von Wizardpupil
Die heiteren Sonnenstrahlen, die durch die magische Decke leuchteten, das laute, fröhliche Plaudern, das gelegentliche Lachen in der großen Halle beim Frühstück am nächsten Morgen ließ einen nicht an Kriegszeit denken, an einen lauernden Lord Voldemort, der seine nächsten Schritte plante, an Seelenteile, die überall versteckt sein könnten und unbedingt gefunden werden mussten. Und tatsächlich beschäftigte Harry ausnahmsweise einmal etwas Anderes als die Horkruxe schon seit längerer Zeit, seit dem vorigen Tag, um genau zu sein: Vindictus Viridian, der angeblich echte Nekromant. Harry ließ seinen Blick zum Lehrertisch wandern, aber Professor Viridian war nicht zu sehen.
„Guten Morgen“, begrüßte ihn Hermine, als er sich auf den Platz neben ihr niederließ.
„Morgen“, sagte er, und griff nach einer Kaffeekanne; so wenig Hunger er hatte, so groß war seine Müdigkeit, und er würde wohl Unmengen an Kaffee leeren müssen, um im heutigen Unterricht aufmerksam sein zu können.
„Wo ist Ron?“, fragte Hermine.
Harry fiel erst jetzt richtig auf, dass Ron nicht bei Hermine war. Das hatte er eigentlich erwartet, als er aufgewacht war und Ron nicht in seinem Bett hatte liegen sehen.
Er zuckte mit den Schultern. „Sag du’s mir.“
„Kann ich – da kommt er!“
Harry wandte sich zum Eingang der Halle, durch den gerade Ron hereinkam; sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
„Guten Morgen“, sagte Hermine auch zu Ron, noch etwas enthusiastischer als zuvor zu Harry, vermutlich, weil auch ihr seine Miene nicht gefiel.
Ron grunzte nur zurück, setzte sich neben Harry und zog eine Schüssel Haferbrei zu sich. Harry und Hermine tauschten einen alarmierten Blick aus.
„Ähm – wo warst du denn?“, fragte Harry vorsichtig. Er hätte erwartet, dass Ron nicht sofort antwortete, vielleicht sogar gar nicht, und wenn, dann mit lauter, wütender Stimme – stattdessen sprach Ron ganz leise und seltsam niedergeschlagen.
„Im Krankenflügel“, sagte er.
Hermine blinzelte ungläubig. „Fehlt dir etwas?“
Ron wandte sich ihr zu, sah sie aus überrascht geweiteten Augen an. „Nein, ich war dort wegen Percy!“
„Ach so, natürlich!“ Hermine errötete. „Er ist ja jetzt der Assistent von Madam Pomfrey, tut mir Leid, das habe ich –“
„– vergessen“, sagte Ron, bevor er sich einen Löffel Brei in den Mund steckte. „Fon kla, kön Poböm“, nuschelte er mit vollem Mund, dann schluckte er und fuhr fort: „Ich wollte nur mal hallo sagen, fragen, wie’s ihm geht. Jetzt, wo er wieder – naja – zurückgekommen ist und – Mum und Dad ihn wieder aufgenommen haben als richtiges Familienmitglied.“ Rons Tonfall ließ keinen Zweifel darüber, was er von dieser Entscheidung dachte.
„Er war doch wohl nicht etwa fies, oder?“, fragte Harry. Ihm fiel sonst keine Erklärung für Rons Laune ein, aber trotz allem, was Percy bisher getan hatte, konnte er nicht glauben, dass Percy sich jetzt noch ungut verhalten würde gegenüber Ron.
Aber Ron schüttelte den Kopf. „Nein, er war sehr nett, wollte mit mir reden. Hat sich entschuldigt, für den Brief, der er mir damals geschickt hat –“ Er sah Harry an, als würde er sich vergewissern wollen, dass Harry sich daran erinnerte; er nickte, und Ron redete weiter: „Hat mich gefragt, wie es mir geht, nach meinen ZAG-Noten, einiges an Smalltalk also …“
„Aber das klingt doch toll!“, meinte Hermine.
Ron schnaufte. „Naja, vielleicht. Dann wollte er über George und Fred sprechen.“
Hermines Gesicht sank ein.
„Hat gesagt, Fred würde sicher eines Tages zurückkehren – da bin ich aufgestanden und gegangen. Ich – ich bin noch nicht bereit dafür, darüber zu reden.“
Dem folgte erst einmal sehr betretenes Schweigen unter den drein. Harry sah seinen Freund an, nicht wissen, was er sagen oder tun könnte, um die Stille zu überbrücken, oder Ron zu trösten. Das war ein Job für Hermine. Aber bevor die den Mund aufmachte, sagte Ron:
„Sie haben mir nicht verziehen. Ich wollte mich entschuldigen dafür, dass ich ihnen verraten hab, dass sie keine – dass sie nicht – ihr wisst schon. Bei der Hochzeit, ihr habt es mitbekommen. Sie haben mich ausgelacht, gesagt, sie würden mir nicht verzeihen – und dann ist George gestorben und Fred verschwunden, beide, ohne mir zu verzeihen. Sie haben mich beide gehasst, und Fred hasst mich noch.“
Jetzt wäre Harry niemals etwas eingefallen, was er sagen könnte, egal, wie viel Zeit er zum Nachdenken gehabt hätte. Er hatte das Gespräch zwischen Ron und den Zwillingen bei der Hochzeitsfeier vergessen, aber jetzt erinnerte er sich wieder daran. Das musste schon die ganze Zeit auf Rons Seele gelegen haben, vielleicht sogar auf seiner Zunge – wer weiß, wie lange er das schon aussprechen wollte, seinen Kummer mit Harry und Hermine teilen wollte? Und dann fiel Harry plötzlich ein, dass er Ron noch überhaupt keinen Trost gespendet hatte, nicht für ihn da gewesen war nach Georges Tod, Freds Verschwinden … Es war so viel losgewesen … Er hatte schon gar nicht mehr an die Zwillinge gedacht, obwohl Georges Tod ihm doch auch wehgetan hatte – oder?
„Ron!“, hauchte Hermine dann, als wäre sie nicht fähig, lauter zu sprechen; sie klang entrüstet. „Ron, wie kannst du nur so etwas denken? Sie haben dich nicht gehasst, sicher nicht! Sie haben nicht – sie haben das doch nicht so gemeint, sie sagen ständig solche Sachen, das war nur ein Scherz! Natürlich haben sie dir verziehen – oh, Ron …“
„Ist doch jetzt egal.“ Aber Ron klang gar nicht so, als wäre es ihm egal. „Man kann es sowieso nicht mehr ändern.“
„Ron –“
„Nein, Hermine, wirklich.“ Er sah Hermine jetzt wieder direkt an. „Ich will nicht mehr darüber sprechen, okay? Es war blöd, dass ich das gesagt hab.“
„Das war überhaupt nicht –“
„Doch, es war blöd.“ Und ohne weitere Umschweife wandte er sich an Harry. „Hast du neue Pläne?“
Völlig überrumpelt von dieser Frage und immer noch geschockt wegen Rons Geständnis, wenn man es so nennen wollte, fand Harry schon wieder keine Worte, um zu antworten. Er öffnete und schloss seinen Mund mehrere Male, als jemand anderes sprach.
„Hallo, ihr drei.“
Es war Neville, der, zusammen mit Ginny und Luna, zu ihnen herübergekommen war.
„Luna hat uns gerade ihre neue Fähigkeit gezeigt“, sagte Neville und er grinste Harry vielsagend an. Harry sah zu Luna – ihre Haare waren, wie ihm jetzt auffiel, stoppelkurz und pink.
„Sie ist nicht neu, das hat sie doch erklärt“, sagte Ginny, und die Leichtigkeit und Gelassenheit, mit der sie sprach, jagte Harry einen kalten Schauer den Rücken hinunter; sie hatte schon lange nicht mehr so mit ihm geredet. „Das kann sie schon von Geburt an, sie hat es nur erst vor kurzem entdeckt!“
„Du bist ein Metamorphmagus?“, fragte Hermine erstaunt, und Harry erinnerte sich, dass sie gar nicht dabei gewesen war, als Luna ihm und Ron diese Kraft vorgestellt hatte.
Luna nickte, scheinbar in Gedanken verloren. „Ja. Aber das hier passt mir noch weniger als die roten Haare.“ Sie schloss kurz die Augen, und die Haare wuchsen wieder zu ihrer gewohnten Länge und färbten sich blond. „Wisst ihr, ich hätte nämlich lieber irgendeinen Rotton als Haarfarbe – das soll Schrumpfhörnige Schnarchkackler anlocken!“
„Wie auch immer“, sagte Ginny; sie bückte sich, und von unter dem Tisch zog sie Krummbein hervor, den Harry dort nicht bemerkt hatte. „Hermine, hier ist dein Kater – der läuft mir in letzter Zeit überallhin nach. Ich verbringe zwar gerne Zeit mit ihm, aber wenn er mich dann sogar im Badezimmer überrascht oder morgens in meinem Bett liegt, geht mir das doch ein bisschen zu weit.“
„Natürlich.“ Hermine grinste, als sie Krummbein entgegennahm.
„Ginny, wir sollten dann zu Verwandlung gehen“, sagte Luna, in einem überraschten Tonfall, als wäre ihr gerade erst eingefallen, dass sie in Hogwarts war und heute Unterricht hatte.
„Und wir haben gleich Zauberkunst“, sagte Hermine. Harry, Ron und Neville folgten ihr, Luna und Ginny hinterher, aus der großen Halle.
Bisher hatte so vieles Harry beschäftigt, dass ihm eine Tatsache nicht zur Gänze bewusst worden war: Er war in seinem Abschlussjahr an Hogwarts. Die wichtigsten Prüfungen, die er jemals hatte, standen ihm bevor. Kein Wunder, dass schon am zweiten Tag der schulische Druck, den er am ersten so gekonnt verdrängt hatte, beinahe die Überhand nahm über Harrys Obsession mit Viridian und den Gedanken an seine eigentliche Aufgabe, die Horkruxe.
So begann Professor Flitwick seinen Zauberkunst-Unterricht, anders als Sprout und Viridian es am Vortag getan hatten, mit einem langen Vortrag, wie wichtig die kommenden Prüfungen waren, ähnlich wie damals vor den ZAGs. Und obwohl Harry sich vornahm, dass er sich davon nicht ablenken lassen durfte – sogar wusste, dass ihm das gar nicht passieren konnte, weil ihm die Prüfungen einfach nicht wichtig waren –, nahm der schwierige Zauber, den sie übten, doch bald seine gesamte Konzentration und Gedankenwelt in Anspruch.
Nach Zauberkunst hatte Harry einen weiteren neuen Lehrer, auf den er unter anderen Umständen sehr gespannt gewesen wäre. Was hatte Professor McGonagall dazu bewegt, Cornelius Fudge, den ehemaligen Zaubereiminister, als Lehrer für Verwandlung einzustellen? Als Harry, Ron und Hermine das Klassenzimmer betraten, lächelte er ihnen mit dem Lächeln entgegen, das er Harry schon so oft gezeigt hatte. Das, von dem er dachte, es wäre väterlich und einladend. Seinen Melonenhut trug Fudge nicht, aber stattdessen einen schlichten schwarzen Umhang und einen ebenso schlichten Zaubererhut, was ihn aussehen ließ wie der fette Mönch, der Hausgeist von Hufflepuff, mit einigen Kilogramm weniger und einem Spitzhut auf dem Kopf.
„Harry, Harry, Harry!“, rief er. „Wie schön, dich wiederzusehen!“
Harry schüttelte höflich die Hand, die Fudge ihm entgegenstreckte, aber er antwortete nicht. Konnte Fudge tatsächlich glauben, dass Harry ebenso bereit war wie er, einfach zu vergeben und zu vergessen, was er in seiner Zeit als Minister getan hatte? Die Narben auf Harrys rechter Hand, die er durch Umbridges spezielle Feder erhalten hatte, waren immer noch recht deutlich erkennbar.
„Nun denn!“, rief Fudge dann, immer noch mit seinem Lächeln, als alle Schüler sich gesetzt hatten, und klatschte in die Hände. „Ihr kennt mich alle vermutlich – immerhin war ich einige Jahre lang Zaubereiminister! Daher fragt ihr euch vielleicht, warum ich jetzt nicht mehr in der Politik tätig bin, sondern den Lehrerberuf ergriffen habe.“
Er sah von Schüler zu Schüler, als würde er nach einer neugierigen und interessierten Miene suchen; als er keine fand, fixierte er einfach Harry mit den Augen.
„Nun, es ist so: Ich wollte schon immer unterrichten. Und da in Hogwarts die Stelle des Lehrers für Verwandlung frei war, habe ich sofort zugeschnappt!“
„Von wegen“, flüsterte Ron in Harrys Ohr, während Fudge zum Unterricht überging und etwas aus einem Buch vorlas. „Der hat sonst nichts mehr gekriegt, das stand in der Zeitung – Fudge in Notlage, keiner wollte ihn anstellen – ihm blieb nichts anderes übrig, als in Hogwarts zu unterrichten, weil Verwandlung noch frei war!“
Nach einer äußerst langweiligen Doppelstunde Verwandlung, die bei Professor McGonagall zwar komplizierter und schwieriger, dafür aber interessanter gestaltet gewesen wäre, saßen Harry, Ron und Hermine im Gemeinschaftsraum, wo sie über dem Aufsatz zu der Rolle der Quintessenz in der Magie für Flitwick brüteten.
„Verdammt kompliziert“, murrte Ron, der seit geraumer Zeit ein Buch in der Hand hielt. „Ich les den Satz hier zum zehnten Mal und hab immer noch nicht verstanden, worum es da geht.“
„Und ich kann mich nicht konzentrieren“, sagte Hermine plötzlich; sie ließ ihre Feder fallen, lehnte sich zurück und verdeckte ihre Augen mit den Händen.
Ron sah sie ungläubig an. „Du kannst dich nicht auf Hausaufgaben konzentrieren? Im UTZ-Jahr?“
„Mich beschäftigt etwas anderes.“ Sie nahm die Hände von ihren Augen und sah Harry an. „Viktor hat immer noch nicht auf meine Briefe geantwortet. Ich glaube, da stimmt irgendetwas nicht.“
Ron rümpfte zwar die Nase, aber er schien die Besorgnis in Hermines Augen zu erkennen, denn er sagte nichts.
„Sollen wir mit dem Orden reden?“, fragte Harry. „Der kann ja nach ihm sehen.“
Hermine hob und senkte die Schultern, nickte aber gleich darauf. „Ja, doch – das wäre vielleicht eine gute Idee.“
„Mir fällt da noch eine schnellere Methode ein!“
Harry und Hermine wandten sich beide überrascht an Ron. Seine Arme waren verschränkt, aber er sah Hermine mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht an – als hätte er tatsächlich Mitleid mit ihr.
„Und zwar?“, fragte Hermine, die Stirn gerunzelt.
Ron aber sprach zu Harry. „Schick Kreacher.“
„Keine schlechte Idee“, meinte Harry. „Was meinst du, Hermine?“
„Schon wieder einen Hauselfen die Arbeit erledigen lassen?“ Hermine verzog ihren Mund; sie schien hin und her gerissen zwischen ihrem B.ELFE.R-Geist und ihrem Wunsch, Krum so schnell wie möglich zu finden. „Ich weiß nicht …“
„Ein Hauself könnte Krum sicher schnell finden“, sagte Ron. „Außer natürlich, Krum versteckt sich und beschützt sich, indem er sich tarnt und verkleidet, und mit irgendwelchen Zaubern, so wie Dung das getan hat. Dann würde Kreacher wohl lang brauchen. Kann ja sein, dass er es angesichts des Krieges mit der Angst zu tun bekommen und sich irgendwohin verkrochen hat …“
Hermine hörte ihm scheinbar schon gar nicht mehr zu; sie blickte aus dem Fenster, in Gedanken verloren. Schließlich sagte sie zu Harry: „Würdest du Kreacher darum bitten, Viktor zu finden?“
Harry warf einen seitlichen Blick auf Ron und lächelte, als er dessen zufriedenes Grinsen darüber, dass Hermine seinem Vorschlag gefolgt war, sah; dann rief er: „Kreacher!“
Der Hauself erschien sofort neben ihnen. Sein grimmiges Gesicht, die filzigen Haare, die aus seinen Ohren wuchsen und sein hässlicher Buckel zogen sofort einige neugierige und teilweise angeekelte Blicke auf sich.
„Der Meister hat Kreacher gerufen.“ Kreacher verbeugte sich tief. „Was möchte der Meister diesmal? Soll Kreacher wieder schmutzige Diebe aufspüren für ihn, den Blutsverräter und das Schlamm-?“
„Nein“, sagte Harry schnell. „Zuerst einmal befehle ich dir, dass du aufhörst, die Worte Blutsverräter und Schlammblut in den Mund zu nehmen.“
„Wie Ihr wünscht, Meister“, sagte Kreacher, aber als er sich erneut verbeugte, fügte er irgendetwas murmelnd hinzu, das Harry nicht verstand; er wollte es aber auch gar nicht verstehen.
„Und mein zweiter Befehl“, sagte Harry, wobei er sich umsah – das kurz aufgekommene Interesse war wieder abgesunken, alle anderen Anwesenden hatten sich ihren Hausaufgaben oder Spielen zugewandt – er konnte also weitersprechen, ohne belauscht zu werden: „Mein zweiter Befehl ist dieser: Finde bitte Viktor Krum für uns.“
Kreacher hob die Augenbrauen.
„Das kann Kreacher nicht.“
„Wa- wie bitte?“
„Das kann Kreacher nicht.“ Seine Augenbrauen wanderten noch höher seine runzlige Stirn hinauf. „Es ist Kreacher nicht möglich, Viktor Krum zu finden.“
„Aber wieso –“
Harry bemerkte, dass Hermine neben ihm geschockt auf den Elf hinabblickte, furchtbar blass. Befürchtete sie dasselbe, wie er?
„Wieso kannst du Krum nicht finden?“, fragte Harry erneut, diesmal flüsternd, um nicht erneut die Aufmerksamkeit der anderen Schüler zu erregen. „Sag schon, Kreacher! Und sprich ein bisschen leiser!“
„Kreacher kann Viktor Krum nicht finden“, sagte Kreacher, so leise, dass Harry ihn kaum hören konnte, „weil Kreacher Viktor Krum noch nie gesehen hat.“
Harry hätte sich beinahe mit der Hand an die Stirn geklatscht. Ach so!, dachte er. Er hatte schon gedacht, Krum wäre tot und Kreacher wüsste davon … Auch Hermine atmete laut und hörbar erleichtert aus.
„Also muss ein Hauself jemanden gesehen haben, um denjenigen finden zu können?“ Harry hatte das nicht gewusst; aber irgendwie kam es ihm logisch vor. „Gut, dann – Kreacher, geh zurück in die Küche und – und könntest du uns Dobby hochschicken?“
Kreacher verbeugte sich ein weiteres Mal und verschwand dann wieder.
„Gute Idee“, sagte Ron, „Dobby hat Krum damals bestimmt gesehen während des Trimagischen Turniers!“
Harry nickte und Hermine strahlte ihn an – da drang auch schon das altbekannte Geräusch eines erscheinenden Hauselfen an Harrys Ohr.
„Harry Potter!“
Dobbys Augen waren mindestens genauso entzückt auf Harry gerichtet wie die von Hermine es eben gewesen waren. Obwohl Harry es kaum für möglich gehalten hatte, erweckte Dobby sogar mehr Interesse als Kreacher es getan hatte bei den anderen Gryffindors.
„Schon zum zweiten Mal in so kurzer Zeit rufen Sie Dobby, Harry Potter, Sir!“, rief Dobby.
„Es tut mir Leid, wenn ich dich störe, Dobby –“
„Dobby stören? Aber nein, Harry Potter! Dobby ist geehrt – so geehrt –“
„Gut, schon gut.“ Harry fühlte sich unwohl dabei, wie alle abwechselnd auf Dobby und auf ihn starrten. „Komm mit, Dobby – ihr auch, Ron, Hermine – wir gehen hoch in unseren Schlafsaal.“
Er, Ron und Hermine standen auf, und Dobby lief ihnen mit schnellen Schritten hinterher. Als sie in Harrys und Rons Schlafsaal ankamen, schloss Harry die Tür.
„Das haben Sie sehr schön gemacht, Harry Potter, Sir!“, sagte Dobby, und seine Fledermausohren wackelten aufgeregt, als er mit einem seiner kleinen Finger auf Harrys Nachttisch zeigte. Dort standen die goldene Uhr, das Brillenetui, der Spiegel und das Quidditch-Buch, die er am vorgestrigen Abend dort aufgestellt hatte, und neben Hermines Buch lag noch ein weiteres, welches er erst gestern hinzugefügt hatte – Leben, Tod und Seele – eine Studie. Er hätte eigentlich gestern zu lesen beginnen wollen, aber er war dann abends zu müde gewesen. Und über all diesen Gegenständen hing an der Wand das Poster, das er aus dem Haus seiner Eltern mitgenommen hatte.
„Danke, Dobby“, sagte Harry, der kurz abgelenkt war von diesem Anblick, der wieder in ihm diesen wohligen, heimeligen Schauer auslöste. „Also – Dobby, ich möchte dich um etwas bitten –“
„Sagen Sie es nur, Harry Potter!“
„Äh – ja, gut. Also, Dobby, ich möchte dich bitten, Viktor Krum zu suchen.“
Harry hätte erwartet, dass Dobby, in seinem offensichtlichen, übertriebenen Übermut sofort verschwinden, oder Krum sogar wie aus dem Nichts neben sich erscheinen lassen würde – aber stattdessen fielen Dobbys Ohren nun an beiden Seiten seines Gesichts nach unten, und in seinen Augen machte sich ein trauriger Ausdruck breit.
„Was ist denn?“, fragte Hermine nervös. „Kreacher hat gesagt, wenn Hauselfen jemanden gesehen haben, können sie ihn später auch finden –“
„Also …“ Dobbys Oberkörper schwankte von einer Seite zur anderen, und er sah Hermine fast schuldbewusst an, als hätte er etwas Schlimmes gemacht. „Miss Granger muss wissen, dass das nicht so einfach ist. Es reicht nicht, wenn ein Hauself jemanden sieht, Miss – Dobby hätte Viktor Krum bewusst wahrnehmen und – und fixieren müssen, um ihn später immer wieder finden zu können. Dobby und die anderen Hauselfen nennen das Registrierung. Wenn ein Hauself jemanden registriert hat – so wie Kreacher Mundungus Fletcher, als der damals etwas von Kreacher gestohlen hat – Dobby weiß nicht, was genau es war –, dann kann er dessen magischen Spuren überall hin folgen.“
Dobby wandte sein trauriges Gesicht wieder an Harry.
„Es tut Dobby leid, dass er nicht helfen kann, Harry Potter! Aber Dobby hat Viktor Krum nie registriert.“
Aber Harry verstand etwas nicht. Die Stirn in Falten gelegt fragte er: „Aber wenn Kreacher Fletcher registriert hat, wie kommt es dann, dass er ihn nicht sofort hat finden können, als ich ihn geschickt habe, um ihn zu suchen?“
„Zauberer können ihre magischen Spuren natürlich verwischen und verbergen!“ Dobbys Stimme klang entschuldigend und flehend, als würde er denken, Harry hätte ihn verurteilt, weil er und Kreacher so lange gebraucht hatten, um Fletcher zu finden. „Und das tun viele auch! Kreacher und Dobby sind Mundungus Fletcher gefolgt, solange seine Spur bemerkbar war – dann hat er es manchmal geschafft, einfach zu verschwinden von Kreachers Wahrnehmung! In den Zeiten haben Kreacher und Dobby geschlafen, Harry Potter, oder gegessen, und wenn Mundungus Fletchers Spur wieder auftauchte, haben Kreacher und Dobby ihre Suche fortgesetzt!“
„Es ist schon gut, Dobby“, sagte Harry hastig. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, du hast nichts falsch gemacht, du hast tolle Arbeit geleistet.“
Dobby strahlte erneut.
„Aber – aber du darfst dann wieder in die Küche gehen. Danke, dass du gekommen bist.“
Dobby verbeugte sich – und verschwand.
Harry drehte sich zu Hermine um, die an den Pfosten von Nevilles Bett angelehnt dastand. Ihr besorgter Blick schien ins Leere zu starren, war aber auf den Spiegel auf Harrys Nachttischchen gerichtet, den er von Luna geschenkt bekommen hatte.“
„Sollen wir – vielleicht doch den Orden um Hilfe bitten?“, fragte Ron in die Stille hinein, die sich aufgebaut hatte.
Hermine blinzelte, schüttelte den Kopf als hätte sich etwas in ihren Haaren verfangen, dass sie loswerden wollte, und sagte dann an Ron gerichtet: „Wa-? Ja, oh ja! Ja, wir sollten den Orden fragen, ob sie Viktor suchen können.“ Hermine seufzte. „Ich hoffe, ihm ist nichts …“
Aber sie konnte wohl nicht zu Ende sprechen.
Den Orden um Hilfe zu bitten, bedeutete in ihrem Fall natürlich, sich an McGonagall zu wenden. Als sie in der Mittagspause in die große Halle gingen, sahen sie diese am Lehrertisch sitzen.
„Ich sprech allein mit ihr, wenn sie die Halle verlassen will“, sagte Hermine zu Ron und Harry. „Sie ist sicher nicht gut auf uns zu sprechen, nachdem wir gestern nicht mehr bei ihr erschienen sind – aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie –“
„– dich mehr mag als uns? Wo hast du diese Idee denn nur her?“ Ron rollte mit den Augen, als sie sich am Gryffindor-Tisch niederließen.
Und wie abgemacht stand Hermine sofort auf, als sie sah, dass McGonagall sich erhob. Hermine lief zum Tor zur Eingangshalle, wo sie wartete, bis McGonagall bei ihr ankam. Aus der Ferne beobachteten Harry und Ron das Gespräch – und sahen erleichtert, dass Hermine zufrieden lächelte und nickte.
„Wieso hat das so lange gedauert?“, fragte Ron, als Hermine zu ihnen zurückkam. „Was hat sie gesagt?“
„Erst hat sie nur gesagt, dass sie enttäuscht ist, dass wir nicht gekommen sind.“ Hermine schien sehr glücklich zu sein, denn sie griff sofort nach einem Braten und schnitt sich ein besonders großes Stück ab. „Das hat sie mir erklärt, bevor ich überhaupt den Mund aufmachen konnte. Und dass Slughorn jetzt wieder im Ministerium ist. Und dann hab ich ihr von Krum erzählt – und sie hat gesagt, sie würde sich sofort darum kümmern. Hat sogar gemeint, sie wäre sehr froh, dass ich ihr das erzählt hab.“ Da verschwand ihr Lächeln plötzlich kurz. „Meint ihr, dass das bedeuten soll, dass der Orden schon länger Grund hat, sich um Viktor Sorgen zu machen?“
„Denen wird aufgefallen sein, dass er nicht bei der Hochzeit war“, sagte Ron in einem beruhigenden Ton. „Aber sonst ist sicher nichts.“
Hermine lächelte Ron dankbar zu.
„Wir sollten nach dem Essen noch den Aufsatz für Zauberkunst zu Ende schreiben“, sagte Hermine dann. „Heute Nachmittag haben wir nur noch Kräuterkunde und Zaubertränke.“
„Zaubertränke …“ Ron stichelte lustlos mit seiner Gabel in den Kartoffeln auf seinem Teller.
Harry begriff zuerst nicht, warum Ron auf einmal so niedergeschlagen war – dann fiel es ihm ein.
„Das wird schon nicht so schlimm werden mit Percy“, sagte er zu Ron.
„Meinst du?“ Ron machte ein ungläubiges, zischendes Geräusch. „Stell dir vor, von deinem älteren Bruder unterrichtet zu werden … total peinlich.“
Harry hatte er an Rons Gespräch mit Percy im Krankenflügel gedacht, aber er sagte nichts mehr dazu.
Als sie am Nachmittag zusammen mit Ernie McMillan, mit dem sie zuvor Kräuterkunde gehabt hatten, die Stufen zu den Kerkern hinuntergingen, sank auch Harrys Laune auf einen Tiefpunkt. Nicht etwa, weil er gleich Percy wiedertreffen würde – obwohl das auch nicht unbedingt ein besonders freudig erwartetes Erlebnis für ihn war. Nein, dieser Weg rief in ihm nun schon Erinnerungen an zwei verhasste Zaubertränke-Lehrer auf. Zwei, die beide Dumbledore betrogen hatten, beide mit seinem Tod zu tun gehabt hatten … Hätte Dumbledore das Gift nicht getrunken, vielleicht wäre er dann stärker gewesen und hätte sich irgendwie gegen Snape verteidigt …
Vor dem Klassenzimmer für Zaubertränke warteten bereits die anderen Schüler, darunter auch die Slytherins, die dieses Fach belegt hatten – zumindest zwei von ihnen. Malfoy konnte logischerweise nicht kommen, und Theodore Notts Vater war ein bekannter Todesser.
„Kommt herein!“
Percy hatte die Tür zum Klassenzimmer geöffnet. Er trug immer noch seine Hornbrille, aber er sah ein wenig anders aus: Seine Haare waren ein bisschen länger, am Kinn trug er einen kurzen Bart und seine Sommersprossen schienen weniger geworden zu sein. Er wirkte noch älter und erwachsener, als er es früher schon getan hatte – und gleichzeitig (vielleicht wegen des Bartes, der ihm einen leicht unseriösen Eindruck verpasste) erschien er lockerer und umgänglicher.
Ron nickte er zu, als er an ihm vorbeiging, aber bei Harry und Hermine gab er kein Zeichen, dass er sie schon einmal außerhalb seiner ehemaligen Posten als Vertrauensschüler oder Schulsprecher getroffen hatte. Auch wenn Percy wohl mittlerweile nicht mehr ganz so versessen auf das Ministerium war, und auch wenn er seine Fehler eingesehen hatte, so hatte Harry doch das Gefühl, dass er sich die Sache mit Harry als gewalttätigem, bösartigem Jungen noch nicht aus dem Kopf geschlagen hatte.
Der Unterricht wurde genauso langweilig wie Harry erwartet und befürchtet hatte. Auch wenn Percy natürlich keine so schreckliche Person wie Dolores Jane Umbridge war, so hielt er sich doch mindestens genauso streng wie sie an den vom Ministerium vorgegebenen Lehrplan – was für die Schüler nur eines bedeutete: schreiben. Glücklicherweise hatten sie keine Doppelstunde, und nach dreizehn beschriebenen Pergamentrollen und einer weiteren Rolle voller komplizierten Zeichnungen von Querschnitten verschiedener Pflanzen erklang endlich das erlösende Läuten der Glocke.
„Ich hab ja gewusst, dass es schrecklich sein wird“, sagte Ron, als sie wieder auf dem Weg hoch in den Gemeinschaftsraum waren, „aber Percy hat echt all meine Erwartungen und sich selbst übertroffen – es war extrem schrecklich.“
Harry stimmte ihm zu, auch wenn er es nicht laut aussprach.
Die Tage gingen dahin, der Unterricht wurde immer anstrengender und der Turm an noch nicht beendeten Hausaufgaben war nach einer Weile so hoch, dass das, was Harry und Ron damals in ihrem fünften Schuljahr an schulischen Problemen gehabt hatten, kein Vergleich zu ihrer jetzigen Situation war. Es war der kühle Morgen eines der ersten Tage im Oktober, an dem Harry aufwachte – und beinahe geschrien hätte.
Ein Monat! Ein Monat war er nun schon wieder in Hogwarts – und hatte sich von der Schule, von den Lehrern so ablenken lassen, dass er mit den Horkruxen keinen Schritt weitergekommen war! Das konnte doch nicht wahr sein! In seiner Hand lag die Vernichtung Voldemorts – und alles, was er tat, war, sich auf seine UTZ-Prüfungen vorzubereiten!
Es war eine Art von Panik, wie er sie bisher nicht gekannt hatte, die ihn in diesem Moment ergriff, als er stocksteif in seinem Bett saß und mit offenem Mund ins Nichts starrte. Er hatte einen ganzen Monat verschwendet – wie viele Leute waren in dieser Zeit gestorben? Er versuchte, sich an die Todesanzeigen im Tagespropheten zu erinnern – aber ihm fiel keine ein … Hatte er überhaupt Zeitung gelesen im September? Oder hatte er tatsächlich nichts weiter gemacht als für die Schule gelernt?
Er fühlte sich dumm. Furchtbar dumm. An ihm lag so viel, auf seinen Schultern lasteten unglaubliche Pflichten – und er hatte sich ablenken lassen! Hatte Dumbledore enttäuscht! Was zum Teufel hatte er in dem vergangenen Monat getan?
Da war Vindictus Viridian, der ihn so fasziniert hatte … Er hatte sein Buch immer noch nicht gelesen, außer, wenn er es für Verteidigung-Hausaufgaben brauchte, aber da war nie etwas Interessantes dabei gewesen. Und das Gespräch, das er mit Professor Viridian führen wollte, war auch noch nicht zustande gekommen. Viridian hatte es immer wieder geschafft, ihm auszuweichen. Tat er das etwa mit Absicht?
Dann war da noch Krum – sie hatten den Orden gebeten, ihn zu suchen … Ihm kam vor, als wäre das erst gestern geschehen, so schnell war der September vorbeigezogen. Und das, obwohl der Unterricht so langweilig geworden war. Er hatte Hermine nicht einmal gefragt, ob Krum schon gefunden worden war, aber Hermine hatte nichts mehr davon gesagt – also hatte sie wohl mittlerweile schon wieder von ihm gehört?
Wieso hatte er sich nicht erkundigt, das ganze Monat lang nicht? Wieso war es ihm so vorgekommen, als wäre die Zeit so schnell vorbeigegangen?
Unter normalen Umständen hätte er gesagt, es läge tatsächlich am Schulstress. Dass es ihm schon einmal so gegangen war – in den Tagen nach Georges Tod – ließ ihn annehmen, mit all seiner Angst befürchten, dass mehr dahinter steckte.
Ruhig, ruhig, sagte er sich, dreh nicht durch … ignorier es … mach dich nicht gleich verrückt … der Reihe nach, hol alles nach, was du vergessen hast, der Reihe nach …
Das Gespräch mit Professor Viridian. Heute würde es so weit sein, heute würde er ihn nach dem Frühstück, dem Mittagessen oder dem Abendessen abfangen, so wie Hermine es mit McGonagall getan hatte, und wenn das nicht klappen sollte, würde er ihn in seinem Büro aufsuchen. Ja, das würde noch heute geschehen.
Krum. Eigentlich konnte er Hermine auch gleich nach ihm fragen, sobald er sie sah. Ein Blick aus dem Fenster und in die umliegenden Betten verriet ihm, dass es noch recht früh war – die rötliche Sonne erweckte den eindeutigen Eindruck, dass sie gerade erst aufgegangen war, und Neville, Ron und Dean schliefen noch. Also war Hermine vielleicht auch noch nicht wach … Sollte er es riskieren und gleich zu Viridian gehen, trotz der frühen Uhrzeit? Vielleicht war Viridian ja ein Frühaufsteher …
Und was sollte er nach dem Gespräch tun? Wenn es erfolgreich verlief und nach Harrys Vorstellungen, dann würde er Interessantes über die Seele herausfinden, vielleicht sogar speziell über Horkruxe – dann könnte Harry mit den neuen Informationen etwas anfangen, die nun viel zu lange ignorierte und vergessene Suche nach den Horkruxen fortsetzen mit neuen Zielen und Ideen. Und wenn Viridian nichts Interessantes für ihn hatte? Was würde Harry dann tun? Dann würde er wieder mit leeren Händen dastehen …
Harry stand auf, zog sich um und betrachtete erneut sein Nachttischchen. Er sah sein Gesicht in Lunas Spiegel, ein wenig verzerrt … Es war der Humor von Luna, den er heute brauchen würde, um wieder aufgeheitert zu werden.
Entgegen seiner Erwartungen traf Harry Hermine in der großen Halle. Bevor er sich zu ihr setzte, um sie nach Krum zu fragen, blickte er zum Lehrertisch – Professor Viridian war nicht zu sehen.
„Morgen“, sagte Hermine. Ihre Stimme war leise, klang schwach; kein gutes Zeichen.
„Guten Morgen“, antwortete Harry, bemüht, fröhlich zu klingen. „Sag mal, Hermine – wie sieht es eigentlich mit Viktor aus? Hat der Orden ihn gefunden?“
Sehr unglücklich formuliert, dachte er, etwas zu spät – da schüttelte Hermine auch schon den Kopf.
„Nein“, sagte sie unnötigerweise. Sie war wieder sehr blass; der Teller und das Besteck vor ihr waren unberührt. Dann wandte sie sich an Harry; ihre Augen waren feucht. „Harry, ich hab so viel Angst.“
„Mach dir keine Sorgen.“ Harry wusste, dass sein Versuch, sie zu trösten, kaum Erfolg haben würde; er war nicht der Richtige für solche Dinge. „Er wird schon wieder auftauchen.“
„Aber er ist jetzt schon so lange verschwunden! Ich hab mit Ron darüber geredet, mehrmals, aber ich weiß, dass er Viktor nicht besonders mag, deswegen haben mir seine Aufheiterungsversuche nicht viel geholfen – aber mit dir wollte ich auch nicht darüber reden. Das wäre mir kindisch vorgekommen. Ich hab ja gemerkt, wie viel du über die – die Schätze nachdenkst.“
Harry glaubte für einen Moment, sie wollte ihn auf den Arm nehmen, weil er sich über die Horkruxe so wenig Gedanken gemacht hatte. Aber in ihren Augen sah er, dass sie es ernst meinte.
„Wie – wie kommst du denn darauf?“
„Oh bitte, Harry – du warst so schweigsam, oft ist es mir so vorgekommen, als wärst du mit den Gedanken so weit weg von deinem Körper, dass du es nicht gespürt hättest, wenn man dir die Finger abschneiden würde! Es war so offensichtlich, dass du dir so viele Sorgen machst – da konnte ich dich doch nicht mit Viktor nerven!“
Harry sah schnell von ihr weg und auf seinen Teller hinab. War das tatsächlich so gewesen? Hatte er so viel über die Horkruxe nachgedacht, war der September deshalb so schnell vorbei gewesen? Er würde es gerne glauben – aber er wusste, dass es nicht stimmte.
Nein, er war aus anderen Gründen so still gewesen, so weit entfernt mit seinen Gedanken. Er wusste nur nicht genau, warum … Konnte sich nicht einmal erinnern, dass es so gewesen war … Jetzt war es so weit. Bevor er verrückt wurde, musste er jemandem davon erzählen – von den Träumen, davon, wie unnatürlich er schon wieder die Zeit wahrgenommen hatte. Und Hermine saß neben ihm – wem sollte er davon erzählen, wenn nicht ihr?
„Hermine –“
„Guten Morgen.“
Harry drehte sich um – wer hielt ausgerechnet diesen Augenblick für den geeignetsten, ihn zu unterbrechen? Wie ein Schlag in die Magengrube war es, als er erkannte, dass es Ginny war.
„Hallo, Ginny“, sagte Hermine, die sich hastig die Tränen aus den Augen wischte.
„Ich wollte dir nur Krummbein wieder bringen“, sagte Ginny, und sie streckte Hermine ihre Hände entgegen, in denen Krummbein wie ein orangerotes Kissen lag. „Heute Morgen hat er eine tote Ratte mit in mein Bett gebracht.“
„Oh nein, das tut mir leid!“ Hermine nahm Krummbein, aber der schüttelte sich nur kurz, sprang dann von ihr weg und tapste mit hoch erhobenem Kopf aus der Halle. „Böser Kater!“, rief Hermine ihm hinterher. „Oh, da kommt Ron“, fügte sie dann hinzu, als Ginny die beiden verließ und zurück zu ihren Freundinnen aus ihrem Jahrgang eilte. Ron kam währenddessen auf sie zu, gähnend und lautstark seinen Hunger bekennend.
Da Harry an diesem Tag keinen Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste hatte, musste er Professor Vindictus tatsächlich auf andere Weise, auf einem anderen Ort zu einem Gespräch bekommen. Er nahm sich vor, das Mittagessen noch abzuwarten – wenn er Viridian da auch nicht am Lehrertisch sitzen sah, wollte er zu seinem Büro gehen.
Und Professor Viridian ließ sich nicht in der großen Halle blicken in der Mittagspause. An deren Ende, als sich Hermine zu Alte Runen und Ron zum Gemeinschaftsraum aufmachte, um seine Hausaufgaben zu erledigen, verabschiedete sich Harry von beiden – angeblich, um auf die Toilette zu gehen. Es war ihm aus irgendeinem Grund peinlich, dass er ein Gespräch mit Viridian so dringend ersehnte, auch wenn er das nicht gerechtfertigt fand; was war schon dabei? Selbst wenn er kein Nekromant war – er kannte sich sicher mit der Seele aus … Und trotzdem. Ron und Hermine sollten nichts davon erfahren.
Harry erreichte die Tür zu Viridians Büro, klopfte aber nicht sofort. Er war etwas nervös – warum auch immer. Wie Viridian den Raum wohl gestaltet haben mochte? Harry hatte das Büro in der Zeit von Lockhart, Lupin, dem falschen Moody und Umbridge gesehen – Snape war in seinem Büro in den Kerkern geblieben, als er nach langem Warten Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten durfte. Jeder von den Lehrern hatte dem Zimmer seine eigene Note verpasst. Was konnte er bei Vindictus Viridian erwarten, einem Mann, der von sich selbst behauptete, ein Nekromant zu sein, einem Mann, von dem das Flüstern ausging, dass Harry zuvor erst einmal gehört hatte, und zwar von hinter einem Schleier, der in das Reich der Toten führte?
Endlich klopfte Harry. „Herein“, bat ihn die tiefe, aber jung klingende Stimme von Vindictus Viridian. Harry schluckte (was war nur los mit ihm?), öffnete die Tür und trat ein.
Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, nachdem er schon so oft erstaunt festgestellt hatte, wie schlicht und „normal“ Professor Viridian sein Klassenzimmer eingerichtet hatte. Und doch war er wieder überrascht, als er das leer wirkende Büro sah. Eines der Fenster stand auch hier weit offen, wie jedes Mal im Unterricht, und der Tisch war fast völlig leer, bis auf einen kleinen Stapel von Pergamenten und einer einzigen Schreibfeder in einem Glas Tinte. Das Fehlen jeglicher Art von Dekoration, seien es Figuren und Statuen auf dem reinen Boden, Bilder an den Wänden oder Pflanzen in den Ecken des Zimmers, ließ vermuten, dass Viridian all sein Hab und Gut in dem einzelnen hohen Holzschrank aufbewahrte, der am anderen Ende des Büros stand. Auch hier gab es nur diese Kleinigkeit, die zu erkennen gab, dass auch jemand anderes als die fleißig putzenden Hauselfen diesen Raum jemals betrat: Die weiße Kerze in dem silbernen Ständer, deren blaue Flamme hier besonders hell und stark leuchtete.
Und natürlich der Mann in dem violetten Umhang, der hinter dem Tisch auf seinem Stuhl saß.
„Guten Tag, Mr Potter“, sagte Professor Viridian. Er erhob sich, kam um den Tisch herum und streckte Harry die Hand entgegen. Harry ergriff sie und schüttelte sie, etwas überrascht von dieser Begrüßung. „Nehmen Sie doch Platz.“
Mit einem Schwenk seines Zauberstabs erschien ein weiterer Stuhl, der dem anderen gegenüber vor dem Tisch landete. Viridian setzte sich wieder auf seinen Sessel, während Harry sein Angebot annahm und ebenfalls Platz nahm.
„Also – was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
„Ich –“ Harry stockte. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Er hatte sich nichts überlegt, keine der Fragen, die er Viridian stellen könnte, gedanklich formuliert. Und direkt nach den Horkruxen konnte er auch nicht fragen. Was sollte er sagen? Sollte er mit den Gerüchten über Viridians Fähigkeit beginnen? Wäre das nicht etwas unhöflich?
„Ich war sehr überrascht, Sie im Ministerium zu treffen, Mr Potter“, sagte Viridian dann, und nahm die Dinge selbst in die Hand. „Ich bezweifle, dass Sie sich tatsächlich nur verirrt haben und deshalb dort unten gelandet sind?“
Das gab Harry eine Idee, womit er beginnen könnte. Warum hatte er nicht gleich danach gedacht?
„Nein“, gestand er. „Nein, ich habe nach etwas Bestimmtem gesucht. Wissen Sie, ich habe vor kurzer Zeit erst erfahren, dass meine Mutter in der Mysteriumsabteilung gearbeitet hat und –“
„Ah, ja.“ Viridian nickte. „Lily Potter. Eine entzückende junge Frau. Sehr freundlich und zuvorkommend.“
Harry konnte nur mit Mühe seinen Mund davon abhalten, aufzuklappen. „Sie haben meine Mutter gekannt?“
„Oh ja. Habe sie öfters dort gesehen. Zu der Zeit, als sie dort gearbeitet hat, hab ich die Abteilung um einiges öfter besucht, als ich es heute schaffe. Sie hat mir, wenn ich es gewünscht habe, immer sofort die neuesten, sehr interessanten Erkenntnisse vorgestellt, die sie und ihre Mitforscher gewonnen haben.“
„Was – was hat meine Mutter denn genau gemacht? In der Mysteriumsabteilung, meine ich?“ In Harrys Kopf schien alles ein wenig zu schweben und sich im Kreis zu drehen. Er hatte vielleicht erwartet, von Lupin einmal mehr über seine Eltern herausfinden zu können, wenn die Zeit reif war, Fragen zu stellen, wenn Voldemort vernichtet war – aber mit einem Mann, der ihm bisher völlig unbekannt gewesen war, hätte er niemals als Informationsquelle zu seiner Mutter gerechnet! War er nicht eigentlich aus einem völlig anderen Grund zu Viridian gekommen?
„Ihre Mutter“, antwortete Professor Viridian, „hat sich spezialisiert auf zwei Gebiete: Liebe – und Tod.“
Harry stutzte. „T-tod?“
„Ja, Tod. Liebe und Tod. Die beiden größten Mysterien, die in der Mysteriumsabteilung erforscht werden.“
„Aber –“ Harry stockte ein wenig. Dass sie Liebe erforscht hatte, okay – aber den Tod? „Aber wieso hat sie den Tod erforscht? Ich meine … das …“
Als Harry sah, dass Viridian lächelte, brach er sofort ab; hoffentlich wurde er jetzt nicht rot.
„Der Tod ist nicht schrecklich, Mr Potter. Und sicher kein schreckliches Thema. Die, die den Tod erforschen, machen zwar wahrscheinlich sinnlose Arbeit, aber wenigstens sinnlose Arbeit, die zu etwas führt.“
Harry verstand nicht, was Viridian damit meinte, aber es war ihm egal.
„Also gut – gut, sie hat also – Liebe und Tod, ja. Hat sie – hat sie viel herausgefunden?“
„Leider nein.“ Viridian bedachte Harry mit einem mitleidigen Blick, dem Harry unmöglich standhalten konnte; Harry betrachtete stattdessen die blaue Kerzenflamme. „Lily Potter starb zu jung. Sie hat nicht einmal ganz ihre Studienzeit beendet in der Mysteriumsabteilung, in der die Neuankömmlinge von denen, die schon länger dort arbeiten, alles über die bisher gesammelten Geheimnisse erzählen. Das wenig Neue, das sie erarbeitet hat, war allerdings von großem Wert. Besonders – wie es das Schicksal in seiner typisch ironischen Persönlichkeit wollte – hat sie ausgerechnet mit ihrem Tod den Erforschern der Liebe auf die Sprünge geholfen. Ein interessanter Zufall.“
Harry blickte hoch, da er sich sicher fühlte, jetzt wieder in Viridians Augen zu sehen. In dem Moment stand Viridian auf. Harry befürchtete, dass der Professor das Gespräch schon beenden wollte – aber Viridian ging nur zu dem offenen Fenster, stützte sich mit den Händen an dem Fensterbrett ab und sah auf die Ländereien hinab.
„Ihre Mutter und Ihr Vater starben an einem ganz besonderen Tag, wussten Sie das, Mr Potter? An einem Tag, der bald wieder stattfindet.“
Harry schüttelte den Kopf, wobei er vergaß, dass Viridian ihn nicht sehen konnte. Als ihm das einfiel, sagte er: „Nein, das wusste ich nicht.“
Viridian nickte. „Das habe ich mir gedacht. Ich spreche natürlich von dem Tag der toten Seelen, dem Fest der Verstorbenen, dem Abend der Geister. All Hallows Eve.“ Viridian wandte sich wieder Harry zu; er lächelte erneut, so, als fände er irgendetwas lustig. „Ein wichtiger Tag für mich. Und ein schrecklicher Tag für den Dunklen Lord – aber nicht nur, weil er vor einigen Jahren an diesem Tag gefallen ist.“
Harry erstarrte – Viridian hatte Voldemort den Dunklen Lord genannt …
„Mr Potter, ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen. Ich muss zum Unterricht. Wir können uns gerne ein anderes Mal erneut unterhalten.“
Professor Viridian öffnete die Tür und hielt sie für Harry offen. Harry stand auf und verließ das Büro, zusammen mit Viridian, und während der in rechten Korridor einbog, wandte sich Harry nach links. Im Gehen warf Harry einen Blick auf seine Armbanduhr – die Unterrichtsstunde, die gerade stattfand, hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, Viridian konnte also kaum gemeint haben, dass er jetzt zu seinen Schülern musste. Und bis zur nächsten Stunde war es eine noch längere Zeit, also stand Viridian unter keinem Druck.
Er hatte also mit großer Sicherheit gelogen, als er gesagt hatte, er müsse zum Unterricht.
Und er hatte Voldemort den Dunklen Lord genannt …
Und er kannte meine Mutter …
Harry wollte jetzt nicht mit Ron reden, der vermutlich im Gemeinschaftsraum auf ihn wartete. Stattdessen schlug Harry den Weg zur Eingangshalle ein, um ein bisschen in den Ländereien spazieren zu gehen, vielleicht Hagrid zu besuchen – oder verschlugen ihn seine Füße dorthin, ohne sein Zutun, ohne, dass er das wirklich vorhatte?
Obwohl die Sonne hoch an einem Himmel mit nur wenigen Wolken stand, war es kühl in den Ländereien von Hogwarts. Vielleicht kam es Harry auch nur so vor, weil die Blicke der Auroren, die hier und dort wie festgewachsen dastanden, ihn überallhin verfolgten. Auf dem halben Weg zu Hagrids Hütte beschloss er beinahe, wieder umzukehren und doch hoch in den Gemeinschaftsraum zu gehen – als ausgerechnet Luna ihm vom See aus entgegenkam, Luna, an die und deren Humor, den er so dringend brauchte, er erst heute Morgen gedacht hatte.
„Hallo“, sagte Luna, als sie Harry erreicht hatte; ihre großen, hervorstehenden Augen hätten einen annehmen lassen können, dass sie Harry gar nicht gesehen und nur zufällig direkt auf ihn zugesteuert hatte. „Was machst du denn hier draußen?“
„Spazierengehen.“ Luna drehte sich um und ging wieder zurück zum See; Harry, der immer noch das Gefühl hatte, dass eine Unterhaltung mit ihr jetzt genau das Richtige sein würde, folgte ihr, und sie gingen gemächlich nebeneinander her. „Und was tust du hier?“
„Ich suche nach Seekacklern. Daddy hat die entdeckt, die sind eine Unterart der Schnarchkackler – wenn man einen fängt, dann soll man drei Jahre lang nur Glück haben!“
Sie sah Harry erwartungsvoll an, als würde sie von ihm verlangen, dass er sofort laut seine Begeisterung preisgeben sollte.
Klappt doch, dachte Harry grinsend.
Für eine Weile liefen sie schweigend das Seeufer entlang; Harry beobachtete eine rote Katze, die in der Ferne um die vordersten Bäume des verbotenen Waldes schlich. Dann sagte er, einem plötzlichen Impuls folgend: „Sag mal, Luna – was weißt du über All Hallows Eve?“
Luna sah Harry mit einem Ausdruck an, den man selten auf ihrem Gesicht sah: Mit tatsächlicher Überraschung, die ihre Augen noch größer machten, ihren Mund leicht offen stehen ließ. „Du interessierst dich für die Kelten?“, fragte sie erstaunt. „Natürlich wissen die Wenigsten, dass es Kelten gar nicht gegeben hat, und dass all ihre Rituale und Vorstellungen tatsächlich von einem russischen Meisterzauberer erfunden worden sind – aber wenigstens basieren ein paar davon auf Wahrheiten. All Hallows Eve zum Beispiel.“
„Du weißt also, was das ist?“, fragte Harry begierig. „All Hallows Eve, meine ich?“
„Aber natürlich – und du auch.“
„Nein, eigentlich nicht.“
Luna kicherte; etwas, das man selten von ihr zu hören bekam.
„Du feierst es jedes Jahr hier in Hogwarts.“ Als sie sah, dass Harry immer noch ahnungslos dreinblickte, fügte sie hinzu: „Halloween! All Hallows Eve ist das, was wir heute als Halloween kennen!“
„Oh, ach so …“ Deshalb hatte Viridian gemeint, seine Eltern wären an All Hallows Eve gestorben … der einunddreißigste Oktober … Harry hatte etwas Spektakuläreres erwartet.
„Du klingst enttäuscht“, stellte Luna fest, und es war keine Frage.
„Nun ja, ich hab etwas – keine Ahnung, was Anderes erwartet.“
„Aber All Hallows Eve ist ein tolles Fest!“ Luna nickte mit übertriebener Kraft, und ihre Radieschenohrringe, die dabei wild umher baumelten, erinnerten Harry an Dobbys Fledermausohren. „Weißt du nicht, was für ein besonderer, magischer Tag Halloween ist?“
Harry zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen – er war sicher, dass Luna ihm gleich erklären würde, was denn so besonders und magisch sei an Halloween.
„Das ist der Tag, an dem der Schleier sich öffnet.“
Harry hielt an.
„Was?“
Luna bemerkte erst nach einigen weiteren Schritten, dass Harry nicht mehr neben ihr herging. Sie drehte sich um, kam zu ihm zurück, nahm ihn bei der Hand und zog ihn ein Stück mit sich, bis Harry wieder von allein ging.
„Das ist so ein Sprichwort. Ist natürlich völliger Blödsinn – der Schleier ist ja nicht wirklich geschlossen. Es sollte eher heißen, das ist der Tag, an dem der Schleier sich zur Seite zieht – oder verschwindet – oder was immer er genau tut, ich hab’s noch nie selbst gesehen.“
„Aber – aber was soll das denn bedeuten?“
Luna sah ihn erstaunt an, als könnte sie es nicht fassen, dass er nicht verstand. „Na, dass die beiden Welten sich vereinigen.“
„Die – die beiden Welten –“
„Die der Toten und der Lebendigen. Die zwei Welten. Und die Toten kommen durch den Schleier zurück in unsere Welt.“
Noch mehr Tage vergingen, und diesmal nahm Harry sie normal war – vielleicht sogar langsamer, als sie tatsächlich waren, denn er wartete ungeduldig auf diesen einen bestimmten Tag.
Er hatte Ron und Hermine nichts von seinem Gespräch mit Luna erzählt. Er wusste, was sie sagen würden – dass das wieder eine ihrer Geschichten war. Aber er glaubte, dass doch mehr dahinter steckte – wollte es glauben. Musste es glauben.
Dafür hatte er ihnen aber erzählt, dass er sich mit Professor Viridian unterhalten hatte. Er sprach zwar von einer zufälligen Begegnung auf dem Korridor, aber nichtsdestotrotz wollte er den beiden nicht vorenthalten, was er herausgefunden hatte: Dass Viridian seine Mutter gekannt hatte, dass sie ihm ihre Forschungsarbeiten gezeigt hatte.
„Beweist das nicht, dass man ihn ernst nehmen kann?“, wollte Harry wissen; er wusste, dass er herausfordernd klang, so, als wolle er ausdrücken, dass weiterer Zweifel an Viridians Fähigkeiten auch Zweifel an seiner Mutter bedeutete – warum sollte sie ihm ihre Arbeiten gezeigt haben, wenn er ein Taugenichts und Lügner war?
„Ach, Harry …“ Das bisschen Wut, das in Hermines Stimme mitschwang, wurde unterdrückt von dem Mitleid, das sie scheinbar für ihn fühlte. „Natürlich kann Viridian behaupten, dass deine Mutter ihm irgendetwas gezeigt hat … aber warum solltest du ihm glauben können?“
„Er war in der Mysteriumsabteilung an dem Tag, als Ron und ich unsere Prüfungen abgelegt haben.“
„Aber vielleicht haben die Unsäglichen ihn rausgeschmissen, weil sie keine Lust mehr hatten, mit ihm zu reden! Vielleicht schleicht er sich immer wieder einmal rein und die, die in der Mysteriumsabteilung arbeiten, sind schon richtig genervt!“
„Dann hätte das Ministerium Viridian den Zugang zur Mysteriumsabteilung wohl verboten, und dann wäre er sicher nicht einfach so davongekommen an dem Tag, als ich ihn dort gesehen hab! Sie hätten ihn bestimmt bestraft – und sicher hätte McGonagall ihn nicht zu unserem Lehrer gemacht!“
Aber Hermine seufzte nur und versteckte ihren Kopf wieder hinter dem Buch, das sie las. Harry buchte das als einen seltenen Sieg über Hermine in einer Diskussion ein, und grinste verschmitzt.
Für diesen besonderen Tag, auf den Harry nun wartete – Halloween, All Hallows Eve, den Todestag seiner Eltern – hatte Harry sich etwas ebenso Besonderes überlegt. Am Tag nach seinem Spaziergang mit Luna hatte er in der großen Halle nach dem Frühstück mit McGonagall gesprochen.
„Was gibt es denn?“, fragte sie brüsk, in einem Tonfall, der implizierte, dass sie keine Zeit hatte für eine Unterhaltung, und ging einfach weiter; Harry folgte ihr.
„Professor McGonagall, ich möchte Sie um etwas bitten.“
„Kommen Sie bitte zur Sache, Mr Potter.“
Sie siezt mich wieder, dachte Harry, aber es war ihm egal.
„Ich möchte Ende des Monats, am Freitag dem einunddreißigsten, nach Godric’s Hollow – nach Great Hangleton.“
Da blieb McGonagall doch noch stehen; mit einem Fuß auf der Marmortreppe drehte sie sich zu ihm um.
„Nach Great Hangleton?“
„Ja.“
„Ich dachte, du wärst in den Ferien dort gewesen, Harry?“ Sie klang nun wieder weniger abweisend, und nannte ihn Harry. Die Geschichte mit seinen Eltern schien sie immer noch weich zu machen.
„Ja, aber – aber ich will die Gräber meiner Eltern erneut besuchen. An – an ihrem Todestag.“
McGonagall schien für einen Augenblick sprachlos zu sein. Dann räusperte sie sich.
„Aber natürlich – da musst du doch nicht – andererseits – es ist gut, dass du fragst – allein kannst du nicht gehen, Harry. Es muss dich jemand begleiten. Zu deiner –“
„– Sicherheit, schon klar.“ Harry machte es nichts aus; er war zu froh, dass er McGonagall überredet hatte, ihn gehen zu lassen. Dann aber kam ihm eine Idee. „Ron und Hermine reichen nicht?“
McGonagall gewann wieder etwas ihrer unnahbaren Art von eben zurück. „Ich würde mich wohler fühlen, wenn dich eine qualifiziertere Person begleiten würde.“
Harry nickte; das hatte er schon gedacht. „Gut – dann vielleicht Hagrid?“
„Ich habe eher – an Remus gedacht.“
„Lu- Professor Lupin?“
„Soweit ich mich erinnere, wäre es ihm lieber, wenn auch du ihn Remus nennst“, sagte McGonagall, „aber ja, Remus Lupin. Hagrid kann nicht apparieren – es wäre recht nützlich, wenn du nur nach Hogsmeade gehen müsstest, wo dich dein Begleiter bereits erwartet, mit dir disappariert und – und, wenn du – wenn du wieder zurück möchtest, zurückkehrt. Mit Hagrid wäre das etwas komplizierter, auch wenn er dich mit Sicherheit ebenso gerne und gut beschützen würde.“
Am einunddreißigsten Oktober regnete es. Erst am Abend verabschiedete sich Harry von Ron und Hermine – die er, wie er sich nach längerem Hin und Her entschieden hatte, nicht mitnehmen wollte (sie protestierten nicht, aber ihre Augen sagten, wieder einmal, alles). Er hatte beschlossen, erst spät den Friedhof zu besuchen, weil er sich noch einmal mit Luna unterhalten hatte.
„Es beginnt natürlich erst nachts“, erklärte sie ihm heiter; sie schien begeistert zu sein, dass jemand ihren Geschichten lauschte. „Kurz vor Mitternacht – um Punkt Mitternacht – vielleicht auch kurz danach. Dann wölbt sich der Schleier, und die Toten kommen hervor.“
Nachts – abends – Harry glaubte nicht, dass es so viel Unterschied machte. Immerhin war es dunkel, als er das Schloss verließ, ein Auror an beiden Seiten. Harry konnte sich nicht einmal vorstellen, dass er ernsthaft glaubte, All Hallows Eve wäre tatsächlich eine so magische Nacht … Aber etwas sagte ihm, dass es wahr war. Viridian schien das zu glauben … Seine Mutter hatte Viridian gekannt, ihn scheinbar nicht für einen Spinner gehalten … Und der Schleier, er hatte ihn gesehen … Sirius war gestorben, als er durch den Schleier ging … Und da waren Stimmen gewesen, hinter dem Schleier – und bei Viridian – in Viridian …
Und sie feierten Halloween, hier, in Hogwarts. Warum sollten sie das tun, wenn es keine besondere Nacht war?
Die Auroren führten ihn die Ländereien entlang, schweigend. Harry war glücklich, dass sie nichts sagten. Ihm war nicht nach Reden zumute. Die Aufregung, die ihn verfolgte, seit er von All Hallows Eve erfahren hatte, hatte ihn ganz vergessen lassen, was diese Nacht denn überhaupt für ihn bedeuten würde, wenn sie tatsächlich die von Luna erklärte Magie besaß … Er würde seine Eltern wiedersehen … Jetzt wurde ihm das erst richtig bewusst, als er da den dunklen Pfad entlang lief, den Regen hörte, der auf den Schirmzauber über seinem Kopf prasselte. Wenn Luna wirklich Recht hatte – und er war überzeugt, dass er Recht hatte –, dann würde er auf seine Eltern treffen. Diese Hoffnung hatte ihn veranlasst, an All Hallows Eve zu den Gräbern von Lily und James Potter gehen zu wollen. Wo sollten sie erscheinen, wenn nicht dort, wo ihre Körper begraben lagen?
In der Ferne am Seeufer sah er Dumbledores Grab, aus weißem Marmor, durch die Nacht leuchten. Würde Dumbledore auch erscheinen? Genau dort? …
Sie erreichten das Gittertor, bewacht von den beflügelten Steinebern auf ihren Büsten. Die Auroren richteten ihre Zauberstäbe auf das Schloss des Tores, drehten sie synchron in komplizierten Bewegungen. Klick, Klick, Klick; die Schutzzauber lösten sich hörbar auf, das Tor öffnete sich. Einer der Auroren wies Harry an, weiterzugehen. Er trat durch das Tor, wo er von zwei anderen Auroren empfangen wurde. Die anderen schlossen das Tor wieder, wirkten die Schutzzauber und verschwanden dann in die Finsternis der Ländereien.
Die neuen Auroren führten Harry nur eine kurze Strecke entlang – da empfing sie auch schon eine Kutsche, gezogen von einem besonders großen Thestral, der, von keinem Schirmzauber bedeckt, durchnässt bewegungslos dastand. Er verschmolz beinahe mit der Nacht, schwarz, wie er war. Als einer der Auroren dem Thestral die Schnauze tätschelte, wurde Harry klar, dass er und sein Kollege vermutlich auch dem Tod sicher schon ins Auge gesehen hatten.
In der Kutsche fuhren sie, still wie die Toten, die Hauptstraße Richtung Hogsmeade entlang. Harry zitterte ein wenig, seine Hände waren schweißig – oder vielleicht nur nass vom Regen, der ihn trotz des Schirmzaubers doch noch erreicht hatte?
Die Kutsche hielt an, Harry stieg aus – und fand sich Lupin gegenüber.
Er sah, wenn möglich, noch müder, noch kranker, noch älter aus als Harry ihn jemals zuvor erlebt hatte. Seine Haare waren nur noch grau, sein Gesicht trug einige frische Kratzspuren und Narben; das halbherzige Lächeln, das Lupin trug, wirkte eher wie eine Grimasse.
„Hallo, Harry“, sagte Lupin; seine Stimme wirkte ebenso rau und müde wie sein Gesicht, seine faltige Stirn. „Bereit?“
Harry nickte. Lupin unterhielt sich noch kurz mit den beiden Auroren, bevor diese mit der Kutsche zurück nach Hogwarts fuhren.
„Also, komm. Wir apparieren direkt vor den Friedhofseingang. Bei drei.“ Lupin zählte bis drei – und disapparierte dann, dicht gefolgt von Harry.
Die beiden erschienen fast gleichzeitig an ihrem Ziel. Es regnete hier nicht, auf diesem Hügel zwischen Little Hangleton und Great Hangelton. Über den Eisenzaun vor ihnen ragten die blätterlosen, tot aussehenden Eiben.
„Komm“, sagte Lupin erneut. Er löste seinen hier unnötigen Schutzzauber auf und öffnete das Tor. Gemeinsam schritten sie den Kieselweg zwischen dem sehr grünen Gras entlang.
„Wie geht es dir?“, fragte Harry, der Lupin aus den Augenwinkeln beobachtet hatte; er ging ein wenig gebückt, sein Blick grimmig zu Boden gerichtet.
„Nicht so besonders.“ Glücklicherweise war Lupin ehrlich; Harry hätte keine Lust darauf gehabt, die Wahrheit aus ihm herausquetschen zu müssen. „Weißt du, der letzte Vollmond hat mir etwas sehr zu schaffen gemacht – ich kenne niemanden, der mir den Wolfsbanntrank richtig gut brauen kann. Einige Zeit habe ich die Verwandlung in den Werwolf einfach an einem sicheren Ort verbracht, aber … Nun, das letzte Mal hab ich es geschafft, auszubrechen.“ Er bemerkte Harrys entsetzten Gesichtsausdruck und schüttelte den Kopf. „Nein, niemandem ist etwas passiert. Ich bin in einen Wald gerannt, und hab mir dort einen Kampf geliefert. Mit einem anderen Werwolf“, fügte er auf Harrys fragenden Blick hinzu. „Als mich der Orden gefunden hat, war dort sonst niemand – ich hab also den Werwolf glücklicherweise nicht tödlich verletzt. Und er mich auch nicht, wie gesagt, glücklicherweise.“
Die ersten Gräber kamen nun in Sicht; gleich würden sie dort ankommen, wo Harry hinwollte …
Lupin seufzte. „Aber nicht nur mein kleines haariges Problem macht mir zu schaffen. Tonks wird immer abweisender, immer seltsamer … etwas stimmt nicht mit ihr. Wir sind da.“
Harry war froh, dass er nicht antworten musste – wie hätte er Lupin auch trösten sollen? Aber er hatte nicht bemerkt, dass sie die Gräber schon erreicht hatten. Der Anblick bereitete ihm Gänsehaut, mehr noch, als er es beim ersten Mal getan hatte, als er hier gewesen war.
Lily Gina Potter und James Basil Potter lagen hier unter den Gräbern mit den grauen Grabsteinen. Immer noch waren in Lilys Grab frischere, schönere Blumen – Lilien … Im Gegensatz zu den verwelkten Blumen in James‘ Grab.
„Gießt du die Blumen hier manchmal?“, fragte Harry.
„Nein“, erwiderte Lupin.
Und obwohl das merkwürdig war, war es nicht das, was Harry in diesem Moment beschäftigte.
Es war vielleicht zwanzig Uhr. In vier Stunden erst würde Mitternacht sein. In vier Stunden erst sollte sich die Magie von All Hallows Eve entfalten, Luna zufolge. Er hatte erwartet, auch jetzt schon etwas spüren zu können – und irgendetwas war da, etwas Unbeschreibliches. Aber was das sein sollte, wusste er nicht … Was es bedeuten könnte, er hatte keine Ahnung …
Lupin sagte kein Wort, und auch Harry schwieg, stand nur da und starrte schweigend die Gräber seiner Eltern an. Es kam ihm kindisch vor, sogar verrückt, was er vorgehabt, was er erwartet, was er gedacht hatte. Seine Eltern sollten zurückkehren? Sie waren tot. Und keine Geister wie der Fast Kopflose Nick, die Graue Dame, der Fette Mönch, der Blutige Baron.
Und doch … leuchteten die Gräber? Oder bildete er sich das ein?
Er hatte nicht mitbekommen, dass sie schon so lange hier standen. Nichts hatte ihm das Gefühl gegeben, er hätte sich vier Stunden nicht bewegt, nichts gesagt, hätte auf zwei Gräber gestarrt. Aber da – zur selben Zeit, zu der es plötzlich doch noch zu regnen begann, erst zaghaft, dann aus vollen Strömen – da schlug die Glocke der nahegelegenen Kirche zwölf.
Und während Harry und Lupin im Regen standen, beide nicht gewillt oder in diesem Moment fähig, einen Schirmzauber zu sprechen; während sie der Glocke lauschten, ihrem lauten Echo; während sie auf die Gräber blickten, in denen Harrys Eltern, Lupins bester Freund und dessen Ehefrau, lagen – währenddessen geschah nichts Besonderes, nichts Magisches.
Und es war zu diesem Zeitpunkt, dass Harry zu weinen begann, als er zum wiederholten Mal die Namen seiner Eltern las.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel