Harry Potter und die Totenrelikte - Die Jäger
von Wizardpupil
Es hatte unerwartet zu regnen begonnen. Die Tropen trommelten gegen die Fensterscheiben der Kutschen, in denen die Schüler vom Bahnhof zum Schloss gefahren wurden. Harry hatte kaum Hagrids begrüßende Rufe gehört, oder die für gewöhnlich sehr ablenkenden und beeindruckenden Thestrale beachtet, so sehr war er in Gedanken.
Und dort war er immer noch.
Lupin weiß jetzt davon. Und – und Voldemort weiß es auch! Hermines Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf, vertrieben Zacharias Smith, vertrieben die Wut auf Slughorn, vertrieb sogar sein Mantra, das er in den letzten Wochen fast nicht losgeworden war – das Medaillon … der Becher … Und spätestens hier brach es plötzlich ab, wurde durch Hermines Stimme ersetzt.
Lupin hatte Slughorn von den Horkruxen sprechen hören. Slughorn hatte verraten, wo Dumbledore und Harry hingegangen waren, kurz, bevor Dumbledore gestorben war. Lupin würde es dem Orden erzählen, und dann wussten sie es alle, und das würde Probleme mit sich ziehen … Er hatte Dumbledore versprochen, es niemandem zu verraten …
Aber viel schlimmer war das andere. Das, was Harry niemals gedacht hätte, weil er sich extra bei Dumbledore vergewissert hatte, dass es nicht so ist. Bekommt es Voldemort mit, wenn ein Horkrux zerstört wird, Sir? Kann er es spüren? Das hatte er Dumbledore gefragt, und Dumbledore hatte ihm erklärt, dass das nicht so war. Aber jetzt – jetzt musste Voldemort es gar nicht mehr spüren. Voldemort wusste es. Von Slughorn.
Und nur, weil Harry Slughorn nach der Erinnerung gefragt hatte. Hätte er das nicht gemacht, hätte Slughorn nie erfahren, dass Harry und Dumbledore nach den Horkruxen suchten, und damit auch nicht Voldemort. Dumbledore hätte weiterhin nur auf Spekulation gearbeitet – er hätte nicht sicher gewusst, dass Voldemort mehrere Horkruxe erschaffen hatte, aber irgendwann hätte er das von selbst erkannt, diese Erinnerung wäre nicht notwendig gewesen … Dumbledores Auftrag hatte alles zunichte gemacht. Denn nun hatte Voldemort sicher mittlerweile all seine Horkruxe an sich genommen, besser versteckt, besser beschützt noch, als sie es ohnehin zuvor waren …
Nein, Dumbledore durfte er nicht die Schuld geben. Aber verloren war der Kampf dennoch. Voldemort wusste, dass Harry die Horkruxe suchte, Voldemort hatte sie zu sich geholt, Harry hatte keine Chance mehr …
Die Kutschen hielten an, aber Hermine musste Harry an der Schulter schütteln, bevor er verstand, dass er aussteigen musste. Die beiden eilten den anderen hinterher, die schon ein ganzes Stück auf die Treppe zugegangen waren, die hoch zum Eingang des Schlosses führte.
Hogwarts. Ein Ort, der Harry einmal ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit, ein Heim geschenkt hatte, ein richtiges Zuhause … Und nun stand er da, blickte hoch auf die vielen hohen Türme, und empfand gar nichts, was an Glück erinnerte. An beiden Seiten des offenstehenden Tores standen zwei starr nach vorne blickende Auroren, ihre Zauberstäbe fest umklammert.
Harry fragte sich, wie viele Sicherheitsvorkehrungen er dieses Jahr ertragen musste. Aber wenigstens musste er sich nicht mehr damit beschäftigen, wie er diese Sicherheitsvorkehrungen umgehen konnte, um das Schloss zu verlassen und nach Horkruxen zu suchen – all seine Pläne und Ideen konnte er aufgeben, sie waren sinnlos.
„Harry“, drängte Hermine, ihre Zähne klappernd, „bitte, gehen wir – es ist kalt, wir werden ganz nass – Harry, das ist nicht das Ende der Welt, wir können –“
Harry warf ihr einen finsteren Blick zu, dann lief er die Stufen hoch und in die Schule hinein, nicht, weil er etwas gegen die Kälte oder den Regen hatte, oder weil Hermines Worte ihn besänftigt hatte – er wollte nur etwas machen, irgendetwas, ob er nun in die große Halle ging und McGonagalls Worten lauschte, oder sich in sein Bett im Gryffindor-Gemeinschaftsraum legte und mit seinem Zauberstab Löcher in die Decke schoss, war ihm gleich.
Ron erwartete ihn am Eingang; er hatte Hermine im Zug nicht gehört, und so wie Harry von selbst nicht darauf gekommen wäre, hatte Ron keine Ahnung, vor was für einem großen Problem sie standen. Dementsprechend verwirrt sah er aus, als er Harrys betrübte Miene sah.
„Du hast ihn also schon gesehen?“, fragte Ron ihn, scheinbar, um sich zu erklären, warum Harry so niedergeschlagen war. Als Harry noch verwirrter dreinblickte, zeigte Ron zum Eingang der großen Halle. Harry hätte beinahe seinen Zauberstab gezogen.
Rufus Scrimgeour stand dort neben der hohen Tür; der prüfende Blick hinter seiner Brille folgte jedem Schüler, der an ihm vorbeiging.
Harry wusste gar nicht, warum Scrimgeour ihn so aufregte, aber er schien einfach das Tüpfelchen auf dem i zu sein – soviel Schreckliches war heute passiert, in so kurzer Zeit, mit so verheerenden Auswirkungen – und dann stand da auch noch der Zaubereiminister mitten in Hogwarts, als gehöre ihm der Ort, die Hände selbstsicher in beide Seiten seines Bauches gestützt. Scrimgeour ließ seine Augen durch die Halle schweifen und als sie Harry erfassten, blieben sie an ihm hängen. Er und Harry starrten einander mehrere Sekunden lang an, dann grinste Scrimgeour selbstgefällig, wandte sich um und marschierte langsam, trotz seines Humpelns auffällig leichtfüßig, in die große Halle.
„Was der wohl hier will?“
„Ist doch offensichtlich, Ron.“ Hermine war an Harrys Seite erschienen; auch sie blickte dem Minister grimmig hinterher. „Er wird eine Rede halten, vermutlich eine ziemlich lange, über die Zustände und Umstände –“
„– und die Missstände und Verstandslosigkeit und den unheimlich großen Abstand zwischen seiner und einer fähigen Führung der Zaubererwelt wird er vermutlich wieder auslassen“, fügte Harry hinzu. „Ich glaub, ich werde das nicht aushalten – können wir nicht gleich in den Gemeinschaftsraum gehen?“
„So sehr ich auch dafür wäre, das können wir nicht“, sagte Hermine streng. „Die Häusereinteilung müssen wir uns ansehen, und wir werden sicher Dumbledore gedenken, wenn Professor McGonagall mit ihrer Rede an der Reihe ist –“
„Ja, schon gut“, seufzte Harry, „wir gehen ja rein.“
„Harry, wirklich – wir haben so viel zu besprechen, das würde ich am liebsten gleich machen, aber wir sollten trotzdem –“
„Was haben wir denn jetzt schon wieder zu besprechen?“, fiel Ron Hermine ins Wort, ungläubige große Augen machend.
„Ja, was?“, brummte Harry. „Wir haben sowieso verloren, sieh’s ein, Hermine, wir sollten einfach aufgeben –“
„Sag das nicht!“, rief Hermine entrüstet. „Wenn sogar du schon aufgeben willst, wie sollen wir dann jemals –“
„Wieso aufgeben?“ Ron starrte die beiden abwechselnd an, sein Mund so weit offen, dass es schon fast wieder komisch aussah. „Hab ich was nicht mitgekriegt? Was ist denn in dich gefahren, Mann?“
„Wir erzählen es dir nachher.“ Hermines Lippen zitterten. „Wir – wir sollten jetzt reingehen.“
Harry folgte den anderen beiden lustlos. Ihrem Gezanke hörte er still zu, nur, um etwas zu tun zu haben („Warum erzählt ihr es mir nicht gleich?“, „Ron, wir müssen jetzt in die große Halle –“, „Nein, jetzt erzähl schon!“, „Ich –“, „Mach!“, „Du gibst mir ja nicht einmal die Chance dazu!“). Als sie die große Halle betraten, warf er nur einen desinteressierten Blick über die Tische, um zu sehen, wie viele Schüler hier waren – gerade einmal halbsoviele als gewöhnlich. Am Slytherin-Tisch fehlten die meisten – alles Kinder von Todessern, dachte Harry – aber auch bei den Gryffindors gab es einige deutliche Lücken. Seamus Finnigan war nicht da und Parvati Patil, Lavender Brown und Ritchie Coote, der letztes Jahr Treiber in der Quidditch-Mannschaft von Gryffindor gewesen war. Und das waren nur die, die Harry persönlich kannte.
Statt all derer saß allerdings jemand neben Ginny, als sich die drei ihr gegenüber niederließen, den Harry dort nicht erwartet hatte.
„Sie alle starren dich wieder an und flüstern über dich“, sagte Luna zu Harry, kaum, dass er sich hingesetzt hatte.
Das stimmte, stellte Harry fest, als er sich umsah; viele Schüler zeigten sogar mit dem Finger auf ihn. Scheinbar hatte sich schnell herumgesprochen, dass etwas im Zug geschehen war.
„Äh, Luna – was machst du hier?“, fragte Hermine; Harry wusste, dass Hermine Luna nicht besonders gerne mochte und sich um Höflichkeit bemühte, und er musste ein Lachen unterdrücken. „Das hier ist der Gryffindor-Tisch.“
Luna richtete ihre großen Augen auf Hermine, scheinbar erstaunt.
„Ich weiß“, sagte sie nur.
„Nun – du bist in Ravenclaw.“
„Das weiß ich auch.“ Luna legte den Kopf ein wenig zur Seite und sah Hermine an, als wäre sie besorgt um ihren Zustand.
„Und – was machst du dann hier?“
Luna lächelte. „Ich fand es heute angebracht, mich hier hin zu setzen.“
Dann wandte sie sich ab und starrte in Richtung Lehrertisch, als hätte sie eine klärende Antwort gegeben und das Gespräch wäre zu Ende. Hermine sah aus, als hätte sie wieder ein Basilisk versteinert. Nun lachte Harry wirklich.
Dann schweifte sein Blick zum Eingang der großen Halle und sein Lachen hörte abrupt auf; dort stand Lupin, und erinnerte Harry damit an Slughorn. In das wütende Gespräch über Scrimgeour, das Ron, Hermine, Neville und Ginny führten, stimmte er nicht mit ein. Er fixierte einen Sprung im Holztisch und versuchte, alles andere auszublenden; langsam bekam er Kopfschmerzen von dem Geschnatter, sowohl von dem in der Halle, als auch von dem innerhalb seines Kopfes.
Voldemort weiß es, alles ist verloren …
Hermine hat gesagt, ich soll nicht aufgeben, sie muss noch einen Ausweg gefunden haben …
Vergiss Hermine, nicht einmal sie kann dieses Schlamassel ungeschehen machen …
Wenn einer das könnte, dann war das Dumbledore. Und der war tot.
Die Schüler in der Halle verstummten plötzlich. Harry sah hoch – die Erstklässler waren eingetroffen. Hagrid kam ihnen voran herein geschritten, in seinem Biberfellmantel, mit einem stolzen Ausdruck auf dem Gesicht. Die Kinder, die ihm hinterher eilten, wirkten nervös und ängstlich. Harry verdrängte die Erinnerung an seine eigene Häuserzuteilung (Nicht Slytherin, nein? Bist du dir sicher? Du könntest groß sein …). Dort, vor dem Lehrertisch, stand auch schon der Stuhl, auf dem der sprechende Hut lag, alt und verschlissen. Er sah so harmlos aus, so gewöhnlich …
Harry hob den Blick ein wenig an. Am Lehrertisch saß Professor McGonagall, die neue Schulleiterin, auf dem hohen Stuhl, der einst Dumbledores gewesen war. Neben ihr war ein Platz leer – der besonders große Sessel sprach dafür, dass er Hagrids war. Hinter McGonagall stand Scrimgeour, der sich scheinbar nicht setzen wollte. Und da – da war –
„Das ist er!“, zischte Harry. Er konnte es kaum glauben. Dort, am Lehrertisch, an McGonagalls anderer Seite, saß niemand anderes als der Mann, den Harry im neunten Stockwerk des Ministeriums getroffen hatte, bei der Mysteriumsabteilung. Er trug einen schwarzen Umhang diesmal, aber das Gesicht war unverkennbar.
„Wer ist wer?“, fragte Ron. Er folgte Harrys Blick – und sein Mund klappte auf.
„Das gibt’s doch nicht!“
„Was – kennst du ihn?“
„Was für eine doofe Frage, natürlich kenn ich Percy!“
Harry runzelte die Stirn – was sprach Ron jetzt von Percy? Er wollte Ron schon fragen, ob er noch ganz richtig im Kopf war, als er ihn auch sah. Am anderen Ende des Tisches, neben Madam Pomfrey, der Krankenschwester, saß Percy, Rons älterer Bruder.
„Was macht der denn hier?“, wollte Ron wissen.
„Keine Ahnung, aber den mein ich nicht – ich meine –“
„Cornelius Fudge!“, flüsterte Hermine plötzlich überrascht.
„Was? Nein, ich meine –“
Aber Harry unterbrach sich schon wieder selbst. Da saß tatsächlich Cornelius Fudge, der ehemalige Zaubereiminister, einige Plätze entfernt von Percy; er warf andauernd Blicke zu Scrimgeour, als würde er sich unwohl in dessen Gegenwart fühlen.
„Was will Fudge in Hogwarts?“, fragte Ron verwirrt.
„Keine – ist doch jetzt egal, den mein ich auch nicht! Schaut, neben McGonagall – das ist der Typ, den ich bei der Mysteriumsabteilung getroffen habe!“
„Tatsächlich?“ Hermine wandte den Kopf sofort zur Mitte des Lehrertisches. „Aber das ist doch – das ist Viridian!“
„Wer?“
„Vindictus Viridian! Der Autor unseres Verteidigung gegen die dunklen Künste-Buches! Ein Foto von ihm ist in dem Buch, daher erkenne ich ihn.“
Harry betrachtete Viridian neugierig. Dann war er also der neue Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste? Ihm fiel plötzlich ein, wo er Viridians Namen zum ersten Mal gehört hatte – in der Winkelgasse, vor Beginn seines ersten Schuljahres, als er mit Hagrid seine Bücher gekauft hatte. Flüche und Gegenflüche hatte er dort damals gesehen, ein anderes Buch von Viridian.
Harry war sich sicher, dass er mit diesem Professor besonders viel Zeit verbringen würde im kommenden Schuljahr.
Hagrid hatte die Erstklässler zum Hut geführt. Letzterer würde gleich sein Lied singen – etwas, das jedes Jahr vor der Häusereinteilung geschah. Harry hatte nur drei der Lieder gehört, die der Hut in seiner Schulzeit gesungen hatte, und war gespannt, ein neues zu hören.
Tatsächlich öffnete sich sogleich knapp über der Krempe ein Riss – und der sprechende Hut sang:
Ein Hut bin ich, ein echter zwar,
doch keiner wie die andern.
Wie mich gibt’s nicht einmal ein paar,
die diese Welt bewandern.
Einmalig bin ich streng betrachtet
in mehr als einer Hinsicht;
doch wenn ihr nur auf eine achtet,
so seht ihr vieles gar nicht.
Mein Auftrag ist, euch einzuteilen,
wie ihr passt und wie ihr sollt,
doch auch, wie eure Wünsche scheinen,
wie ihr träumt und wie ihr wollt.
Wenn der Zauber unsrer Gründer
mich nicht deutlich dazu zwänge,
triebe ich euch üble Sünder
schamlos in die engste Enge.
Lasst euch gesagt sein, hört mir zu,
die Warnung ist vonnöten!
Die Trennung und der Kampf im Nu
werden die Schule letztlich töten.
Nie würde ich die Säulen stoßen,
euch auf vier Häuser teilen,
hätten es mir die vier Großen
nicht zum Sinn gemacht, zu meinem einen.
Tradition bewährt sich selten,
niemals hält sich Hass und Krieg.
Wollt ihr retten eure Welten,
gönnt der Liebe ihren Sieg.
Zum ersten Mal, seit Harry an der Schule war – vermutlich sogar das erste Mal in der Geschichte von Hogwarts – gab es nach dem Lied des sprechenden Hutes keinen Beifall. Der Hut hatte schon öfters Warnungen ausgesprochen – aber etwas wie dieses Gedicht hatte es noch nie gegeben.
„Ich hab die Hälfte davon nicht verstanden“, hörte Harry Ron sagen.
Und auch alle anderen in der Halle schienen irritiert zu sein. Die meisten schwiegen und sahen einander nur fragend an, einige aber tuschelten angeregt miteinander. Oben am Lehrertisch führte Scrimgeour ein leises Gespräch mit McGonagall, über deren Schulter gebeugt. Vindictus Viridian lächelte.
„Er hat nicht einmal die Eigenschaften der Häuser beschrieben“, murmelte Ginny.
„Er hat nur seine Meinung zu der Einteilung gesagt.“ Hermine sprach schnell, als wäre sie aufgeregt. „Dass er das nicht für richtig hält, es nicht tun würde, wenn die Gründer ihn nicht mit dem Zauber belegt hätten, der ihn dazu zwang!“
Langsam legte sich wieder Ruhe über die Halle. Alle wandten sich wieder dem Hut zu; Hagrid warf einen unsicheren Blick zu McGonagall, die gerade ihr Gespräch mit Scrimgeour beendet hatte. Er schien nicht zu wissen, was er tun sollte, aber als McGonagall ihm mit einem Winken deutlich machte, er solle einfach wie geplant fortfahren, räusperte sich Hagrid. Er entrollte ein Pergament, das er in der Hand gehalten hatte.
„Ich les jetz‘ eure Nam’n vor, von der Liste hier“, verkündete er gerade, wobei er den Schülern vor ihm fröhlich zulächelte. „Dann kommt ihr hier vor un‘ setzt den Hut auf. Alles klar? Gut, dann ma‘ los … Bodery, Alice!“
Das Mädchen wäre auf dem Weg zum Hut beinahe gestolpert. Harry aber schenkte der Sortierung kaum Aufmerksamkeit. Es war nicht das ungewöhnliche Lied des Hutes, das ihn beschäftigte.
Dass Vindictus Viridian, der Mann, der das Flüstern des Schleiers – wie sollte man es ausdrücken? – in sich getragen hatte, nun hier an der Schule Verteidigung unterrichten sollte, war ihm eine willkommene Abwechslung von der deprimierenden Erkenntnis, die er über die Horkruxe gewonnen hatte. Harry beobachtete Professor Viridian, während er über ihn nachdachte (ohne eine Ahnung zu haben, woran genau er dachte): Seine eindrucksvollen Augen waren auf die Erstklässlerin gerichtet, die sich den Hut aufsetzte, sein Mund war in ein sympathisches Lächeln gezogen. Wie Harry schon festgestellt hatte, ging von diesem Mann etwas aus. Etwas Magisches – nein, mehr als das (er war immerhin ein Zauberer) … etwas Mystisches. Etwas Unerklärliches. Und von ihm war das Flüstern gekommen, der Ruf des Schleiers …
Die wenigen Schüler waren auf ihre Häuser eingeteilt (nur zwei von ihnen waren Slytherins geworden), Hagrid hatte den Stuhl und den Hut in der Kammer hinter der großen Halle verstaut und sich dann auf seinen Platz gesetzt, und McGonagall erhob sich. Ihr strenger Blick wanderte durch die Schülerschar, bevor sie laut „Ruhe bitte!“ rief. Es dauerte um einiges länger als bei Dumbledore, bis jeder sich dem Wunsch der Schulleiterin unterworfen hatte.
„Liebe Schüler – es freut mich sehr, dass ihr euch entschlossen habt, trotz der schwierigen Zeiten zur Schule zurückzukehren, oder, im Falle der neuen, ihr beizutreten! Lasst euch versichert sein, dass Hogwarts jede denkbare Sicherheit genießt. Die Auroren auf dem Gelände sind auf jeden möglichen Fall vorbereitet. Trotz Albus Dumbledores Ablebens ist dieses Gebäude vermutlich immer noch das sicherste im ganzen Land.
Ein paar mahnende Worte, bevor das Festessen eröffnet wird. Auch wenn euch das Lied des sprechenden Hutes vielleicht verwirrt hat, vergesst es nicht einfach, und lasst euch erst recht nicht einfallen, darüber zu lachen!“ Ihre Augenbrauen vereinten sich in diesem Moment über ihrer Nase. „Nehmt die Warnung ernst, richtet euch danach – euer, unser Zusammenhalt ist im Moment wichtiger als jede Maßnahme des Ministeriums!“
Es folgte die übliche Erklärung, dass der verbotene Wald von keinem Schüler betreten werden durfte, dass Mr Filch einige neue Gegenstände seiner Liste der verbotenen Utensilien hinzugefügt hatte - erst dann sagte McGonagall wieder etwas, das Harrys Interesse weckte: Als sie das Wort „Quidditch“ sagte, blickte er auf.
„Quidditch wird es dieses Jahr nicht geben -“, begann sie, aber da wurde sie schon von dem Gröhlen einiger Schüler unterbrochen. Im Gegensatz zu Ron war Harry nicht bei diesen Schülern dabei: Zwar hatte er sich im Grunde schon auf Quidditch gefreut, aber er war sich gar nicht sicher gewesen, ob er die Zeit dazu haben würde. Auf diese Weise hatte er wenigstens keine Wahl, ob er sich nun mit Training und Spielen aufhalten, oder ob er die Zeit lieber für Horkruxe nutzen sollte. Als er zu Hermine blickte, wusste er, dass sie dasselbe dachte, denn sie trug ein etwas spitzes Lächeln auf dem Gesicht.
„Ich bitte euch!“, rief McGonagall und bedeutete den Schülern mit den Händen, ruhig zu sein. „Mir gefällt diese Entscheidung auch nicht so gut, aber es geht um eure Sicherheit! Wir können nicht davon ausgehen, dass die Schutzzauber um die Ländereien nach Professor Dumbledores Tod noch hundertprozentig undurchdringabr sind! Solange wir das nicht mit Sicherheit wissen, werden die Schüler das Schloss, das noch auf andere Weise geschützt ist als nur durch die Abwehrzauber des Ministeriums, nur zu bestimmten Zeiten verlassen, die von den Lehrern vorgegeben sind!“
Es dauerte noch eine Weile, bis sich alle Schüler beruhigt hatten; aber als McGonagalls Blick immer strenger wurde, schienen sie endlich einzusehen, dass sie dabei waren, eine Grenze zu überschreiten, hinter der sie besser hätten stehen bleiben sollen. Schließlich war es ruhig in der Halle, und jeder wartete darauf, dass die Schulleiterin weitersprach.
„War's das? Schön - desweiteren würde ich es vorziehen, euch die neuen Mitglieder des Kollegiums vorzustellen, bevor wir uns dem Essen zuwenden – ich werde während der Feier nämlich diese Halle verlassen müssen und heute Abend nicht wieder zurückkehren. Professor Hagrid wird euch nach dem Dessert entlassen.
Nun zu unseren neuen Lehrern – bitte begrüßt Professor Ogden, der von nun an Muggelkunde unterrichten wird, weil Professor Burbage gekündigt hat.“ McGonagalls Lippen kräuselten sich in deutlicher Missbilligung.
Die Schüler klatschten, als der sehr alte Mann mit steingrauen Haaren aufstand und ihnen mit der Hand zuwinkte; Cormac McLaggen klatschte besonders laut für seinen Onkel.
„Desweiteren heißen Sie Professor Fudge willkommen, der das Fach Verwandlung übernehmen wird.“
Es wurde zwar höflich geklatscht, aber als Fudge seine Melone zum Gruß nervös abnahm, übertönte das heftige Murmeln beinahe den Applaus. Aber es war nichts anderes zu erwarten gewesen – den ehemaligen Zaubereiminister plötzlich als Lehrer vorgesetzt zu bekommen, das sorgte natürlich für Aufregung.
„Begrüßen Sie auch Professor Viridian, den neuen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste!“
Der Applaus war diesmal um einiges lauter als bisher. Scheinbar spürten die anderen nicht das Merkwürdige, das Viridian ausstrahlte, dachte Harry, sondern sahen nur einen sympathischen älteren Mann. Sonst hätte es wohl mindestens genauso viel Gemurmel gegeben wie bei Fudge.
Als sich der Applaus gelegt hatte, fuhr McGonagall fort: „Und zu guter Letzt darf ich Ihnen Mr Weasley vorstellen.“
Harry spürte, dass sich Ron neben ihm verkrampfte. Percy stand nicht auf, machte untypischerweise nicht einmal ein Zeichen, dass er seinen Namen gehört hatte.
„Mr Weasley, der Juniorassistent des Zaubereiministers, sich im Zuge der Sicherheitsvorkehrungen bereit erklärt hat, unserer Krankenschwester und Heilerin Madame Pomfrey als Assistent zur Seite zu stehen. Ebenfalls hat er erst vor wenigen Minuten zugestimmt, vorübergehend Zaubertränke zu unterrichten, bis wir eine Festanstellung für dieses Fach gefunden haben – Professor Slughorn hat uns verlassen müssen, denn es hat sich herausgestellt, dass sein Platz wohl eher in einem Verließ im Ministerium ist als hier in der Schule.“
Die meisten Schüler wandten sich an Harry, als hätten diese Worte McGonagalls bestätigt, was sie gerüchteweise gehört hatten. Harry versuchte, sie zu ignorieren.
„Nun, dann gibt es nichts mehr zu sagen. Guten Appetit!“
Und die Tische, sowohl die der Häuser als auch der der Lehrer, deckten sich wie von selbst. Die Gerüche, die zugleich auf Harrys Nase einfielen, ließen vermuten, dass die Hauselfen von Hogwarts sich diesmal noch mehr Mühe gegeben hatten als normalerweise. Aber Harry hatte keinen Hunger. Nicht im Geringsten.
McGonagall winkte Scrimgeour zu sich heran. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, er nickte und ging dann hastig durch die Tür in die Kammer, in welche Hagrid zuvor den sprechenden Hut gebracht hatte. McGonagall hingegen sagte auch etwas zu Hagrid (wobei sie sich nicht bücken musste, obwohl Hagrid saß), ging dann zu den Professoren Sprout und Flitwick und sprach auch mit ihnen. Die drei erhoben sich und folgten ihr ebenfalls in die Kammer. Bevor McGonagall die Tür schloss, warf sie einen Blick über ihre Schulter und winkte – Harry drehte sich um, um zu sehen, wie Lupin am Eingang dieses Winken mit einem Nicken erwiderte und dann am Rand der Halle ebenfalls zur Kammer eilte.
Ohne nachzudenken, stand Harry auf.
„Harry, was tust du?“, fragte Hermine, und Ron packte ihn sogar am Umhangsaum.
Harry riss sich los und lief Lupin hinterher. Er hörte entfernt, wie Hermine aufstöhnte und Ron anwies, aufzustehen; die beiden hatten ihn schnell eingeholt.
Lupin war schon in die Kammer verschwunden, als Harry die Tür öffnete und mit den anderen beiden eintrat. Die Rufe der anderen Schüler und der Lehrer hatten sie nicht beachtet, aber Harry hatte es sich nicht nehmen lassen können, Viridian aus der Nähe zu betrachteten, als er so nah an ihm vorbeilief. Sein Lächeln war unangenehm wissend.
In dem kleinen Raum war Harry erst einmal gewesen; als er zu einem Champion des Trimagischen Turniers gewählt worden war. Damals hatte ein Feuer im Kamin geprasselt, heute war der Kamin nur voller abgebranntem Holz und Ruß, und statt ihm spendeten drei Kerzen Licht, die neben dem schlaffen, nun wieder völlig normal aussehenden sprechenden Hut auf einem niedrigen Tisch standen. Die meisten der Gemälde an den Wänden waren leer, nur ein paar Zauberer und Hexen in einem besonders großen Bild beobachteten wenig interessiert das Geschehen.
Rufus Scrimgeour, Minerva McGonagall und Remus Lupin schienen in ein Gespräch vertieft zu sein, welchem Professor Flitwick, Professor Sprout und Hagrid, der seinen Kopf einziehen musste, um in den Raum zu passen, nur als Zuhörer beizuwohnen schienen. Niemand hatte das Eintreten der drei Schüler bemerkt, also machte sich Harry mit einem lauten Räuspern bemerkbar.
Hagrid stieß sich den Kopf, als er sich erschrocken umdrehte, und Sprout hätte beinahe Flitwick getreten. Scrimgeour allerdings hob nur die Augenbrauen, und McGonagall und Lupin drehten sich langsam um, als hätten sie damit gerechnet, dass Harry ihnen folgen würde.
„Mr Potter“, sagte Scrimgeour gelassen, „mit welchem Recht verlassen Sie die Feier und unterbrechen dieses Gespräch?“
„Mit meiner Erlaubnis, Minister“, sagte McGonagall harsch, bevor Harry sich zu Wort melden konnte. „Harry ist mit Abstand der wichtigste Zeuge im Falle Slughorns.“
„Ich habe gerade erläutert, was im Zug vorgefallen ist“, sagte Lupin zu Harry, wobei er ihn intensiv ansah, so, als wolle er ihm etwas mitteilen, ohne es auszusprechen. „Alles, was mir bekannt ist, meine ich. Was ja nur ist, dass Slughorn versucht hat, dich in einen magischen Schlaf zu versetzen, um dich später zu Lord Voldemort zu bringen. Wenn du nun bitte den Rest erzählen würdest?“
Harry fand es zwar gut, dass Lupin Scrimgeour nicht von den Horkruxen erzählt hatte, aber so umwerfend war das nun auch nicht – Voldemort selbst wusste, dass er seine Seelenteile suchte. Da konnte der Minister es auch erfahren. Aber als Harry vom Treffen des Slug-Klubs und Slughorns Bitte, ihn danach allein zu treffen, ohne jemandem davon zu erzählen, berichtete, dann von dem Lähmfluch und dem Trank, den Slughorn ihm ins Glas gemischt hatte, davon, wie Moody, Lupin und die anderen ihn gerettet hatten – da ließ er die Horkruxe ebenfalls aus. Er erzählte zwar, dass Slughorn Draco Malfoy bei der Ausführung seines Planes, die Todesser nach Hogwarts zu bekommen und Dumbledore umzubringen, geholfen hatte, aber die Höhle, das Gift verschwieg er.
Als Harry längere Zeit nichts mehr sagte, schien der Minister langsam zu verstehen, dass er nichts mehr hören würde.
„Nun gut“, sagte er, „wenn das alles ist –“ (und sein Blick sagte Harry, dass Scrimgeour ahnte, dass das nicht alles war – auch wenn er es unmöglich wissen konnte) „–, dann werde ich mich nun um Slughorn kümmern. Alastor hat ihn, haben Sie gesagt?“, fragte er an Lupin gewandt, und Lupin nickte. „Dann entschuldigen Sie mich bitte.“
Und Scrimgeour verließ den kleinen Raum.
„Also dann“, ergriff McGonagall das Wort, und alle sahen zu ihr, „Pomona, Filius, Hagrid – ich habe euch aus zwei Gründen hergebeten. Einmal war es mir wichtig, dass ihr diesem Gespräch lauscht, als Hauslehrer –“
„Hauslehrer?“, rief Hermine überrascht; dann wurde ihr Gesicht puterrot, als sie erkannte, dass sie gerade eine Lehrerin – die Schulleiterin unterbrochen hatte. „Tut – tut mir Leid, Hagrid hat nur nie erwähnt –“
„Hab ich nich‘?“ Hagrid blickte von Hermine erstaunt zu Harry und Ron, die beide den Kopf schüttelten. „Donnerwetter, dann hab ich das ganz vergess’n – die Sache mit dem stellvertretenden Schulleiter hat mich so baff gemacht, müsst ihr wiss’n, dass ich das wohl nich‘ erwähnt hab … Ich bin jedenfalls Hauslehrer von Gryffindor.“ Hagrid strahlte.
„Ja, genau darum geht es auch.“ McGonagall klang ungeduldig, und Hagrid richtete seine ganze Aufmerksamkeit sofort wieder auf sie – jeder wusste, dass es nicht klug war, McGonagalls Geduld auf die Probe zu stellen. „Ihr drei solltet ein Wort bei der Wahl des neuen Hauslehrers für Slytherin haben, nun, da Slughorn weg ist. Wir haben im Grunde nur die Wahl zwischen Professor Sinistra und Professor Viridian, aber –“
„Viridian?“
Harry wollte McGonagalls Geduld nicht noch weiter herausfordern, aber er hatte sich nicht zurückhalten können. Viridian, der sympathische, mystische Viridian war ein Syltherin?
„Ja, ganz recht“, sagte McGonagall, ihre Lippen so schmal wie jedesmal, wenn Harry eine Verwandlung selbst nach dem fünften Versuch nicht geschafft hatte. „Professor Viridian war einer der besten Slytherins, die diese Schule jemals besucht haben – und du solltest dem sprechenden Hut vielleicht genauer zuhören, Harry!
Also, Pomona, Filius, Hagrid – ich erwarte eure Wahl bis morgen um siebzehn Uhr. Bitte lasst Remus, Harry, Ron, Hermine und mich nun allein.“
Professor Sprout lächelte Harry, Ron und Hermine zu, als sie an ihnen vorbei zur Tür ging, Professor Flitwick winkte ihnen von der Gegend ihrer Oberschenkel zu, und Hagrid gab Harry einen gutmütigen Klaps auf die Schulter, der ihn ausnahmsweise einmal nicht auf die Knie warf, was vielleicht an Hagrids gebückter Haltung lag. Als die drei aus der Kammer gegangen waren, sprach McGonagall sofort weiter.
„Es scheint da noch etwas zu geben, was du bisher nicht erwähnt hast, Remus“, sagte sie.
„Das ist richtig“, sagte Lupin; er klang sehr angespannt, fast so, als fühle er sich unwohl. „Slughorn hat etwas gesagt, das schreckliche Folgen für den Orden hat, Minerva. Voldemort benutzt Horkruxe.“
McGonagall atmete laut ein und fasste sich ans Herz. „Horkruxe? Mehrere?“
„Slughorn sprach von ihnen in der Mehrzahl“, sagte Lupin schulterzuckend, „aber ich bin sicher, dass Harry uns mehr darüber erzählen kann.“
Lupin und McGonagall wandten sich beide an Harry, der möglichst gelassen die Blicke erwiderte.
„Slughorn hat nämlich verraten, wo Dumbledore und Harry kurz vor Dumbledores Tod gemeinsam waren“, fuhr Lupin fort. „Sie haben eines der Horkruxe gesucht, in einer Höhle. Slughorn hat Dumbledore auf Voldemorts Befehl hin geraten, dort nachzusehen –“
„Ja, das stimmt alles“, sagte Harry, der keinen Sinn darin sah, es zu leugnen. „Aber ich wüsste nicht, was das Sie angeht.“
„Das geht uns sogar einiges an!“ McGonagall richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. „Harry, wenn du denkst, du könntest allein die anderen Horkruxe suchen – ich meine, weißt du überhaupt, wie viele es sind, oder welche Gegenstände, oder wo sie –“
„Ich habe all das mit Dumbledore besprochen“, fiel Harry ihr ins Wort, „und Ron und Hermine in alles eingeweiht. Dumbledore hat mir erlaubt, den beiden davon zu erzählen, aber ausdrücklich gesagt, dass es sonst niemand erfahren soll. Sie wissen nun schon mehr, als Sie wissen sollten, aber aus mir kriegen Sie nichts mehr heraus.“
Wenn ich schon verloren habe, dann möchte ich wenigstens nicht alles verlieren, dachte er, aber dennoch kam es ihm seltsam vor, dass er McGonagall und Lupin nicht einfach alles über die Horkruxe sagte – hatte er nicht noch vor wenigen Sekunden festgestellt, dass alles verloren war, weil Voldemort bescheid wusste, dass nun alles egal war?
McGonagall sah aus, als stünde sie kurz vor einem Wutausbruch. Ihre Nasenflügel bebten, als sie sagte: „Harry, das ist höchst unvernünftig! Du weißt vermutlich gar nicht, was für eine Gefahr Horkruxe sind!“
„Professor McGonagall“, mischte sich Hermine nun ein, ihre Stimme mindestens genauso gehalten wie Harrys, „ich versichere Ihnen, dass wir alle drei, Harry, Ron und ich, mittlerweile vermutlich mehr über Horkruxe wissen als Sie. Vor allem, was Voldemorts Horkruxe speziell angeht.“
„Aber das ist doch lächerlich!“ McGonagall stieß tatsächlich ein Lachen aus, aber ein ganz und gar humorloses. „Bitte, Hermine, wenigstens du musst doch einsehen, dass ihr allein keine Chance habt! Der ganze Orden kann euch zur Seite stehen!“
„Dumbledore hat –“
„Harry, bitte, Dumbledore hat sicher nicht gewusst, dass er bald sterben würde! Wäre ihm dies klar gewesen, hätte er den Orden ohnehin beauftragt, dich zu unterstützen!“
„Davon hat er kein Wort –“
„Schluss jetzt!“ McGonagalls Gesicht war blass, ihre Lippen so weiß, dass sie darauf kaum zu sehen waren. „Ich erwarte mir, dass ihr drei morgen nach dem Unterricht in mein Büro kommt und mir alles über die Horkruxe von Ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, erzählt! Wenn ihr euch an diesen Befehl nicht haltet, dann –“ (sie sah jeden von ihnen abwechselnd eindringlich an) „– sehe ich mich gezwungen, euch der Schule zu verweisen!“
Hermines entrüstetes Keuchen drückte nicht einmal ansatzweise den Zorn aus, den Harry verspürte. Wie konnte McGonagall nur so kurzsichtig, so verständnislos sein –
„Hört zu“, sagte Lupin nun, der zu bemerken schien, dass die Sache aus dem Ruder lief. „Der Orden will euch nur helfen. Wir kämpfen für haargenau das Gleiche. Du bist vielleicht das Herz der Anti Voldemort-Bewegung, Harry, aber der Orden ist der Körper. Wir haben Fluchbrecher wie Bill, Auroren wie Moody, verschiedene Experten für Spionage, Verfolgung und Eindringen in fremde Gebäude. Wir bilden einfach eine Gruppe aus solchen Experten, eine Gruppe aus Jägern, die die Horkruxe identifizieren, suchen und vernichten. Ihr müsst uns nur alles erzählen, was ihr über sie wisst. Dann würde alles gut werden.“
Harry hatte sich kaum genug Zeit gelassen, laut und missbilligend zu schnaufen, bevor er sich stürmend umdrehte und gemeinsam mit Ron und Hermine den Raum verließ.
„Das ist eine Frechheit.“
Die drei saßen wenig später im ansonsten leeren Gemeinschaftsraum. Alle anderen waren noch beim Fest.
„Eine Frechheit“, wiederholte Ron angewidert. „Wie kann McGonagall uns drohen, uns aus der Schule zu werfen?“
„Hast du endlich eingesehen, dass der Orden Mist baut?“, fragte Hermine; sie sah traurig aus, als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen. „Das ist einfach furchtbar – sie wollen uns helfen? Dann sollen sie uns einfach in Frieden lassen?“
„Du glaubst also nicht, dass sie uns tatsächlich helfen könnten?“, sagte Harry, die Augenbrauen gehoben.
Hermine seufzte. „Also gut, eigentlich denke ich das schon – aber Dumbledores Anweisungen waren klar. Niemand soll es wissen, außer uns.“
„Aber es ist ohnehin egal, da Voldemort ja weiß, dass wir hinter den Horkruxen her sind“, meinte Ron; Harry und Hermine hatten ihm auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum genau erklärt, warum dies so war.
„Ich denke nicht, dass das so wichtig ist“, sagte Hermine hastig, und auf Harrys ungläubigen Blick hin fügte sie hinzu: „Nein, ehrlich! Das ist nicht das Ende! Dass Voldemort die Horkruxe ursprünglich schon alle weit weg von sich versteckt hat, beweist, dass er sie nicht bei sich haben will – selbst, wenn er ihre Standorte ändert, heißt das nicht, dass er sie an sich nimmt. Und Voldemort weiß auch nicht, dass Dumbledore und du abgesehen von Slughorns noch weitere Erinnerungen gesammelt habt, ihm ist also nicht bewusst, wie viel wir über ihn wissen oder ahnen! Es ist genauso wahrscheinlich wie vorher, dass ein Horkrux in der Winkelgasse oder in der Nokturngasse ist – oder vielleicht sogar hier in Hogwarts, von hier könnte er es gar nicht wegholen!“
Harry runzelte die Stirn; was Hermine sagte, ergab Sinn.
„Sie hat Recht, Mann!“, sagte Ron, der vollkommen überzeugt wirkte. „Wir sollten nicht aufgeben, wir haben immer noch Chancen!“
„Vielleicht“, sagte Harry nur. „Aber jetzt sollten wir uns erst einmal überlegen, wie wir McGonagall besänftigen können. Wenn sie uns aus Hogwarts wirft, wäre das nicht so gut für uns.“
„Ich glaub nicht, dass sie das tun wird“, entgegnete Hermine; aber Harry vermutete, dass da nur ihre Hoffnung aus ihr sprach. „Das war doch eine leere Drohung – aus Wut, oder nicht?“
Harry und Ron antworteten nicht, aber Harry dachte:
Genau – oder nicht?
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Unerschöpflich detailversessen und zum Schreien komisch ist Joanne Rowlings Fantasie.
Mannheimer Morgen