von Wizardpupil
Der Dunkle Lord saß auf seinem Thron. Er fühlte sich so siegessicher wie schon lange nicht mehr. Die Schmerzen und die Schwäche, die ihn in letzter Zeit plagten, waren wie weggefegt. Dieser Weasley-Junge hatte ihm sein Medaillon gebracht … das Medaillon, das er nun um seinen Hals trug, verborgen von der Krause seines langen, weiten schwarzen Umhangs.
Kaum hatte Snape den Weasley zu der anderen Gefangenen in den Kerker gebracht, hatte der Dunkle Lord beschlossen, seine Todesser zu rufen. Er musste ihnen berichten, dass sich etwas verändert hatte … Aber Snape hatte ihn gebeten, nur noch ein bisschen zu warten. Ihn anzuhören, bevor er die anderen Todesser her befahl. Der Dunkle Lord wollte ihm diesen einen Gefallen tun.
Gerade kehrte Snape in die Halle zurück. Scheinbar kaum bemüht, sich zu beeilen, ging er durch den Gang zwischen den Bänken zu dem Podium, stieg die Stufen hoch und kniete neben dem Thron des Lords nieder.
„Immer diese Höflichkeiten, Severus, das ist wirklich nicht mehr notwendig.“ Der Dunkle Lord erhob sich, stellte sich direkt vor Snape und wartete, bis dieser ebenfalls aufstand. Dann fragte er: „Nun, was ist dein Anliegen?“
„Meister, ich bin besorgt, dass Ihr etwas zu eilig handelt.“
Snape riskierte einen kurzen Blick in das Gesicht des Dunklen Lords, aber als er das Grinsen auf dessen Lippen sah, wandte er sich schnell wieder ab.
„Denkst du das, Severus?“
„Ja, das denke ich.“ Auch wenn er es nicht schaffte, dem Lord in die Augen zu sehen – oder war es genau deshalb? –, Snapes Stimme klang absolut ruhig und gelassen. „Die Jagd auf Harry Potter offiziell zu eröffnen, nur, weil Ihr euer – euer Medaillon wieder habt –“
„Aber es war genau das, was ich wollte, wie du dir bestimmt schon gedacht hast!“ Der Dunkle Lord stieß ein zischelndes, heiseres Lachen aus. „Das Fehlen dieses Gegenstandes war der Grund, warum ich Potter noch nicht gefangen habe!“
„Ich dachte, Ihr wolltet –“
„Das andere war doch nur ein kleiner Ersatzplan! Ich dachte, dir wäre das klar gewesen – oder habe ich deine Gewitztheit überschätzt? Du kommst wohl doch nicht ganz nach –“
„Doch, ich habe es mir schon gedacht, mein Lord, um ganz ehrlich zu sein. Dass das nicht das ist, was Ihr eigentlich wolltet. Aber – aber darf ich Euch daran erinnern, dass Ihr ohnehin auf etwas warten müsst? Kann es da schaden, gleichzeitig auch noch ihren Ersatzplan in Eure Hauptpläne einzuarbeiten und darauf zu warten, bis der ebenfalls aufgeht?“
Snape riskierte einen erneuten Blick auf das schlangenhafte Gesicht. Er war nicht überrascht, die roten Augen verengt zu sehen – der Dunkle Lord schien einen Verdacht zu hegen … oder dachte er nur nach?
„Severus“, sagte er schließlich, „ich weiß immer noch nicht genau, was ich von dir halten soll. Von dir und deinen Ideen, deinen Vorschlägen.“
„Ich möchte Euch nur dienen, mein Lord.“
„Wie gerne wäre ich mir dessen sicher.“ Der Dunkle Lord drehte sich um, ging mit großen, geräuschlosen Schritten zu seinem Thron zurück und setzte sich. „Aber ich muss sagen, du hast Recht. Natürlich weißt du einiges nicht und kannst daher auch nicht verstehen, inwiefern du Recht hast. Aber meinen Ersatzplan durchzuführen, obwohl er nicht mehr notwendig ist … mein Freund, meine kleine Schlange, das hat etwas! Ja, das hat etwas …“
Harry war zuerst überrascht, als er am nächsten Morgen die Augen öffnete und seinen Nachtschrank mit Gegenständen beladen sah. Erst, als er sich aufsetzte und das Poster an der Wand entdeckte, kam die Erinnerung zurück. Er hatte sich etwas häuslicher eingerichtet hier, dachte er, und musste unwillkürlich grinsen: Ausgerechnet in seinem letzten Jahr an der Schule war er auf diese Idee gekommen, in dem er auch noch die Schule hin und wieder verlassen würde müssen. Wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte.
Er war der letzte, der aufgewacht war, stellte er fest; alle anderen Betten waren bereits leer. Also beeilte Harry sich, zog sich seinen Umhang an (nicht, ohne vorher ganz sicher zu gehen, dass der Tarnumhang auch noch wirklich in der Tasche war) und lief dann die Stufen zum Gemeinschaftsraum hinunter. Ron und Hermine saßen gemeinsam in der Nähe des feuerlosen Kamins. Er musste an Ginny denken, als er sah, wie eng die beiden aneinander gelehnt waren. Es fiel ihm schwer, die Einsamkeit zu unterdrücken, die ihn bei diesem Gedanken überkam.
„Guten Morgen“, begrüßte ihn Hermine.
„Wart ihr schon frühstücken?“
Ron schüttelte den Kopf, wobei er eine saure Miene machte. „Sie wollte unbedingt auf dich warten. Ich hab wahnsinnigen Hunger, nachdem wir gestern zu keinem Abendessen gekommen sind!“
„Dann gehen wir, der Unterricht beginnt bald.“
„Nein, ich möchte vorher noch einiges mit dir besprechen“, sagte Hermine hastig.
Harry hob die Augenbrauen und tauschte einen irritierten Blick mit Ron. Seit wann wollte Hermine es riskieren, zu spät zu kommen?
„Es ist wichtig“, erklärte Hermine, „es geht um – um Du-weißt-schon-Was! Und um unser Gespräch mit McGonagall heute Mittag!“
Harry verzog sofort sein Gesicht: Dass Professor McGonagall heute mit ihnen sprechen wollte, hatte er vergessen. Er setzte sich hin und sah Hermine erwartungsvoll an.
„Also, zuerst einmal wegen McGonagall.“ Hermine seufzte. „Ich glaube nicht, dass sie uns tatsächlich aus der Schule werfen wird. Nein, ich bin mir sogar ganz sicher, dass sie das nicht tut. Ich meine, wie würde das denn aussehen, nicht nur für das Ministerium, sondern auch für all die Schüler hier, deren ganze Hoffnung an dir hängt? Jeder hält dich mittlerweile für den Auserwählten, der Voldemort zur Strecke bringen wird.“
Harry konnte ein Schnauben nicht unterdrücken.
„Ach, hör schon auf“, sagte Hermine, „du kannst das schaffen.“
„Wenn du meinst.“
„Wir gemeinsam können das zumindest“, warf Ron ein.
Harry grinste; vor einigen Wochen hätte Ron das Gespräch mit McGonagall noch für eine großartige Gelegenheit gehalten, den Orden endlich einzuweihen und um Hilfe zu bitten.
„Jedenfalls, dich wird sie nicht rauswerfen“, ergriff Hermine wieder das Wort. „Und was Ron und mich angeht –“
„– so weiß sie, dass ich sofort mit euch gehen würde, wenn sie euch wegschickt“, beendete Harry den Satz; Hermine lächelte verlegen und dankbar, Ron nickte anerkennend.
„Gut, ich hoffe, ihr seid jetzt einigermaßen beruhigt – ich bin es wenigstens“, fuhr Hermine fort. „Und nun zu – also, wegen den –“
„Wir wissen, wovon du redest“, sagte Ron gelangweilt, und er nahm mit beiden Händen Hermines Kopf, den sie nervös nach allen Seiten drehte, und richtete ihn auf Harry. „Sprich weiter.“
„Ja, schon gut.“ Sie verscheuchte Rons Hände, indem sie den Kopf schüttelte, und sagte dann: „Erstmal, hier das Buch, das Bill und Fleur dir geschenkt haben.“
Harry nahm das Buch, das sie ihm hinhielt, entgegen.
„Steht was Brauchbares drin?“
„Über – das, was wir suchen müssen, direkt zwar nicht, und ich kann es auch nicht mit Sicherheit sagen, solange ich nicht weiß, wie Voldemort seine anderen – Dinge versteckt hat. Aber ich kann mir wirklich gut vorstellen, dass einige der Flüche, deren Bruch in dem Buch beschrieben sind, möglicherweise von Voldemort zum Schutz seiner – ja, zum Schutz benutzt worden sind.“
„Nennen wir sie Schätze“, sagte Ron.
„Was?“
„Schätze.“ Ron rollte auf Hermines und Harrys verständnislose Gesichter hin mit den Augen. „Die Dinge, die wir suchen müssen, von denen wir schon wissen und die beschützt sind, um auf alle Namen zu sprechen zu kommen, die wir ihnen schon gegeben haben. Nennen wir sie einfach Schätze, wenn ihr Horkruxe nicht aussprechen wollt.“ Aber auch Ron senkte seine Stimme, als er das Wort „Horkruxe“ aussprach.
„Gute Idee“, meinte Harry.
„In Ordnung, seine Schätze. Also, wenn Voldemort ähnliche Maßnahmen ergriffen hat wegen der anderen Schätze wie bei dem Medaillon, angefangen bei versteckten Eingängen und verzauberten Booten, bis hin zu Inferi und Giften, dann gehe ich davon aus, dass dieses Buch halbwegs nützlich sein könnte.
Und wo ich nun schon das Gift angesprochen habe –“ Hermine beugte sich nach vor, Harry tat es ihr gleich, um zu verstehen, was sie als nächstes sagte; ihm war klar, dass sie nun flüstern würde. „Harry, wir müssen unbedingt noch einmal mit Slughorn reden!“
„Wieso das denn?“, fragte Ron, der sich ebenfalls hinunter gebeugt hatte.
„Slughorn hat gesagt, er hätte das Gift für Voldemort zubereitet. Aber er hat nicht ausdrücklich gesagt, wann – was, wenn er –“
„– das Gift erst gebraut hat kurz bevor Dumbledore und ich in die Höhle gegangen sind.“ Harry hatte verstanden, worauf sie hinaus wollte. „Dann haben wir ein ernsthaftes Problem.“
„Ich kapier nicht ganz –“, begann Ron.
„Ron, überleg doch mal!“, drängte Hermine. „Wenn Slughorn das Gift extra für Dumbledores und Harrys Reise dorthin gemacht hat, dann war es vorher nicht dort – das lässt nur drei Möglichkeiten offen. Entweder, das Medaillon ist vorher nur durch die Inferi bewacht worden, was unwahrscheinlich ist. Oder, Voldemort hat schon längst bemerkt, dass R.A.B. das Medaillon gestohlen hat, und hat Slughorn aufgefordert, neues Gift zu brauen!“
„Oder alles an dieser Sache war eine Falle, angefangen bei der Höhle, in der nie ein Horkrux gewesen ist, bis zu dem mysteriösen R.A.B., den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, und dessen Brief Voldemort selbst geschrieben hat, um Dumbledore zu verwirren, falls dieser die Höhle irgendwie überleben sollte.“ Harry schluckte, ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und bedeckte seine Augen mit einer Hand. „Wobei die letzten beiden Möglichkeiten extrem schlechte Folgen für uns hätten. Hermine, warum erzählst du mir das? Ich hab gerade wieder angefangen, Hoffnung zu schöpfen!“
„Das tut mir Leid!“, rief Hermine geschockt. „Ich dachte nur, du solltest es vielleicht wissen –“
„Und du hast natürlich Recht, reg dich nicht auf.“ Harry nahm die Hand wieder vom Gesicht und sah sie an. „‘Tschuldige, das war nur gerade …“
„Ein recht harter Schlag“, sagte Ron. „Schon klar. Also, wenn wir die erste Variante ausschließen, dann wissen wir sicher, dass die Höhle nur eine Falle war, egal, ob Voldemort nun von dem gestohlenen Medaillon weiß, oder ob R.A.B. nur ein Pseudonym von ihm ist – Mann, eigentlich hat der ja mittlerweile genug Namen, oder?“
„Das wussten wir vorher auch schon, dank Slughorn“, erwiderte Hermine. „Aber ich glaube nicht, dass Voldemort R.A.B. ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er tatsächlich einmal sein Medaillon dort versteckt hat, draufgekommen ist, dass es gestohlen worden ist und deshalb den Plan gefasst hat, Dumbledore eine Falle zu stellen. Aber um ganz sicher zu gehen, müssen wir noch einmal mit Slughorn reden und ihn fragen, wann er das Gift gebraut hat – beziehungsweise, zum wievielten Mal er das schon getan hat.“
„Wenn das Ministerium ihn noch nicht gekillt hat, werden wir das auch demnächst tun“, sagte Harry, der diese Sache nun erst einmal aus seinen Gedanken verbannen wollte. „Gibt es sonst noch etwas?“
Hermine nickte. „Ich hab Viridians Buch gelesen.“
Slughorn war sofort vergessen. „Und?“, fragte Harry neugierig.
„Naja, ich weiß nicht so Recht.“ Hermine runzelte die Stirn. „Professor Vindictus Viridian wird von einem großen Teil der Zaubererwelt nicht besonders ernst genommen.“
„Ach ja?“, sagte Harry überrascht. „Wieso das denn?“
„Nun, er behauptet, bestimmte … Dinge tun zu können“, antwortete Hermine. „Dinge, die nicht normal sind, die eigentlich keiner kann.“
„Zum Beispiel?“
„In erster Linie sagt er ja –“ (Hermine gab ein leises Schnaufen von sich und schien Mühe zu haben, nicht zu lachen) „–, er wäre ein Nekromant.“
„Ein – ein was?“
„Harry!“
Harry fluchte leise, als er die piepsige Stimme hörte. Er drehte sich um und sah einen kleinen Jungen von der Tür zu den Schlafsälen auf sich zu rennen; um seinen Hals baumelte eine recht große Kamera.
„Hallo, Colin“, sagte Harry begeisterungslos, aber Colin Creevey schien diesen wenig enthusiastischen Tonfall nicht zu bemerken.
„Harry, sieh dir an, was ich von meinem Dad gekriegt habe!“ Colin hob die große Kamera an; ohne Vorwarnung klickte er auf den Auslöser – der Blitz blendete Harry. „Eine ganz neue Kamera! Toll, was?“
„Ja, Colin, super“, sagte Harry, der sich die Augen rieb und dann einen wütenden Blick auf Ron warf; der kicherte nämlich unverhohlen vor sich hin. „Aber – wir müssen jetzt schnell frühstücken gehen, weil der Unterricht bald beginnt –“
„Klasse, ich komm mit!“
Harry sah genervt zu Ron und Hermine hinüber, aber Letztere zuckte nur mit den Schultern, also versuchte Harry nicht, Colin abzuschütteln. Er ertrug sein Geschnatter, während sie durch das Porträtloch der fetten Dame kletterten, die Korridore entlang und Treppen hinunter liefen und war froh, als sie endlich die große Halle erreichten, wo Colin seinen kleinen Bruder sah und aufgeregt zu ihm hin lief.
„Na endlich“, stöhnte Ron auf. „Ein komischer kleiner Freund, den du da hast.“
Die drei ließen sich auf die Plätze fallen, die dem Eingang zur Halle am nächsten, von den anderen Gryffindors aber am weitesten entfernt waren, und setzten ihr Gespräch fort.
„Also, was ist ein Nekromant?“, fragte Harry.
„Ein Spinner“, sagte Ron; Harry wandte sich überrascht an ihn. „Mum hat das immer gesagt.“
„Du weißt, was ein Nekromant ist?“
„Sehr schmeichelhaft, wie sehr dich das schockt.“ Aber Ron grinste nur, anstatt wirklich beleidigt zu sein. „Ja, das weiß ich. Als Kind hab ich ständig von denen gehört, im Radio und so. Einmal hat Dad uns nur einer Show von so einem Nekromanten mitgenommen. Der war natürlich ein genauso großer Betrüger wie all die anderen.“
„Aber was ist ein Nekromant denn nun.“
„Sowas wie ein Medium bei uns in der Muggelwelt“, sagte Hermine nun. „Leute, die behaupten, Kontakt zu den Toten aufnehmen zu können. Aber lass dich nicht täuschen!“, fügte Hermine hinzu, als sie Harrys aufgeregten Gesichtsausdruck bemerkte. „Du hast doch gehört, was Ron gesagt hat! Die treten mit ihren Shows auf und jeder weiß aber, dass das, was sie machen, nur Tricks sind. Wie die Zauberer in der Muggelwelt.“
„Was denn nun? Wie die Medien oder die Zauberer?“
„So ein großer Unterschied besteht da gar nicht“, entgegnete Hermine mit deutlicher Missachtung, und sie klatschte den Haferbrei mit übertriebener Wucht auf ihren Teller. „Ich verabscheue Menschen, die behaupten, sie hätten übersinnliche Fähigkeiten, und Geld damit machen!“
„Ja, sowas wie Magie gibt’s ja schließlich gar nicht.“ Harry grinste sie über seinen Löffel hinweg an.
„Hör auf“, sagte sie, aber auch sie lächelte. „Nein, Harry, du weißt, was ich meine. Diese Muggel, die dumme Zauberkunststücke vorführen oder Geister rufen und so weiter, in Wirklichkeit aber nur alle Leute auf den Arm nehmen. Die, die das machen und standfest behaupten, sie hätten wirklich magische Fähigkeiten. Die hasse ich.“
„Ich weiß zwar nicht genau, wovon ihr redet“, mischte sich Ron ein, „aber das klingt ziemlich genau nach den Nekromanten. Manche sagen ja, dass sie nur Tricks benutzen, wenn sie zum Beispiel den Namen der verstorbenen Urgroßmutter eines Zuschauers erraten oder so – die tun das nur zur Unterhaltung des Publikums.“
„Aber andere behaupten, sie hätten tatsächlich Kontakt zu den Toten“, sagte Hermine, „und Viridian ist auch so einer.“
„Und dir ist auch klar, dass da hinten gerade ein paar Geister in ein fröhliches Gespräch über Dauerwellen vertieft sind?“, fragte Harry, der über Hermines Schulter hinweg die Geister einiger Hexen beobachtete.
„Es geht um Tote, die weitergegangen sind, Harry. Die nicht zurückgekommen sind.“
Harry blickte zum Lehrertisch. Vindictus Viridian saß nicht dort; er wartete wohl schon im Klassenzimmer für Verteidigung gegen die dunklen Künste auf seine ersten Schüler. Vielleicht waren die meisten Nekromanten Betrüger – aber alle? Jedenfalls hatte Harry definitiv den Ruf des Schleiers gehört … und dann war Viridian aufgetaucht, und das Flüstern kam von ihm …
„‘N Morgen, ihr drei!“
Harry ließ vor Schreck seine Gabel fallen, so sehr war er in Gedanken vertieft gewesen. Er drehte sich um; Hagrid strahlte auf ihn herab.
„Bring euch nur eure Stundenpläne“, sagte Hagrid, und er gab jedem von ihnen ein Stück Pergament. „Wünsch euch viel Spaß beim erst’n Tag im letzt’n Jahr!“
Harry sah Hagrid hinterher, als er zurück zum Lehrertisch ging. Es war unglaublich, dass er so glücklich war. Eigentlich hatte Harry erwartet, dass Dumbledores Tod es Hagrid für immer unmöglich gemacht hatte, jemals wieder zu lächeln. Aber die Bestimmung zum stellvertretenden Schulleiter und Hauslehrer von Gryffindor schien ihn wieder aufgemuntert zu haben; Harry spürte Dankbarkeit für McGonagall in sich aufkeimen, die Hagrid diese Posten ja bestimmt nur gegeben hatte, um ihn aufzuheitern. Er wäre ihr sicher noch dankbarer gewesen, hätte es ihren Wutausbruch am Vorabend nicht gegeben.
„Wir haben ihn heute!“, sagte Hermine und zog damit Harrys Aufmerksamkeit auf sich. „Viridian, gleich nach dem Mittagessen!“
„Wenn wir nach dem Gespräch mit McGonagall noch Zeit für ein Mittagessen haben“, brummte Ron, als plötzlich die Teller und Schüssel vom Tisch verschwanden – es war Zeit, in den Unterricht zu gehen.
Die ersten Stunden in diesem neuen Jahr waren die langweiligsten, die Harry seit Langem erlebt hatte. Zuerst hatten sie eine Doppelstunde Kräuterkunde, die sie zum ersten Mal seit Anfang der fünften Klasse theoretisch verbrachten: Sie kritzelten Details über eine sehr gefährliche Pflanze auf ihre Pergamentrollen, weil sie erst alles über sie herausfinden mussten, bevor sie ihr begegnen durften. Danach hatten Harry und Ron zwei Stunden nichts, während Hermine Alte Runen hatte. Die Pause verbrachten die beiden im Gemeinschaftsraum, wo der Aufsatz über die Indonesische Schraubstockweide sie davon abhielt, sich über Horkruxe zu unterhalten. Und als Hermine zurückkam, mit den Nerven am Ende, weil Professor Babbling ihr zusätzlich noch mehr Unmengen an Hausaufgaben gegeben hatte, die sie bis Mittwoch fertig kriegen musste.
„Beruhig dich“, sagte Ron, „so kannst du nicht zu McGonagall gehen.“
„Oh nein, das auch noch!“ Hermine zitterte förmlich.
„Prüfungsstress schon zu Beginn des Jahres“, flüsterte Ron Harry zu, als sie den Gemeinschaftsraum verließen. „Die steigert sich auch von Jahr zu Jahr mehr in die Schule rein.“
Harry wusste nicht, was ihn erwartete, als er neben Ron und Hermine den Korridor vor dem Gemeinschaftsraum entlangging. Was genau würde McGonagall von ihnen verlangen? Dass sie ihr alles erzählten, was sie über Voldemorts Horkruxe wussten? Wahrscheinlich … Und was würde er, Harry, dann antworten? Würde er sich ergeben und ihr tatsächlich alles berichten? Die Hoffnungslosigkeit, die er gefühlt hatte, als er herausgefunden hatte, dass Voldemort Harrys Wissen klar war, konnte er einfach nicht vergessen … Hatte es noch viel Sinn, die Informationen, die sie hatten, für sich zu behalten? Wäre Rons Vorschlag, den er vor so langer Zeit, wie es ihm vorkam, getätigt hatte, den Orden um Hilfe zu bitten, nicht doch vernünftig?
Erst nach einer Weile bemerkte Harry, dass sie die Treppen in die tieferen Stockwerke hinunterliefen, anstatt zum Schulleiterbüro zu gehen.
„Wo wollen wir denn hin?“, fragte er.
„McGonagall ist in ihrem alten Büro geblieben“, antwortete Hermine. „Das habe ich vorhin erfahren, Professor Babbling hat uns daran erinnert, dass McGonagall mich sehen will, und dass sie in ihrem alten Büro auf uns wartet.“
„Komisch, irgendwie“, meinte Ron. „Aber sie hing ja sehr an Dumbledore. Sie hat’s bestimmt nicht über sich gebracht, schon ins Schulleiterbüro einzuziehen.“
Sie erreichten die Tür zu Professor McGonagalls Büro. Hermine zögerte kurz, war dann aber diejenige, die klopfte.
„Herein“, ertönte McGonagalls brüske Stimme.
Sie traten ein – und Harrys Mund klappte vor Schreck auf.
„Sie!“
An dem Schreibtisch saß nicht nur McGonagall. Neben ihr, auf einem Stuhl aus Eisen, saß Horace Slughorn. Er sah fürchterlich abgemagert aus, und sein ganzes blasses Gesicht stand in Schweiß. Anstelle eines prächtigen Umhangs trug er einen schwarzen, eng und unbequem aussehenden Umwerfmantel.
„Was macht der denn hier?“
„Slughorn ist hier, um euch Rede und Antwort zu stehen“, sagte McGonagall mit erstaunlich ruhiger Stimme, „nachdem er das vorhin bereits für mich getan hat. Setzt euch bitte.“
„Ich werde mich nicht neben diesen Verräter setzen!“, rief Harry.
„Wie du willst, bleib eben stehen.“ McGonagall wandte sich an Ron und Hermine. „Was ist mit euch?“
„Wir bleiben auch stehen, danke“, sagte Hermine; ihr Blick lag angeekelt auf Slughorn.
„Nun gut.“ McGonagall lehnte sich nach vorne, stützte ihre Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und legte ihre Fingerkuppen aneinander, über welche hinweg sie Harry mit den Augen fixierte. „Harry, eines vorweg – ich will dich nicht von der Schule verstoßen. Dasselbe gilt für dich, Ron, und natürlich für dich, Hermine – Moment, würdet ihr es vorziehen, wenn ich euch sieze?“
Harry schüttelte den Kopf, denn es war ihm egal, und forderte sie mit der Hand wedelnd auf, weiterzusprechen.
„Gut, es ist mir lieber so. Also, ich werde euch nicht aus der Schule werfen, egal, ob ihr mir etwas sagt oder nicht. Slughorn hier hat mir alles verraten, was er weiß, natürlich unter dem Einfluss von Veritaserum. Das Ministerium hat ihn bereits befragt, weiß aber nichts von den Horkruxen, weil Remus und Alastor es geschafft haben, sein Wissen darüber wegzusperren, bevor sie ihn dem Ministerium übergeben haben.“
Harry war angenehm überrascht von dieser Entscheidung des Ordens, versuchte aber angestrengt, Slughorn voller Hass anzustarren, um sich seine Begeisterung nicht anmerken zu lassen.
„Auf meine Bitte hin hat das Ministerium Slughorn mir für diesen einen Tag heute überlassen, um alles aus ihm herauszubekommen, was mich interessiert. Ich habe den Minister nur mühsam abschütteln können, er hat eigentlich darauf bestanden, hier zu bleiben, während ich Slughorn befrage. Aber da ich ihm nicht erzählt habe, dass ihr mich heute auch noch besucht, hat er sich letztlich überreden lassen, mich mit Slughorn allein zu lassen. Ich habe ihn gefragt, wie lange er schon für Voldemort arbeitet, worin seine Aufgaben bestanden und so weiter. Leider wusste er nicht besonders viel über Voldemorts Horkruxe, da muss ich immer noch auf euer Zutun hoffen. Aber im Grunde habe ich dieses Gespräch nur deshalb nicht mehr abgesagt heute, weil ich es euch ermöglichen wollte, euch mit Slughorn zu unterhalten. Und natürlich, weil ich mich entschuldigen möchte für mein Verhalten gestern Abend.“
Harry wandte sich zu Ron und Hermine um, die beide ein bisschen betreten und verlegen aussahen. Aber gleichzeitig bemerkte er Hermines entschlossenen Blick, der ihm verriet, dass sie dasselbe dachte wie er: McGonagall versuchte nur, sie weichzukriegen, damit sie ihr sagten, was sie wussten.
„Danke für Ihre Umsichtigkeit, Professor McGonagall“, sagte Harry dann. „Bevor wir uns festlegen, ob und was wir Ihnen erzählen, würden wir gerne das Gespräch mit Slughorn führen, das Sie uns ermöglicht haben. Allein.“
Natürlich würden sie ihr nichts erzählen, aber das musste sie ja nicht schon wissen. Tatsächlich wirkte McGonagall erfreut, als würde sie denken, dass ihr Trick funktioniert hatte.
„Aber natürlich“, sagte sie, als sie sich erhob. „Der Stuhl, auf dem Slughorn sitzt, kettet ihn mit einigen Zaubern und Flüchen fest, Slughorn wird sich nicht rühren können. Wenn ihr den Schweigezauber, der auf ihm liegt, brechen wollt, benutzt den Stillebruchzauber. Ich vermute, du weißt, wie er funktioniert, Hermine? Gut, dann lass ich euch jetzt allein mit ihm. Er steht übrigens logischerweise noch unter dem Einfluss des Veritaserums. Wenn ihr fertig mit der Befragung seid, lasst ihn einfach sitzen – er kann sich unmöglich befreien.
Wenn ihr euch entschieden habt, mit mir über die Horkruxe – und anderes, gegebenenfalls – zu sprechen, besucht mich heute Abend in meinem neuen Büro. Ich hätte euch ja gleich dort empfangen, aber diesen Abschaum will ich dort nicht sehen.“ Bei diesen letzten Worten sah sie Slughorn mit einem hasserfüllteren Blick an, als Harry ihn zusammengebracht hätte. Dann ging sie an ihm, Ron und Hermine vorbei aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich.
Ein merkwürdiges Schweigen herrschte in den darauffolgenden Sekunden, in dem Slughorn Harry anstarrte, Harry zurück. Wie flehend Slughorn dreinblickte, als würde er erwarten, dass Harry Gnade vor Recht ergehen und ihn freilassen würde.
„Hermine, benutz den Zauber, von dem McGonagall gesprochen hat.“
Hermine richtete ihren Zauberstab auf Slughorn. „Finito silencia!“
Kaum dass Hermine die letzte Silbe ausgesprochen hatte, begann Slughorn zu reden.
„Bitte, bitte lasst mich gehen! Ich weiß, dass ich einen Fehler begangen habe! Bitte, schickt mich nicht zurück ins Ministerium, die quälen mich dort, die lassen mich verhungern! Ich werde nie wieder mit dem Dunklen –“
„Sei still!“ Harry zog seinen eigenen Zauberstab, hob ihn auf Slughorns Augenhöhe und richtete ihn direkt auf Slughorns Gesicht. „Sei still, hörst du! Keine Ausreden, keine Entschuldigungen! Du bist ein mieser Verräter, und wenn sie dich im Ministerium leiden lassen, dann hast du das verdient!“
„Harry, du warst immer ein so guter Schüler, wir haben uns so gut verstanden! Hab doch Verständnis, wenn ich dem Lord nicht gedient hätte, hätte er mich umgebracht!“
„Ach, sei doch still, du altes Walross“, sagte Ron. Er schien es richtig zu genießen, Slughorn in dieser Position zu haben: Jetzt konnte er sich rächen dafür, dass Slughorn ihn immer wie Luft behandelt hatte.
„Harry, nun frag ihn doch endlich –“, drängte Hermine.
„Ja, schon gut.“ Harry ging um den Schreibtisch herum, stellte sich direkt neben Slughorn; all das, ohne den Zauberstab zu senken. „Also, Slughorn – wann hast du dieses Gift für Voldemort gebraut?“
Slughorn zitterte am ganzen Leib; seine Augen waren auf den Zauberstab gerichtet, weshalb seine Pupillen nach innen zeigten, als würde er schielen. „Zum ersten Mal vor vielen, vielen Jahren. Noch bevor deine Mutter nach Hogwarts –“
„Zum ersten Mal?“ Harry musste sich zusammenreißen, um nicht erleichtert zu stöhnen; Hermine hingegen tat es tatsächlich. „Es gab also ein zweites Mal?“
„Ja, und das hat der Dunkle Lord mir aufgetragen kurz bevor er mir befohlen hat, Dumbledore dorthin zu schicken.“ Slughorn sprach so schnell, als würde er hoffen, Harry würde ihm doch noch zur Flucht verhelfen, wenn er nur viel genug verriet. „Ich brauchte dazu unter anderem die Galustenblätter, die ich von Pomona geholt habe, an dem Abend, an dem Sie mir draußen bei den Gewächshäusern begegnet sind. Und –“
„Und das Gift einer Acromantula.“ Harry nickte, als ihn die Erkenntnis durchströmte. „Deshalb bist du mit zu Hagrid gekommen … Aber – aber ich hab doch – das kann doch nicht –“
Er hatte doch Felix Felicis getrunken! Wie konnte es sein, dass Slughorn es geschafft hatte, sein Gift zu bekommen, obwohl Harry nur Glück hätte haben dürfen? Das war doch nicht möglich!
„Hast du Voldemort auf andere Weisen gedient, abgesehen von den Giften, von der Hilfe, die du Malfoy geleistet hast und davon, dass du Dumbledore von der Höhle erzählt hast?“, fragte Hermine dann; sie schien bemerkt zu haben, dass irgendetwas es Harry unmöglich machte, weiterzureden.
„Ich habe ihm von Horkruxen erzählt, als er –“
„Das wissen wir“, sagte Ron ungeduldig, „sonst noch etwas?“
„Nein!“, sagte Slughorn.
„Gut“, murmelte Harry, als er langsam wieder zu sich kam; er fand keine Erklärung dafür, dass es Slughorn gelungen war, das Gift zu bekommen, und wollte später mit Ron und Hermine darüber reden. „Also gut – dann … Was weißt du über Horkruxe?“
„Dass man jemanden töten muss, um eines zu erschaffen! Dass man die Seele spaltet und einen Teil davon auf einen Gegenstand überträgt! Dass es schwarze Magie ist, und dass ich so etwas nie tun würde!“
„Das ist alles?“
„Ja!“, rief Slughorn, der immer lauter und immer leidenschaftlicher wurde. Er glaubte wohl wirklich, dass seine Antworten ihm den Hals retten könnten.
„Was weißt du speziell über Voldemorts Horkruxe?“
„Überhaupt nichts! Nur, dass sich eines einmal in der Höhle befunden hat, in die der Dunkle Lord Dumbledore schickte.“
„Befunden hat?“
„Ich habe gehört, wie der Dunkle Lord gesagt hat, dass es gestohlen worden ist aus der Höhle. Er hat nicht bemerkt, dass ich noch da bin, als er sich mit Snape darüber unterhalten hat!“
Snape. Da war er schon wieder … Snape, immer wieder Snape … Aber – bedeutete das etwa, dass er –
„Hat Snape von den Horkruxen gewusst? Hat Voldemort ihm gesagt, dass sein Horkrux gestohlen worden ist, hat er dieses Wort benutzt?“
Slughorn schüttelte den Kopf. „Snape kam erst hinzu, als der Lord mich schon entlassen hat, und er hat Snape nur gesagt, dass Dumbledore die Höhle ruhig betreten könnte, weil das, was ihm am Herzen gelegen hat, ohnehin nicht mehr dort ist. Snape hat sogar gefragt, was das denn sein sollte, aber der Lord hat nicht geantwortet! Mehr konnte ich nicht hören, in diesem Moment ist der Todesser, der mich nach Hogsmeade bringen sollte, zurückgekommen und ist mit mir disappariert.“
Harry atmete auf. Er hatte schon befürchtet, Voldemort hätte schon von Snape gewusst, dass Dumbledore die Horkruxe suchte, lang bevor Slughorn es erfahren und ihm verraten hatte. Aber scheinbar hatte Dumbledore Snape nicht verraten, was seine Hand so verletzt hatte …
„In Ordnung – also – wo hast du dich mit Voldemort getroffen?“
„Als der Lord erfahren hat, dass ich nach Hogwarts zurückgehen werde, da hat er mich sofort aufgesucht, zum ersten Mal seit Langem! Er hat mir gesagt, ich solle jedes Wochenende nach Hogsmeade in den Eberkopf gehen und dort auf Berichte und Aufträge warten. Hin und wieder kam ein Todesser, der mich in eine Seitenstraße gebracht hat und von dort aus mit mir an einen Ort appariert ist, der mir unbekannt ist – aber es war auf jeden Fall das Hauptquartier des Lords, es war so groß und edel!“
Harry suchte in seinem Gehirn nach weiteren Fragen, aber ihm fiel nichts mehr ein. Er wandte sich an Hermine, die sofort sagte: „Wann kam der Auftrag, Dumbledore von der Höhle zu erzählen?“
„Gleich, nachdem ich dem Lord den Trank gebracht habe. Der Lord wollte, dass ich Dumbledore sage, er hätte in seiner Schulzeit öfters die Höhle erwähnt, und dass ich ihm genau beschreibe, wo sie sich befindet. Das war irgendwann – irgendwann im April. Gegen Ende April, oder Anfang Mai.“
Harry versuchte nicht einmal, sein Erstaunen zu verbergen. Gegen Ende April, Anfang Mai? Dumbledore und er waren erst im Juni in die Höhle gegangen! Was hatte Dumbledore so lange aufgehalten? Hatte er die Höhle nicht sofort gefunden? Hatte er Slughorn nicht getraut? Aber was hatte ihn dann doch dazu bewegt, sie zu besuchen?
All diese Fragen hätte Slughorn ihm nicht beantworten können, mit oder ohne Veritaserum. Harry blickte Hermine erneut an, aber auch sie schien keine Ideen mehr zu haben. Ron war bereits dazu übergegangen, mit seinem Zauberstab kleine Lichter und Funken durch die Gegend zu sprühen.
„Sollten wir jetzt vielleicht zum Mittagessen gehen, bevor der Unterricht wieder losgeht?“, fragte Harry in die Runde.
„Auf jeden Fall!“, rief Ron, der aus einer Art Trance erwacht zu sein schien, als er das Wort „Mittagessen“ hörte.
Hermine ließ ihren Blick noch eine Weile nachdenklich auf Slughorn ruhen, aber sie schien ihn gar nicht richtig zu sehen. Schließlich sagte sie: „Ja, du hast wohl Recht, mir fällt kaum noch etwas Bedeutendes ein. Aber glaubst du, wir können ihn wirklich einfach hier herumsitzen lassen?“
Harry ignorierte Slughorns Zähneklappern und beugte sich über den Stuhl, auf dem er saß, um ihn genauer zu betrachten. Es war nichts Auffälliges daran, was auf einen Binde- oder Fesselfluch hinwies. Allerdings hatte Slughorn sich tatsächlich die ganze Zeit nicht bewegt, abgesehen von seinem Kopf.
„McGonagall sagte, wir könnten ihn hierlassen“, sagte Ron.
„McGonagall denkt auch, sie hätte uns so weich gekriegt, dass wir ihr von den Horkruxen erzählen“, erwiderte Harry.
„Hat er einen Zauberstab?“, fragte Hermine.
„Ganz sicher nicht, in dem Anzug wäre nicht mal Platz für ‘ne Haarnadel.“ Harry richtete trotzdem sicherheitshalber seinen Zauberstab erneut auf Slughorn, der kreischend zusammenschreckte. „Specialis Revelio!“
Und dann war es an Harry, sich zu erschrecken: Um Slughorns Körper und den eisernen Stuhl leuchteten plötzlich mehrere bunte Kreise auf, wie Schlangen und Seile, die sich um beides wanden. Die roten, grünen, gelben, blauen und violetten Lichter schienen kurz auf – dann verschwanden sie plötzlich wieder.
„W-was war das denn für ein Zauber?“, rief Ron. „Mann, Harry, wo hast du denn das gelernt? Und wie komm ich da hin?“
„Er hat nur den Revelatiozauber von Scarpin benutzt, den wir letztes Jahr oft im Unterricht brauchten“, sagte Hermine, die, zu Harrys Enttäuschung, kein bisschen beeindruckt wirkte. „Das war nur so hell und farbenfroh, weil sich durchs Harrys Zauber eben die Banne und Flüche bemerkbar gemacht haben, die das Ministerium – oder McGonagall, oder wer auch immer – auf den Stuhl gelegt haben.“
„Aber er hat sich den Zauber gemerkt, und das ist schon mal mehr, als ich jemals von mir behaupten könnte.“ Ron sah Harry immer noch beeindruckt an. „Ich fand die Show toll.“
Harry lächelte Ron dankbar zu und versuchte, Hermines Blick auszuweichen. Stattdessen wandte er sich wieder an Slughorn, der nun sein Gesicht auf seine Brust hatte sacken lassen und leise wimmerte.
„Lassen wir ihn allein“, sagte Harry angewidert. „Bevor ich noch auf die Idee komme, ihn zu bemitleiden.“
Und er führte die anderen beiden aus dem Büro, schloss die Tür hinter den drein und, als Zugabe, stupste er mit dem Zauberstab das Schlüsselloch an und flüsterte „Colloportus“, beschwingt von seinem erfolgreichen Zauber von vorhin, den er, egal, was Hermine sagte, wie Ron ziemlich beeindruckend gefunden hatte.
„Die Frage, die wir uns jetzt stellen müssen“, sagte Hermine, während sie zur großen Halle gingen, „ist, ob Voldemort R.A.B. bereits identifiziert und das Medaillon gefunden hat.“
Harrys Magen drehte sich um. Daran hatte er gar nicht gedacht.
„Ersteres sicher“, sagte Ron. „Regulus war doch ein Todesser, oder?“
„Ja, vermutlich hat er bereits erkannt, wer R.A.B. ist“, stimmte Hermine zu. „Was meinst du, Harry? Hat er das Medaillon bereits?“
Harry schwieg für einige Sekunden. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, glaub ich nicht. Ich glaube, Mundungus hat es bereits verkauft, lange bevor Voldemort erfahren hat, dass sein Medaillon gestohlen worden ist.“
„Das denke ich auch“, sagte Hermine.
„Und wenn es aber Voldemort war, der Mundungus getötet hat?“ Ron legte die Stirn besorgt in Falten. „Dann hat er doch sicher vorher das Medaillon von ihm geklaut, oder? Vielleicht hatte Mundungus es ja noch!“
„Aber ihm wurde doch die linke Hand abgeschnitten, nachdem er ermordet worden ist“, erinnerte ihn Hermine. „Das sollen doch nur Kleinkriminelle machen, als eine Art Brauch, oder?“
„Und wenn das nur ein Täuschungsmanöver war?“, fragte Harry. Ron hatte ihn ziemlich verunsichert mit seiner Sicht der Dinge.
„Eines ist jedenfalls klar“, sagte Ron dann, und als Harry und Hermine ihn überrascht ansahen, fuhr er mit trister Miene fort: „Wenn er es hat, können wir nichts dagegen tun.“
Harry versuchte im Laufe des Tages, nicht weiter über das Medaillon nachzudenken. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Unterricht und auf die Frage, wie sie es schaffen würden, McGonagall zufriedenzustellen, ohne ihr etwas zu verraten. Natürlich würden sie an diesem Abend nicht ins Schulleiterbüro gehen. Aber alle aufregenden Ereignisse des Tages waren für Harry trotzdem noch nicht passiert: Gleich nach dem Mittagessen fand eine Doppelstunde Verteidigung gegen die dunklen Künste bei Professor Viridian statt. Harry war unendlich gespannt, was Viridian ihnen zeigen würde – ob er vielleicht tatsächlich ein Nekromant war, ein echter … Die Möglichkeiten, die ihm das eröffnen würde … Seine Eltern … Sirius … Dumbledore …
Als Harry, Ron und Hermine das Klassenzimmer für Verteidigung gegen die dunklen Künste erreichten, war die Tür noch verschlossen. Eine kleine Traube von Schülern wartete bereits davor, darunter Dean und –
„Zacharias!“, flüsterte Harry, als er Zacharias Smith sah, in ein Gespräch mit Pansy Parkinson vertieft. „Das hab ich ja ganz vergessen!“
„Was hast du vergessen?“, fragte Hermine neben ihm, ebenso leise wie er.
Harry grüßte Dean hastig, wartete dann aber, bis er sicher war, dass Dean sich wieder mit Susan Bones aus Hufflepuff unterhielt; dann wandte er sich zu Ron und Hermine um und sagte: „Smith ist ein Nachfahre Helga Hufflepuffs!“
„Der Mistkerl?“ Ron starrte Zacharias ungläubig an. „War Hufflepuff nicht unter anderem für ihre Freundlichkeit bekannt?“
„Ich will’s ja auch nicht glauben, aber es passt! Dumbledore und ich haben in einer der Erinnerungen letztes Jahr die Hexe Hepzibah Smith besucht – auch sie war eine Nachfahrin Hufflepuffs! Hepzibah Smith!“
„Ja, aber nur entfernt“, warf Hermine ein. „Zumindest hat sie das behauptet. Ich hab ein bisschen nachgeforscht – das ist nur ein Gerücht, richtig nachweisen kann man ihren Stammbaum nicht bis zu Hufflepuff. Aber ich hab mich schon gefragt, ob Zacharias etwas mit ihr zu tun hat.“
„Aber wäre das nicht bekannt, wenn er von Hufflepuff abstammt?“, fragte Ron mit gerunzelter Stirn.
„Viele Familien stammen möglicherweise von dieser oder jenen berühmten Persönlichkeit ab.“ Hermine schnaufte. „Vermutlich könnte ich sogar behaupten, ich wäre eine Nachfahrin Merlins und könnte dafür mindestens halbsoviele Beweise finden wie Hepzibah Smith für ihre Verwandtschaft mit Hufflepuff. Ich hab nachgelesen und zu der Zeit, als du Voldemorts Todesfluch überlebt hast, Harry, gingen die Gerüchte um, du würdest von Godric Gryffindor abstammen – natürlich vollkommen falsch, es gab nicht den geringsten Grund für diese Annahme.“
„Ist doch jetzt auch egal“, sagte Harry, der fand, dass das Gespräch aus dem Ruder lief. „Ich will doch nur darauf hinaus, dass Smith uns möglicherweise helfen könnte mit dem Hufflepuff-Horkr- ach nein …“ Jetzt erst fiel es Harry wieder ein. „Wir wissen ja, dass es sich dabei um den Becher handelt …“
„Genau“, sagte Hermine; ihr Blick war für Harrys Geschmack wieder einmal zu verständnisvoll und mitfühlend. „Er wird uns wohl kaum eine Hilfe sein. Voldemort wird den Becher gut versteckt haben, damit niemand mehr an ihn heran kommt.“
Dann öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer, ganz von allein, und der Becher, Hufflepuff, Voldemort und Zacharias Smith wurden aus seinen Gedanken vertrieben. Obwohl Harry schon genug Türen gesehen hatte, die sich ohne das direkte Zutun eines Menschen geöffnet hatten, seit er in der Zaubererwelt lebte, machte diese hier doch einen speziellen Eindruck auf ihn. Bestimmt bildete er sich das nur ein, weil er sich so viele Hoffnungen wegen Viridians angeblicher Fähigkeit machte …
Harry folgte den anderen in das Klassenzimmer – und war überrascht, wie hell es darin war. So, wie er sich die Nekromanten vorgestellt hatte, hätte er einen dunklen Raum erwartet, mit einem lodernden Feuer in einem Kamin als die einzige Lichtquelle, ähnlich wie in Trelawneys Turm; mit seltsamen Objekten an den Wänden, auf den Tischen, einige davon mit schwarzen Tüchern behangen und verdeckt …
Aber das herbstliche Sonnenlicht fiel durch die Fenster, von denen eines sogar weit offen stand. Anders als Snape letztes Jahr hatte Viridian dem Raum nicht seine eigene Note aufgedrängt: Der Raum sah aus wie immer – nur vielleicht … sauberer? Freundlicher? Das Holz des Bodens wirkte polierter, die Tische wie neugekauft, ohne die Kritzeleien von Schülern. Harry blickte zum Lehrertisch, aber Professor Viridian saß nicht dort. Stattdessen fiel ihm etwas anderes auf, etwas, das doch auf den Lehrerwechsel hinwies (das saubere Zimmer schrieb Harry allein den Hauselfen zu, die sich wohl besonders angestrengt hatten diesmal): Eine einzelne weiße Kerze stand dort, mit einer bewegungslosen blauen Flamme, in einem silbernen, äußerst dünnen Kerzenständer. Harry konnte sich nicht erinnern, eine Kerze jemals so faszinierend gefunden zu haben.
Eine Tür am anderen Ende des Raumes öffnete sich, und herein trat Professor Viridian. In dem Moment begann die Kerzenflamme zu flackern.
„Guten Tag!“, begrüßte er seine Schüler, freundlich lächelnd. „Nehmen Sie doch bitte Platz!“
Harry suchte sich sofort einen Platz in der ersten Reihe; er schnappte ihn sogar direkt vor Zacharias Smiths Nase weg, der bereits nach dem Stuhl gegriffen hatte. Ron und Hermine setzten sich rechts und links von ihm hin. Er ignorierte Rons fragenden und Hermines unzufriedenen Blick und konzentrierte sich darauf, Professor Viridian zu beobachten, der zum Lehrertisch ging und sich auf dessen Kante neben die Kerze setzte; ihre Flamme schlug nun wild nach allen Seiten aus.
„Nun, da wärt ihr also“, sagte Professor Viridian, und er ließ seine Augen über die ganze Klasse schweifen. „Ich bin gespannt, wie unser Jahr wird. Ihr seid die erste UTZ-Klasse, die ich unterrichte; ich habe extra für euch meinen Lehrplan ein wenig abgeändert, weil nur wenige so genannte Experten aus dem Ministerium das, was ich euch beibringen möchte, für angebracht oder notwendig halten.“
Hermine rutschte verlegen auf ihrem Stuhl herum; Harry wusste, dass sie im Grunde wohl genauso dachte wie diese Experten.
„Obwohl ich aber meine eigentlichen Interessensgebiete ziemlich außen vorlasse in unserem Unterricht, so musste ich doch darauf bestehen, dass ihr mein Buch kauft. Habt ihr es da?“
Jeder bückte sich zu seiner Schultasche hinunter, um Leben, Tod und Seele – eine Studie herauszuholen. Harry legte das Buch vor sich auf den Tisch. Auf dem schwarzen Umschlag befanden sich ein weißes Kreuz, ein weißer Kreis und ein weißer Vogel, der verdächtig nach einem Phönix aussah. Da Hermine offenbar nichts von Professor Viridian hielt, hatte Harry gar nicht gefragt, ob sie in seinem Buch etwas Nützliches gefunden hatte, aber das war gar nicht notwendig: Der Titel, der Umschlag und Vindictus Viridian selbst regten in ihm ein solches Interesse, dass er es auf jeden Fall selbst lesen würde. Nicht einmal für das Buch des Halbblutprinzen hatte er sich so sehr interessiert.
„Sehr gut, ihr habt das Buch. Nun, vielleicht haben einige von euch Gerüchte über mich gehört, über das, was ich zu sein behaupte. Ich werde es auch hier sagen: Ja, ich bin ein Nekromant. Ein echter. Ich kann – einfach formuliert, so, dass es jeder versteht – mit den Toten kommunizieren.“
Harry betrachtete Professor Viridian genau, aber der erwiderte seinen Blick nicht. Ganz sicher war er sich nicht, was er von diesem Mann halten sollte. Hatte Hermine Recht, war er wirklich nur ein Betrüger? Oder steckte mehr hinter ihm?
Er wünschte sich so sehr, dass mehr hinter ihm steckte …
„Die wenigsten glauben das“, fuhr Professor Viridian fort, „aber das ist mir egal. Ich habe noch nie Geld mit meinen Fähigkeiten machen wollen, was eigentlich für sich sprechen sollte. Aber die Zweifel bleiben, verständlicherweise – warum sollte ausgerechnet ich von den Hunderten von selbsternannten Nekromanten tatsächlich nekromantische Kräfte haben? Eine berechtigte Frage – die ich hier weder diskutieren, noch beantworten möchte“, sagte er mit besonderem Nachdruck an Dean gewandt, der gerade seine Hand gehoben hatte und sie nun wieder sinken ließ. „Ich werde euch allerdings, wie jeder anderen Klasse auch, einige Einblicke in die Welt der Toten gewähren – ebenso wie viele Erkenntnisse über die Welt der Lebenden und die Funktionalität der Seele, die ihr wohl kaum erahnen könnt.“
Harry hörte, wie um ihn herum in der Klasse Getuschel und Gemurmel ausbrach. Von dem, was er verstehen konnte, schienen nur wenige neugierig zu sein; die meisten tauschten skeptische Meinungen aus, und nicht selten hörte Harry sogar milde Beschimpfungen und Empörungen heraus.
„Jetzt, wo das geklärt ist“, sagte Professor Viridian, als würde er nicht mitbekommen, dass er nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit der Schüler hatte, „möchte ich zu meinen Plänen speziell für euch dieses Jahr kommen. Wir werden uns auf die Ausübung von Flüchen und Gegenflüchen, das Brechen von Zauberbannen und das Erkennen von schwarzer Magie konzentrieren.“
Harry konnte ein begeistertes Lächeln nicht unterdrücken. Klang das nicht vernünftig, interessant, notwendig? Nicht einmal Hermine konnte leugnen, dass dieser Lehrplan ausgesprochen praktisch war – speziell für die Vorhaben, die er, sie und Ron hatten – und Viridian damit kein bisschen unglaubwürdig erschien.
Wenn er ihnen wirklich all das beibringen würde und gleichzeitig noch Fähigkeiten hatte, von denen Harry nur träumen konnte (und das tat er zudem auch noch) …
Sie verbrachten den Rest der Doppelstunde, die für Harrys Geschmack viel zu schnell verging, damit, den gelernten Stoff der letzten Jahre zu wiederholen. Harry schrieb eifrig mit, meldete sich freiwillig für die Vorführung der Zauber, die Professor Viridian sehen wollte, und verdiente für Gryffindor zwanzig Punkte, als er einen perfekten Patronus-Zauber vorführte; Harry selbst fand, dass ihm der Patronus noch nie so wunderbar gelungen war.
Harry nahm sich vor, am Ende der Stunde noch mit Viridian zu sprechen; aber in dem Moment, als es läutete, gab er ihnen nur schnell ihre Hausaufgaben auf und verschwand dann sofort durch die Tür am anderen Ende des Raumes, die er laut hinter sich ins Schloss fallen ließ. Harry war etwas bestürzt darüber, aber er beschloss, ihm nach der nächsten Stunde einfach hinterherzurufen, bevor er das Klassenzimmer verlassen konnte. Harry folgte Ron und Hermine – und bemerkte dabei, dass die Kerzenflamme plötzlich erloschen war.
„Ein guter Lehrer scheint er ja zu sein“, meinte Ron, als sich die drei auf den Weg zum Gemeinschaftsraum machten.
„Ja, das schon“, sagte Hermine, in fast flehentlichem Tonfall, „aber ein Nekromant ist er trotzdem sicher nicht.“
„Glaub ich auch nicht, um ehrlich zu sein“, pflichtete Ron bei.
Harry sagte gar nichts.
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