Haus rum!“
„In ihrem Haus?“ Harry sprang aus seinem Bett und lief zu seinem Schrank.
„McGonagall zufolge schon“, sagte Hermine, während Harry – der Bequemlichkeit halber – einfach seinen Umhang aus dem Schrank zog und ihn über seinen Schlafanzug warf. „Sie meint, die Sensorzauber, mit denen der Orden das Malfoy-Anwesen belegt hat, haben reagiert, sie wären nachsehen gegangen – und da saßen Draco Malfoy und seine Mutter im Wohnzimmer.“
„Draco und seine Mutter?“ Harry hielt inne. „Was ist mit seinem Vater?“
„Der liebe Lucius war nicht dabei.“ Ron schnaufte. „Der sitzt wohl mit seinem Herrn beim Kaffee.“
„Was meinst du damit?“ Harry ging zwischen Ron und Hermine hindurch in ihr gemeinsames Zimmer, direkt zur Tür und hinaus in den Korridor im siebten Stock, gefolgt von den anderen beiden. „Soll das heißen, Draco und seine Mutter haben sich von Voldemort abgewandt?“
„Klingt zumindest so ähnlich, nach dem bisschen, was McGonagall uns gesagt hat“, antwortete Hermine, nun im Laufschritt und wieder keuchend. „Aber sie hat wirklich kaum etwas erzählt.“
„War ja klar“, murmelte Harry leise. Und gleich darauf erinnerte er sich, dass eigentlich er es gewesen war, der alles verheimlicht hatte, nicht McGonagall.
„Wo willst du eigentlich hin?“, fragte Ron.
„Na, zu McGonagalls Büro!“, erwiderte Harry – bevor ihm einfiel, dass die beiden gar nicht gesagt hatten, die Malfoys wären dort. Er blieb stehen.
„Autsch!“ Ron wäre beinahe in ihn hineingerannt; er stolperte über seine Füße und fiel vornüber zu Boden.
Harry verschwendete keine Zeit damit, sich zu entschuldigen. „Wo sind die Malfoys denn?“
„Wissen wir nicht“, sagte Hermine.
„Hättest du aber auch mal vorher fragen können“, murrte Ron, während er sich hochrappelte.
Harry stöhnte. „Wenn ihr es nicht wisst, wieso haltet ihr mich dann auf?“, rief er. „Meine Vermutung ist genauso gut wie eure!“
Dann rannte er wieder los. Er merkte, dass Ron und Hermine zögerten, aber sie kamen ihm doch hinterher.
„Das schon“, sagte Hermine, als sie und Ron ihn eingeholt hatten, „aber was willst du überhaupt von ihnen? Dich mit Draco anlegen?“
„Keine Ahnung, was ich will“, sagte Harry. „Aber es besteht doch die Möglichkeit, dass sie etwas wissen!“
„Wieso? Tss!“, stieß Ron aus. „Glaubst du, die wären mit Informationen vor Voldemort geflohen?“
„Möglich ist alles.“
„Sprechen wir hier vom selben Malf- au! Jetzt wäre ich fast wieder gestolpert! Wieso müssen wir hier eigentlich andauernd durch die Gegend laufen?“
Harry antwortete nicht auf diese Frage, Hermine schien es als ebenso wenig notwendig empfinden. Sie ernteten sich ein wütendes Grummeln von Ron dafür, das sie nicht verstehen konnten, aber Harry war das im Moment völlig egal. Die Malfoys stellten vielleicht nicht gerade seine größte Hoffnung dar – aber Draco hatte damals die Hand mit dem Zauberstab sinken lassen, als er die Chance gehabt hatte, Dumbledore zu töten … und sie waren jetzt nicht bei Voldemort … andererseits saßen sie in ihrem eigenen Haus, von welchem sie wissen mussten, dass der Orden es bewachte – hatten sie also gefunden werden wollen? Hieß das, dass es eine Falle war?
„Da wären wir!“ Hermine kam als erste neben der Eingangstür zu McGonagalls Büro stehen. „Ehrlich, langsam bekomme ich Übung mit dieser Lauferei. Ich hab fast gar keine Probleme mit der Luft!“
Langsam war Harry genervt von solchen Kommentaren. Als er dies zum Ausdruck bringen wollte, blickte er zu Hermine und sah sie grinsen – und verkniff sich schnell wieder, was er sagen wollte. Necken ließ er sich nicht, dazu war keine Zeit.
„Was trödeln wir jetzt schon wieder rum?“, fragte Ron, erschöpft und wütend klingend. Er hob die Hand, um anzuklopfen –
„Harry! Hermine, Ron!“
McGonagall kam vom Ende des Ganges auf sie zu. Sie bewegte sich äußerst schnell. Und der Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ vermuten, dass sie sie gesucht hatte – als wäre sie froh, sie endlich gefunden zu haben.
„Kommt mit!“
„Wohin?“, wollte Hermine wissen.
„Narzissa Malfoy möchte euch sprechen.“
Sie drehte sich um und lief wieder zurĂĽck in die Richtung, aus der sie gekommen war.
„Wenn sie jetzt die Treppen wieder hoch geht“, sagte Ron, „dann bin ich wahnsinnig sauer.“
Aber es blieb ihnen erspart, den Weg, den sie gekommen waren, zurĂĽckzulaufen. Sie folgten McGonagall zu der Marmortreppe, die in die Eingangshalle fĂĽhrte.
„Narzissa Malfoy möchte dich sehen?“, flüsterte Hermine Harry zu, als sie die Stufen hinuntereilten. „Wieso das denn?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte Harry. Das war auch völlig richtig. Im Moment konnte er sich nicht den geringsten Reim auf das machen, was vor sich ging. Er beschloss, einfach abzuwarten. Aber zwei Fragen gab es, die er McGonagall jetzt stellen wollte.
„Professor!“, rief er, und legte noch einen Zahn zu, um mit McGonagall gleichauf zu sein. „Professor, wohin gehen wir?“
„Narzissa Malfoy hat darauf bestanden, in dem Kerkerbüro zu warten, welches früher Professor Snape gehört hat“, antwortete McGonagall, ohne ihn anzusehen. Sie erreichten das Ende der Treppe und wandten sich nach rechts, wo noch mehr Stufen auf sie warteten – die, die in die Kerker hinab führten.
„In – in Snapes Büro?“ Harry war erstaunt – warum ausgerechnet dort? Aber das war nicht die zweite Frage, die er stellen wollte. „Nun gut – aber, Professor, was ich noch wissen wollte – haben Sie mit dem Minister wegen eines weiteren Gespräches mit Florean Fortescue geredet?“
„Das habe ich, Harry.“ Nun sah sie ihn doch an – warf ihm einen kurzen, traurigen und zugleich zornigen Blick zu. „Der ehrenwerte und hochwohlgeborene Minister Scrimgeour hat beschlossen, Fortescue ein weiteres Gespräch mit dir zu verbieten.“
Harry ballte die Hände zu Fäusten. Mit so etwas hatte er schon gerechnet.
„Er hat eine Bedingung für ein zweites Treffen gestellt“, fuhr McGonagall fort. „Ich vermute, du weißt, worum es sich dabei handelt?“
„Ich soll das Ministeriums-Maskottchen spielen.“
„Scrimgeour hat zwar nur etwas von einem Gespräch unter vier Augen zwischen ihm und dir gesagt, bevor das von dir und Fortescue stattfinden kann – aber es läuft auf genau das hinaus, was du vermutest.“ McGonagall rümpfte die Nase. „Wenn er nicht zufällig der Minister wäre, dann …“
Aber ihr blieb erspart, zu verraten, was sie mit Scrimgeour anstellen würde. Sie waren bei der Tür zu Snapes Büro angekommen. Etwas an ihr gefiel Harry nicht. Als ober nicht wusste, was es war – die bloße Tatsache, zu welchem Raum sie führte …
An Snape hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Außergewöhnlich lange. Er konnte sich nicht helfen, irgendwie war er stolz darauf: Es war für ihn ein Zeichen, dass er sich wirklich auf das Wesentliche konzentriert hatte, auf die Horkruxe. Denn ansonsten hätte er wohl kaum auch nur einen Tag verbringen können, ohne darüber nachzudenken, wie er Snape am besten töten wurde. Aber vielleicht hatte er das ja unbewusst getan. Er traute es sich zumindest zu.
McGonagall klopfte und öffnete die Tür. Erst frage sich Harry, warum sie anklopfte, wenn sie doch nur Narzissa Malfoy treffen würden – aber natürlich, fiel ihm dann ein, war Dracos Mutter nicht unbewacht. Als die Tür in den dunklen Kerkerraum hinein aufschwang, fand sich Harry Filch gegenüber. Er hatte sich ohnehin schon gewundert, wann er dem Hausmeister, den er in letzter Zeit so selten gesehen hatte, wieder einmal begegnen würde. Mit einem misstrauischen und hassenden Blick betrachtete er Harry (die beiden waren auf der gleichen Augenhöhe), dann trat er zur Seite und machte Harrys Sicht auf das Innere des Raumes frei.
Er war fast komplett leer. Die Regale an den Wänden waren leer, die Fenster mit Tüchern bedeckt – für einen Moment fühlte sich Harry zurückversetzt in den Geheimraum in der Küche … Dobby …
Aber er schüttelte diese Gedanken aus seinem Kopf, konzentrierte sich. Da waren noch mehr Leute. Der kleine Professor Flitwick, der seinen Zauberstab in der Hand hielt, und Professor Sprout, deren argwöhnischer Blick auf etwas zwischen zwei Regalen gerichtet war. Harry glaubte zu wissen, was es war, aber er musste eintreten, um sicher zu gehen. Und natürlich hatte er Recht: Dort an die Wand gepresst stand eine spindeldürre, große Gestalt, deren weißblondes Haar eindeutig das eines Malfoys war. Auch der Gesichtsausdruck war unverwechselbar: Als wäre der Geruch, den Narzissa Malfoy in der Nase hätte, der schrecklichste auf der Welt.
Und doch hat sich Narzissa Malfoy verändert. Sie war noch schmaler geworden, seit Harry sie zum ersten Mal begegnet war; ihr Kleid war an manchen Stellen zerrissen und dreckig, und ihre ganze Körperhaltung gab ihr ein so unförmiges Aussehen, dass Harry nicht einmal sagen konnte, mit welchem Tier er es besser vergleichen sollte: Mit der welligen Form einer Schlange, die ihren Körper hoch schlängelt, oder mit der ungeschickten, der des Menschen aber doch so ähnlichen Bewegungsart, die Affen an den Tag legten. Und diese Frau war so unglaublich blass, so blass war noch nicht einmal Lupin zu seinen schlechtesten Zeiten.
„Harry Potter.“ Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.
Harry nickte. Er wusste, dass es nicht notwendig war: Narzissa Malfoy kannte ihn. Aber angesichts ihres Zustandes konnte er nicht sofort etwas sagen. Er hatte nicht damit gerechnet, ihr so zu begegnen. Einen Malfoy so zu sehen – er hätte erwartet, eine gewisse Freude, Zufriedenheit zu empfinden. Aber Narzissa schreckte ihn einfach nur ab.
„Ich muss dir etwas erzählen.“ Narzissa löste sich von der Wand. „Dringend.“
Harry hob die Augenbrauen. „Was denn?“
Ihr Blick wanderte über die anderen Anwesenden. „Ich möchte allein mit dir reden.“
„Kommt nicht in Frage!“ McGonagall trat an Harrys Seite. „Sie sind eine Todesserin. Wie können Sie erwarten, zu einem Gespräch allein mit Harry Potter zu kommen?“
Narzissa sah McGonagall direkt in die Augen. Sie wandte sich nicht ab. Harry glaubte nicht, dass viele Menschen McGonagalls Adlerblick so lange standhalten könnten. Aber schließlich war es doch Narzissa, die das Starren unterbrach. Sie sah nach unten und zog den linken Ärmel ihres Kleides hoch. Mit zwei großen Schritten stand sie vor McGonagall, die nicht zurückwich. Sie streckte ihren Unterarm aus. Harry verstand nicht, was sie vorhatte, aber dann erkannte er es – der Unterarm war völlig nackt.
Da war kein dunkles Mal.
„Ich war nie eine Todesserin“, sagte Narzissa. „Und ich möchte auch keine sein. Vielleicht halte ich nichts von … Muggelgeborenen …“ Über McGonagalls Schulter warf sie einen Blick auf Hermine, die nicht die geringste Reaktion zeigte. „Aber mit dem Dunklen Lord will ich nichts zu tun haben.“
Harry war überrascht. Er war nicht fassungslos, aber überrascht war er doch. Immerhin hatte er es für selbstverständlich gehalten, dass Narzissa Malfoy eine Todesserin war, wie ihr Mann, wie ihr Sohn.
McGonagall hingegen schien nicht ĂĽberrascht zu sein. Ihr Gesicht zumindest zeigte keine Spur davon. Sie sah Narzissa einfach nur an, die Lippen fest aneinander gepresst, die Augenbrauen zusammengezogen.
„Ich erlaube trotzdem nicht“, sagte sie, „dass Sie ein unbeaufsichtigtes Gespräch mit Harry Potter führen werden.“
Harry rollte mit den Augen. Dachte McGonagall etwa, er könnte sich nicht gegen Narzissa Malfoy wehren? „Ich bin ja nicht allein mit ihr.“
McGonagall drehte sich zu Harry um.
„Ron und Hermine werden auch dabei sein“, fügte er hinzu. „Außerdem hat man ihr den Zauberstab doch sicher abgenommen. Es besteht keine Gefahr.“
„Harry, ein Gespräch mit Narzissa Malfoy ist etwas Anderes als ein Gespräch mit Florean Fortescue! Man kann ihr nicht trauen, du kennst ihre Familie –“
„Ja, die kenne ich sogar sehr gut“, fiel Harry ihr ins Wort, „und ich weiß auch genau, womit ich es hier zu tun habe.“
McGonagall schien etwas entgegnen zu wollen. Sie öffnete ihren Mund – schloss ihn wieder und schluckte. Dann nickte sie, erst an Harry gerichtet, dann zu Flitwick, Sprout und dem in der Ecke stehenden Filch. Sie lief ihnen voraus aus dem Raum. Filch warf die Tür hinter sich laut ins Schloss.
„Das wäre erledigt.“ Harry wandte sich wieder an Narzissa und wies auf Snapes alten Schreibtischstuhl. „Nehmen Sie bitte Platz.“
Narzissa starrte ihn mit ihrem leeren Gesicht an, dann setzte sie sich tatsächlich. Harry war zufrieden damit, wie er mit der Situation umging.
„Also – was ist das, das Sie mir erzählen müssen?“
Narzissa antwortete lange Zeit nichts; sie sah sich im Raum um, als würde sie nach etwas suchen, und ihr Blick streifte immer wieder Ron und Hermine. Dann sagte sie: „Ich wollte doch allein mit dir reden.“
„Ich würde es den beiden später sowieso sagen.“ Harry lachte. „Ich weiß nicht mal, wie Sie es wagen können, hier Anforderungen zu stellen. Oder wieso wir so höflich mit Ihnen umgehen. Sie hätten wahrscheinlich zu keinen drei Menschen kommen können, die so etwas wie Sie mehr verabscheuen als zu uns drein.“
„Das ist mir bewusst“, sagte Narzissa unberührt, „und du kannst dir sicher sein, dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.“
„Gut“, entgegnete Harry, „dann könnte aber auch die Höflichkeit von beiden Seiten kommen. Ich sieze Sie nicht, weil ich Respekt vor Ihnen habe, sondern weil ich Sie als erwachsene Person betrachte, und ich bitte Sie, dasselbe mit mir zu tun.“
Narzissas Gesicht zeigte immer noch nicht die geringste Reaktion; es war wie eingefroren. „Also schön. Mr Potter.“
„Ja, sogar sehr schön. Nun sagen Sie endlich, was Sie sagen wollen, damit das hier beendet ist.“
Wieder zögerte Narzissa. Als würde sie alles, was sie sagte, vorher genau durchdenken. Dieses Verhalten war entnervend, aber Harry wollte es durchstehen. Möglich war es immer noch, dass sie etwas Interessantes für ihn hatte …
„Ich bin nicht hier hergekommen, um das hier schnell zu beenden.“ Narzissa schlug ein Bein über das andere. „Ich habe viel durchgemacht in letzter Zeit. Ich und mein Sohn auch. Wir sind aus dem Hauptquartier des Dunklen Lords geflohen und haben uns dann lange Zeit vor ihm versteckt, sind oft von seinen Todessern gesucht und gejagt worden. Draco ist verletzt, das ist der Grund, warum ich mit ihm in unser altes Haus appariert bin. Ich dachte, vielleicht ist dort noch die Heilsalbe, die ihm helfen könnte, und wenn der Orden des Phönix dort Wache halten sollte, wäre es auch schon egal, dann hilft eben der meinem Sohn.“
Harry zeigte es nicht, aber er war verblüfft von dieser Aussage. Sie schien ihren Sohn zu lieben. Damit hätte er nicht gerechnet.
„Wo ist Voldemorts Hauptquartier?“, fragte Hermine, aber Harry konnte in ihrer Stimme hören, dass sie auf eine Antwort nicht viel Hoffnung hatte; das Ministerium und der Orden wollten das sicher auch schon von ihr wissen.
Narzissa hatte auch offensichtlich nicht vor, zu antworten – aber möglicherweise aus einem anderen Grund als Geheimnistuerei. Als Hermine ihre Frage gestellt hatte, war sie entsetzt aufgesprungen und zum ersten Mal zeigte ihr Gesicht nicht diese Teilnahmslosigkeit. Sie war schockiert.
„Du hast seinen Namen benutzt!“ Sie warf die Hände vor ihren Mund.
„Ja, habe ich“, gab Hermine zurück. „Und ich werde das auch weiterhin tun, wann immer mir danach ist.“
Narzissa blieb eine Weile stehen, die Hände vor dem Mund. Dann ließ sie sie langsam sinken. Der Geist eines Lächelns stahl sich auf ihr Gesicht und sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
„So arrogant. Du bringst nur dich und deine Freunde damit in Gefahr, kleines Schlammblut.“
Innerhalb eines Sekundenbruchteils – sogar Harry erschrak dabei – hing ihr die Spitze eines Zauberstabs vor dem Gesicht.
„Wagen Sie es ja nicht“, knurrte Ron, „dieses Wort zu benutzen!“
Narzissa schielte auf den Zauberstab, der auf einen Punkt zwischen ihren Augen gerichtet war. Harry konnte winzige Funken aus ihm sprühen sehen; und Narzissa schien sie ebenfalls zu bemerken, denn ihr Gesicht war nun ängstlich verzerrt.
„Ron, nimm den Stab runter“, sagte Hermine ruhig. Erst dachte Harry, Ron hätte sie gar nicht gehört – doch dann ließ er seinen Zauberstab tatsächlich wieder sinken.
„Gut so.“ Hermine griff nach Rons Handgelenk und zog ihn zu sich. „Jetzt noch einmal zu Ihnen – wo ist Voldemorts Versteck?“
Narzissas Augen funkelten Hermine bösartig an. „Ich habe keine Ahnung.“
Hermine stöhnte. „Ach, kommen Sie, wem wollen Sie das –“
„Habe ich nicht vorher bewiesen“, unterbrach sie Narzissa mit bebender Stimme, „dass ich keine Todesserin bin?“ Sie zog wieder ihren Ärmel hoch, gab ihren Unterarm preis. „Da ist kein Mal, ich war nie wirklich in den Kreisen des Dunklen Lords! Ich war nur die Frau eines Todessers, und daher akzeptiert. Lucius hat mich in das Hauptquartier gebracht, als wir uns versteckt haben, und bis vor ein paar Monaten bin ich immer dort gewesen!“
Harry sah ihren Unterarm nachdenklich an. Sagte sie die Wahrheit?
„In Ordnung“, sagte er, „in Ordnung, wir glauben Ihnen ja. Aber könnten Sie mir jetzt bitte mitteilen, was Sie mir so Dringendes zu erzählen haben?“
Nur widerwillig wandte Narzissa sich von Hermine ab, das war spürbar. Aber schließlich ließ sie den wütenden Blick fallen, drehte ihren Kopf wieder Harry zu und sagte: „Es geht um etwas ganz Besonderes.“
„Um was denn?“
„H-Harry!“
Harry drehte sich um – und erkannte verwirrt, dass Ron und Hermine schockiert Narzissa anstarrten.
„Was ist denn?“
„Sie – sie –“, stammelte Ron. „Hast du das nicht –?“
„Natürlich hat er das nicht gehört!“, warf Hermine ein.
„Doch, ich hab gehört, was sie gesagt hat!“ Harry verstand nicht im Geringsten, worauf sie hinaus wollten. „Was ist denn los?“
„Darum geht es ja!“, sagte Ron. „Du hast gehört, was sie gesagt hat – und bist damit der einzige von uns. Du hast aber nicht gehört –“
„– wie sie es gesagt hat“, sagte Hermine. „Harry, sie spricht Parsel!“
Harry drehte seinen Kopf schnell wieder zu Narzissa um; sie saĂź einfach nur da, trug ein Grinsen auf ihren Lippen.
„Überrascht?“, fragte sie.
Harry ließ sich nicht anmerken, wie sehr. „Einigermaßen“, sagte er. Damit hatte er nun überhaupt nicht gerechnet.
„Ich spreche übrigens immer noch in Parsel“, sagte sie lächelnd. „Wie gesagt, ich will mit dir – Verzeihung – Ihnen allein reden, und wenn Sie dazu nicht bereit sind, dann sorge ich eben dafür, dass Sie keine andere Wahl haben.“
Nun, da Harry näher hinhörte und sich konzentrierte, konnte er das sanfte Zischen (das alles war, was Ron und Hermine hörten) auch wahrnehmen. Er sah noch einmal zu Ron und Hermine; ihren Gesichtsausdrücken zufolge verstanden sie wirklich immer noch kein Wort.
„Es ist trotzdem unnötig“, erwiderte Harry; ihm war bewusst, dass er in gewöhnlichem Englisch sprach, aber das wollte er so, um die anderen beiden nicht auszuschließen. „Ich werde es ihnen später erzählen.“
„Gut möglich“, sagte Narzissa. „Aber dann haben sie es wenigstens nicht von mir erfahren. Schlimm genug, dass ich es Ihnen erzähle.“
„Dann fangen Sie wenigstens endlich an!“ Harry spürte, dass er langsam aber sicher all seine Geduld aufgebraucht hatte.
Die letzte Spur des selbstgefälligen Grinsens verschwand von Narzissas blassem Gesicht; sie wirkte nun wieder ernsthaft – gefühllos. „Ich brauche Ihre Hilfe. Ich suche nach etwas, das helfen könnte, den Dunklen Lord zu stürzen.“
Harry wurde sofort hellhörig. „Ach ja?“
„Ja. Ich weiß nicht, warum – ich weiß nicht einmal genau, was es ist. Allerdings weiß ich, wie es aussieht. Und wo es sich einmal befunden hat.“
„Sagen Sie schon!“, drängte Harry; er zitterte vor Erwartung. Was, wenn Narzissa Recht hatte?
Narzissa zögerte wieder eine Weile. Als Harry gerade der Knoten platzte und er kurz davor war, loszuschreien, redete sie endlich.
„Der Gegenstand sieht es aus wie ein ganz gewöhnliches silbernes Medaillon.“
Kurz glaubte – hoffte – Harry, Narzissa falsch verstanden zu haben – dann gab er diese Hoffnung auf. Er ließ seinen Kopf fallen.
„Ich weiß, das klingt verrückt, aber –“
„Nein, Mrs Malfoy, das klingt nicht verrückt.“ Harry seufzte. „Sie haben Recht mit dem Medaillon, es könnte eventuell bei Voldemorts Vernichtung helfen – aber wir haben das Medaillon bereits.“
Narzissa wich erstaunt zurück. „Ihr habt es bereits? Aber es war doch –“
„Sie wissen vermutlich, dass es Regulus Black gehabt hat?“
Zuerst reagierte Narzissa ĂĽberhaupt nicht, sah Harry nur wie von allen Geistern verlassen an. Dann nickte sie.
„Nun, jetzt gehört es uns. Wir wissen alles über die Geschichte von Regulus.“ Harry schnaufte. „Vermutlich sogar mehr als Sie. Außer, Sie haben gehört, dass es zwei Medaillons gibt? Ja, ganz recht – ein goldenes und ein silbernes. Wir haben das silberne, aber das goldene bräuchten wir dringender. Wie auch immer …“ Harry wandte sich zum Gehen um. „Wenn das schon alles war – das war doch alles, oder?“
Narzissa verengte die Augen, aber sie nickte.
„Gut. Dann schicke ich jetzt wieder die Professoren zu Ihnen herein. Ron, Hermine – kommt ihr?“
Nachdem Narzissa Malfoy eine so herbe Enttäuschung für ihn war, wollte Harry nicht noch einmal einen solchen Reinfall erleben. Er hatte jetzt genug davon. Ständig irgendwo Hoffnung zu sammeln, bevor ihm diese Hoffnung sofort wieder zerstört wurde. Aber da gab es ohnehin noch eine Rechnung, die offenstand – er musste das Ministerium dazu bringen, Fortescue ein weiteres Gespräch mit ihm zu erlauben, ohne etwas dafür zu verlangen.
Und das war nun auch sein – wie er es gerne nannte – Hauptprojekt. Das klang so wunderbar unschuldig, so unwichtig, wie in der Schule. Er hatte gedacht, das würde ihm vielleicht den Stress ein bisschen nehmen. Natürlich hatte er sich geirrt, den Druck, der auf ihm lastete, spürte er trotzdem.
Aber wenigstens wirkte der Versuch, ein zweites Gespräch mit Florean Fortescue in die Wege zu leiten, nicht ganz so hoffnungslos wie die Suche nach den Horkruxen. Hermine war nach eigener Aussage kurz davor, etwas zu finden, das bewies, dass das Ministerium das Treffen von Harry und Florean zulassen musste.
„Das einzige Problem sind die widrigen Umstände“, sagte sie zu ihm, als sie am Nachmittag eines sonnigen Maitages im Raum der Wünsche saßen. Auf seinen fragenden Blick hin erklärte sie: „Das Kriegsgeschehen. Einige Regeln und Gesetze werden dadurch über den Haufen geworfen. Bestimmte Erlasse könnte das Ministerium schon vorweisen, um Florean von dir fernzuhalten – oder umgekehrt, dich von ihm. Aber wie gesagt, ich bin kurz davor, einen Ausweg zu finden!“
Dann lief sie los, um in der Bibliothek weiter zu forschen. Harry hatte nichts gesagt, aber ihm war Hermines Gesichtsausdruck natürlich aufgefallen. Und der verriet, dass sie nicht ganz so nah an einer Lösung dran war, wie sie behauptete.
Die Tür zum Raum der Wünsche wurde wieder geöffnet.
„Na, ist dir noch was eingefallen?“, fragte Harry, bevor er hinsah. Als er das aber tat, erkannte er, dass nicht Hermine eingetreten war; es war McGonagall.
„Oh – guten Tag!“
„Guten Tag, Harry. Darf ich kurz mit dir sprechen?“
„Natürlich, kommen Sie herein!“ Harry wies auf den Stuhl neben sich. „Setzen Sie sich!“
„Nein, das ist nicht notwendig“, sagte McGonagall. „Ich bin nur hier, um Ihnen etwas mitzuteilen.“
Harry fiel in seinen Sessel zurück. „Gute oder schlechte Nachrichten?“
„Gute. Es sind wieder zwei Vermisste aufgetaucht.“
Harry starrte McGonagall ungläubig an. „Schon wieder?“
„Ja. Seltsam, nicht wahr?“
„Das können Sie wohl sagen …“ Harry schüttelte seinen Kopf. „Wer ist es diesmal?“
McGonagall atmete tief und lange aus; dann sagte sie: „Mr Ollivander und Cornelius Fudge.“
„Ollivander und Fudge?“ Harry nickte. „Das ist gut!“
„Ja“, sagte McGonagall. „Aber deshalb bin ich nicht zu dir gekommen. Ollivander und Fudge sind beide direkt vor die Tore von Hogwarts appariert und befinden sich nun im Schloss – und, ob du es glaubst oder nicht, Ollivander möchte sehr, sehr dringend mit dir sprechen.“
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