von Wizardpupil
„Harry – Harry? Harry, wie geht es dir?“
„Lass ihn, Hermine!“ Ron nahm seine Hand von Harrys Schulter, vermutlich, um Hermine von ihm wegzuziehen.
„Aber er sagt nichts, was ist denn los?“
„‘Arry ist doch nischt etwa tot? Nischt so kurs vor der ‘ochseit!“
„Er ist einfach nur KO.“
„Arthur, du musst den Apparierschutz wieder aktivieren!“
„Du hast Recht, Molly.“ Ein paar Sekunden lang war alles still; Harry hörte er nur leise Geräusche, die darauf hinwiesen, dass Mr Weasley seinen Zauberstab zückte, schwang und wieder einsteckte. Dann sprach er wieder: „So, fertig. Und Ron hat Recht, Harry ist einfach nur erledigt – ich will gar nicht wissen, was Scrimgeour und Umbridge mit ihm gemacht haben.“
„Umbridge? Was hat denn diese Kröte damit zu tun?“
Da war Ginnys Stimme … Ginny war auch hier. Das war es, was ihn dazu veranlasste, doch endlich die Augen zu öffnen. Er hatte es in Erwägung gezogen, einfach einzuschlafen, genau hier, und gar nicht mehr aufzuwachen, vielleicht sogar zu sterben, sodass das Letzte, was er erlebte, dieser Moment war, in dem er von seinen Freunden umringt dasaß …
Als er die Augen geöffnet hatte, war das erste, was er sah, die buschige braune Haarmähne Hermines.
„Da, seine Augen sind auf!“, kreischte Mrs Weasley.
Hermine sprang keuchend auf. „Harry!“
„Ja, schon gut“, sagte Harry lächelnd. Seine Stimme zitterte; er fühlte sich schwach. „Es geht mir nicht allzu schlecht, wirklich.“
Er drehte den Kopf von Hermine weg zu Ron, der neben ihm stand und ihn angrinste.
„Du bist noch gar nicht siebzehn und trotzdem muss man sich schon Sorgen machen um dich“, sagte er.
„Hör auf, sowas Ähnliches hat Scrimgeour auch gesagt.“ Harry sah sich um. Er war im Wohnzimmer des Fuchsbaus, saß auf einem Stuhl in der Nähe des Kamins, in welchem ein helles, warmes Feuer brannte. Vor ihm versammelt war eine ganze Menge an Leuten: Er sah Fred und George, ihre identischen Gesichter neugierig auf seines gerichtet; neben den beiden Mrs Weasley, die rief: „Ich hol den Tee!“ und dann hastig das Zimmer verließ; Mr Weasley, der ihn scharf betrachtete, als wolle er nach Zeichen suchen, was mit ihm los war; Bill, Rons ältester Bruder und seine Verlobte Fleur, Arm in Arm und mit besorgten Mienen, ihr wunderschönes Gesicht neben seinem, von Fenrir Greyback verunstaltet; Tonks, deren Anwesenheit Harry etwas überraschte, müde aussehend, die Haare wieder mausbraun – und neben ihr, da war sie endlich, Ginny, ihr Gesicht merkwürdig leer und blass. Als ihre und seine Augen einander trafen, wandte sie den Blick schnell ab und sah ihren Vater an.
„Nun sag schon, Dad, was hat Umbridge mit der Sache zu tun?“, fragte sie in forderndem Tonfall.
„Sie hat ihn zusammen mit Scrimgeour – nun, was haben sie getan? Haben sie dich verhört, Harry?“ Mr Weasley rückte seine Brille zurecht und verengte die Augen ein wenig, so als ob er Harry dann noch genauer betrachten könnte.
„Nun lasst ihn doch erst einmal in Ruhe!“ Mrs Weasley kam aus der Küche zurück, eine Tasse dampfenden Tee in den Händen. Sie lief so schnell, dass Harry befürchtete, sie würde stolpern und den ganzen Tee auf ihm vergießen, aber kein Tropfen war verschüttet, als sie bei ihm angelangt war und ihm die Tasse in die Hand drückte. „Drink ein wenig“, sagte sie; Harry wollte sich am liebsten gar nicht bewegen, aber er hob die Hände, nahm den Tee und trank einen Schluck; er war so heiß, dass er das Gefühl hatte, sich die Zunge und den Hals verbrannt zu haben, aber er fühlte sich ein bisschen gestärkt.
„Harry, fühlst du dich wohl genug, um uns zu erzählen, was geschehen ist?“, wollte Mr Weasley wissen; er zog seine Frau weg von Harry, als könnte er sie so davon abhalten, sich einzumischen, aber wenn er das dachte, irrte er sich.
„Nein, natürlich nicht!“, rief sie und riss sich von Mr Weasley los. „Er muss jetzt erst einmal schlafen, ich vermute, er hat noch kein Auge zugetan! Genauso wie der Rest der Familie, wir haben alle nicht geschlafen –“
„Ach was, und was ist mit Fred und mir?“, unterbrach sie George. „Wir haben bereits selig davon geträumt, Snape in den hässlichen Hintern zu treten, als du uns aufgeweckt hast!“
Aber Mrs Weasley hörte gar nicht zu. „Es wird uns nicht weh tun, erst morgen zu erfahren, was mit Harry passiert ist –“
„Vielleicht doch“, entgegnete Mr Weasley. „Vielleicht ist es morgen schon zu spät. Bitte, Harry, erzähl uns, was geschehen ist.“
Harry nahm einen weiteren Schluck des heißen Tees. Er spürte die Augen aller auf sich, richtete seine eigenen auf den Boden, und begann dann zu sprechen.
„Wo soll ich anfangen? Soll ich nur über Scrimgeour und Umbridge sprechen, oder auch über das, was davor war?“
Er schämte sich für das, was geschehen war. Er war selbst schuld daran, er war weggerannt, er war dumm gewesen …
„Sag uns einfach alles, was dir wichtig erscheint.“ Mr Weasley klang nicht neugierig, seine Worte hörten sich auch nicht wie ein Befehl an; Harry verstand, dass die Informationen, die er verlangte, tatsächlich wichtig sein könnten.
Als er aber erzählte, was passiert war, ließ er Dumbledores Briefe und das, was er in Mrs Figgs Haus beobachtet hatte, aus. Er begann mit dem unbekannten Mann, den er für einen Todesser hielt; redete von der Entführung durch den Werwolf („Der ist mir damals nicht wie ein angehender Todesser vorgekommen“, meinte Mr Weasley schockiert), und berichtete schließlich, was Scrimgeour verlangt hatte, und wie Umbridge ihn gefoltert hatte.
„Sie hat schon wieder den Cruciatus-Fluch angewandt, wie damals an der Schule?“, fragte Hermine angewidert.
Harry nickte. „Und Scrimgeour hat zugesehen. Das hätte ich nicht erwartet.“
„Ich auch nicht“, pflichtete Mr Weasley bei. „Und ich glaube nicht, dass es da mit rechten Dingen zuging.“
„Soll das heißen …“ Harry runzelte die Stirn. „Soll das heißen, Sie denken, das war gar nicht Scrimgeour?“
„Möglicherweise.“ Mr Weasley nickte. „Oder er stand unter dem Imperius-Fluch …“
„Oder er will Harry so dringend auf seiner Seite, dass ihm jedes Mittel recht ist“, wandte Bill ein. „Ich trau ihm das zu.“
„Aber um einmal auf den Mann zurückzukommen, Harry“, sagte Mr Weasley dann, „den Mann mit dem Zylinder, dem du begegnet bist – nun, das war –“
„Ich.“
Harry wandte sich erstaunt an Tonks. Sie starrte betreten zu Boden.
„Du?“, sagte Harry. „Wie meinst du das?“
„Ich sollte auf dich aufpassen.“ Tonks sprach sehr leise. „Es war Professor McGonagalls Idee und Mad-Eye hielt sie für gut. Ich hab mich in diesen Mann verwandelt – du weißt ja, ich bin ein Metamorphmagus – und sollte dich beobachten.“
Harrys Erschöpfung verschwand sofort. „Wie lang geht das schon so?“, fragte er.
„Ich pass auf dich auf, seit die Ferien begonnen haben. Der Orden -“
„- lässt mich beschatten? Ohne mir etwas davon zu sagen? Dachtet ihr, ich würde mich über zusätzliche Sicherheit nicht freuen?“
„Harry, nein!“ rief Hermine empört. „Harry, der Orden dachte nur, du solltest nichts davon wissen, damit du nicht versuchst, mit Tonks zu reden! Wenn Todesser dich tatsächlich auch beobachtet haben, hätten sie so etwas doch bemerkt!“
„Dann ging es darum, dass ich nichts Dummes mache? Dass ich nicht wieder alles versaue?“ Harry merkte, wie er wütend wurde, spürte, wie seine Stimme erneut zu zittern anfing; diesmal aber nicht, weil er sich zu schwach zum Reden fühlte, sondern aufgrund des Zorns, der in ihm aufkeimte; er wandte sich wieder an Tonks. „Da hast du aber ganz schön versagt, nicht wahr?“
Tonks sagte gar nichts mehr, blickte einfach nur schweigend zu Boden.
„Aber Harry, was hätte sie denn tun sollen?“, sagte Ron nach einer Weile.
„Ja, sie hat dir doch hinterher gerufen, dass alles in Ordnung ist, dass du nicht weglaufen sollst!“, beteuerte Hermine. „Du hast aber nicht zugehört, bist einfach weitergerannt –“
„Ein Todesser hätte auch behaupten können, es wäre alles in Ordnung“, sagte Harry, der immer noch Tonks anstarrte.
„Ein Todesser hätte dir einen Fluch hinterher geschickt“, sagte Mr Weasley; Harry wusste, dass er Recht hatte, aber das war ihm egal. Tonks‘ Verhalten kam ihm trotzdem stümperhaft vor, sie hätte sich zurückverwandeln und ihm hinterher apparieren können; er hätte dann zwar gedacht, sie würde ihn vor dem Todesser retten, aber wenigstens hätte er auch geglaubt, es wäre wirklich alles in Ordnung, er wäre in Sicherheit. Aber er sagte nichts davon; die Wut versank wieder, er wollte keinen Streit, er wollte es einfach nur genießen, wieder bei seinen Freunden zu sein.
Ein unerwartetes Geräusch ließ sie alle aufschrecken; jemand klopfte an die Hintertür.
„Das muss Alastor sein!“ Mrs Weasley lief zurück in die Küche.
„Vergiss nicht, vorher die Sicherheitsfrage zu stellen!“, rief Mr Weasley ihr hinterher.
„Wer ist da“, hörte Harry Mrs Weasley in der Küche fragen
„Moody.“ Das war unverkennbar Mad-Eye Moodys mürrische, aber laute Stimme.
„Die Sicherheitsfrage, Molly!“, wiederholte Mr Weasley.
„Ja, ja! Ähm – wie viele magische Augen sind dir kaputt gegangen?“
„Falls du’s genau wissen willst“, knurrte Moody, „gerade vorhin das siebte. Die Antwort, die du erwartest, wäre also sechs. Und was hat dein Bruder Gideon dir damals mit seinem Zauberstab aus Versehen in den Rücken gebrannt?“
„Den Umriss einer Fledermaus.“ Aber schon während sie das sagte, riss sie die Tür auf, wie Harry an dem lauten Knarren erkannte, das ihre Worte untermalte.
Im nächsten Moment humpelte Mad-Eye Moody, gefolgt von Mrs Weasley, bei der Tür herein, bei jedem zweiten Schritt das Geräusch von Holz, das auf Holz schlug. Weder sein falsches Bein, noch seine unvollständige Nase oder die vielen Narben in seinem Gesicht konnte Harry noch erschrecken, aber eines bereitete ihm Gänsehaut: Der Anblick der leeren Augenhöhle, in der für gewöhnlich Moodys großes magisches Auge steckte.
„Wie ist das passiert?“, fragte Mr Weasley sofort.
„Bei der Rückverwandlung war ich unvorsichtig“, antwortete Moody, wobei er sein gewöhnliches Auge auf Harry gerichtet hatte. „Das blöde Ding ist rausgefallen und auf dem Boden zerschmettert. Junge“, sagte er dann, „wir wollten dich heute doch ohnehin abholen! Wieso musst du es immer so eilig haben, hä?“
„Rückverwandlung?“, sagte Harry nur, ohne auf Moodys Frage einzugehen. Er verstand sofort, ohne genau zu wissen, wieso er es so plötzlich wusste. „Sie waren das. Dieser eine Auror in der Höhle, nicht wahr?“
„Ganz recht“, bestätigte Moody.
„Wieso haben Sie mich auch angegriffen?“, fragte Harry, und er klang beleidigter, als er beabsichtigt hatte.
„Hab ich nicht“, entgegnete Moody, der nun in eine Ecke des Raumes ging, den Stuhl dort griff, ihn an den Kamin heranzog, nur wenig entfernt von dem Harrys, und sich darauf niederließ. „Ich hab dir einen Schutzzauber aufgehalst, der dafür gesorgt hat, dass dich die Flüche der anderen nur schocken und jeder anderen Effekt, den sie haben sollten, nicht wirkt. Sei froh, dass ich das getan habe, einer wollte dir einen Finger abhexen. Genau dafür hab ich den Trank auch eingenommen: Ich sollte aufpassen, dass dir nichts passiert, wenn das Ministerium sich entscheidet, dich mal wieder zu nerven. Als wir heute plötzlich erfahren haben, dass du verschwunden bist, haben wir erstmal angenommen, dass das Ministerium dahinter steckt – auf die Schnelle ist uns nichts Besseres eingefallen, als mich in einen der Auroren zu verwandeln und Scrimgeour auf Schritt und Tritt zu folgen; wir sind uns sicher gewesen, dass der dich persönlich in die Mangel nehmen will. Damit haben wir auch Recht gehabt, auch wenn wir falsch geraten haben, was dein Verschwinden betrifft.
Aber eines sag ich dir, Harry“, fuhr Moody fort, und etwas zog sich über sein Gesicht, das entweder ein wohlwollendes Grinsen, oder eine saure Miene war; bei den vielen Narben konnte man das nicht mit Sicherheit feststellen. „Du warst ganz schön überheblich. Richtige Auroren hätten so nicht mit sich reden lassen, und Scrimgeour hätte sie wohl nicht daran gehindert, dich zu verfluchen.“
„Sie haben aber auch ganz schön lange gebraucht“, erwiderte Harry unbeeindruckt. „Das hätten Sie doch gleich sehen müssen, dass ein einfacher Gegenfluch schon ausreicht.“
„Ich musste sicher gehen. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass dieser Werwolf Magie benutzt hat, für den man einen bestimmten Gegenzauber braucht.“
Magie benutzt … Bei diesen Worten kam Harry wieder das Bild von Tante Petunia und Mrs Figg in den Sinn, wie sie, die Hände zu einem Kreis geschlossen, an dem Tisch gesessen hatten … Harry verdrängte das schnell wieder, um dem Gespräch folgen zu können.
„Können wir Sylenart also wieder gehen lassen?“, erkundigte sich Mr Weasley.
„Mhm“, sagte Moody, und auf Harrys fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Das ist der Auror, von dem ich die Haare für den Vielsaft-Trank genommen habe. Der hat sehr große blaue Augen, deswegen war er natürlich perfekt dafür. Ich muss aber zugeben, nach der Verwandlung war es etwas schmerzhaft, das rechte Auge rauszunehmen, um es durch mein magisches zu ersetzen – das nächste Mal nehm ich Sylenarts Auge raus, bevor ich ihm ein Haar ausreiße.“
„Ich mach mich dann auf den Weg, um Sylenarts Gedächtnis zu modifizieren“, sagte Mr Weasley. „Alastor, wir müssen uns später mit Kingsley unterhalten über Scrimgeour. Ich sag ihm bescheid und wir treffen uns dann hier um sieben Uhr.“
„Dann kann ich auch gleich hier bleiben“, meinte Moody, während Mr Weasley sich bereits verabschiedet hatte und den Fuchsbau durch die Tür verließ, durch welche Moody eingetreten war. „Molly, wärst du so nett und würdest mir auch eine Tasse Tee bringen?“
„Natürlich“, sagte Mrs Weasley, bevor sie sich an Harry wandte. „Und du gehst jetzt rauf und ruhst dich aus. Ron, Ginny, Hermine, das gilt auch für euch.“
„Bevor Harry geht, hab ich noch eine Frage an ihn“, warf Moody ein; alle Augen richteten sich auf ihn. „Harry, kam es dir so vor, als wärst du dem Werwolf rein zufällig in die Arme gelaufen?“
Harry dachte über die Frage nach, bevor er antwortete. „Ich bin mir ziemlich sicher. Er hat so gesprochen, als wäre er selbst total überrascht gewesen – positiv überrascht, natürlich. Er hat gemeint, er hätte Greyback einen Ruf geschickt und er müsste bald bei ihm angekommen sein … was das wohl bedeutet?“
„Der Ruf des Werwolfs“, sagte Hermine; Harry war nicht überrascht, dass sie eine Antwort parat hatte. „Werwölfe können in ihrer eigenen Sprache – Geheule und Gebelle und so weiter – miteinander kommunizieren. Wenn ein Werwolf einen anderen ruft, dann steht natürlich nicht fest, dass der andere ihn hört, daher gibt der Werwolf, der dem rufenden am nächsten ist, den Ruf weiter, der gibt ihn wieder weiter und das machen sie so lange, bis der es hört, für den der Ruf bestimmt ist. Deshalb hat der Mann gesagt, der Ruf müsste bald bei Greyback angekommen sein – er hat wohl gemeint, er müsste bald bis zu Greyback weitergegeben worden sein.“
„Das können Werwölfe auch in ihrer Menschengestalt?“, fragte Ron, sein Ton zum Teil ehrfürchtig, zum Teil geschockt.
„Wenn sie sich in ihrem Dasein als Werwolf wohl genug fühlen, so wie zum Beispiel dieser furchtbare Greyback, dann ja.“
„Aber der klang nicht gerade so begeistert“, meinte Harry. „Er hat sich darüber beschwert, dass niemand für Werwölfe da ist – außer Voldemort.“
„Dennoch hat er sich wahrscheinlich so eingefunden in seiner Haut“, sagte Moody, „dass er auch in Menschengestalt ein richtiger Wolf ist. Vielleicht jagt er einfach gerne. Aber um zurück zum eigentlichen Thema zu kommen – du bist sicher, dass er dich nur zufällig gefunden hat?“
„Ja“, sagte Harry. „Denkst du etwa, Voldemort hat den Mann auf mich angesetzt? Hätte er dann nicht einen Todesser geschickt?“
Moody hob die Augenbrauen (was die leere Augenhöhle noch angsteinflößender aussehen ließ). „Der Werwolf war also tatsächlich keiner? Ich hab mir das schon gedacht, denn dann hätte er wohl gleich Voldemort gerufen mit dem Dunklen Mal.“
„Er will einer werden und dachte, wenn er mich Voldemort übergibt, würde er zu einem gemacht werden.“
„Und damit hat er wahrscheinlich Recht“, ergriff Mrs Weasley mit wütender Stimme das Wort. „So, wir sehen also, dass der Werwolf dort war, war reiner Zufall, wir müssen uns keine Sorgen machen, dass so etwas noch einmal passiert – könnten wir jetzt also endlich aufhören, uns darüber zu unterhalten – und könnten wir auch aufhören, den Namen von Du-weißt-schon-wem zu nennen? Danke und gute Nacht!“ Die letzten zwei Worte richtete sie an Harry, Ron, Hermine und Ginny.
„Wir müssen zurück in unseren Laden, in einer Stunde machen wir auf“, sagte Fred zu George. Die beiden verschwanden wie zuvor Mr Weasley in der Küche und verließen das Haus durch die Hintertür.
„Ich warte, bis Dad mit Kingsley zurück ist“, wandte sich Bill an Fleur. „Wenn du willst, geh schlafen.“
„Non, isch möschte ‘ier bleiben“, entgegnete Fleur, ihr schönes Gesicht voller Trotz. „Isch möschte auch auf Papa warten!“
„Ihr könnt tun, was immer ihr wollt!“, kreischte Mrs Weasley, so laut, dass Harry erschrak. „Aber die vier Jüngsten gehen jetzt auf der Stelle ins Bett!“
Harry, Ron, Hermine und Ginny taten, was Mrs Weasley von ihnen verlangte, während diese, wütend vor sich hinmurmelnd, in die Küche eilte, um noch mehr Tee zu kochen. Harry hatte Schwierigkeiten beim Aufstehen, seine Beine schmerzten ihm immer noch. Er vermutete, dass das eher mit der Lauferei als mit den Cruciatus-Flüchen zu tun hatte. Harry nickte Moody zu, sagte zu Bill und Fleur: „Bis morgen“ (Fleur küsste ihn zum Abschied auf beide Wangen) und zu Tonks: „Bis bald“, aber sie reagierte nicht; ihr Blick war immer noch zu Boden gerichtet. Es tat Harry Leid, wie er mit ihr gesprochen hatte – er war nicht wirklich wütend auf sie, aber er fand nicht die Worte, mit denen er ihr das hätte sagen können, also ging er einfach an ihr vorbei.
Auf dem Weg zu der Treppe, die hinauf in die oberen Stockwerke führte, stützte Harry sich an der Wand ab, und beim Erklimmen der Stufen musste sich Harry am Geländer festhalten.
Die Treppe entlang hangen an den Wänden angezündete Öllampen, die ihnen den Weg erhellten. Am dritten Stock wünschten Harry und Ron Ginny und Hermine, die in Ginnys Zimmer schlief, eine gute Nacht. Harry blieb noch kurz stehen und betrachtete die Stelle, an welcher er die Spitze von Ginnys flammendrotem Haar zuletzt gesehen hatte, bevor sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, bemerkte aber, dass Ron ihn beobachtete, und ging dann hastig weiter.
„Wie spät ist es denn eigentlich schon?“, wollte Harry wissen, nicht unbedingt, weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil er von dem peinlichen Moment ablenken wollte.
„Kurz vor sechs Uhr morgens“, antwortete Ron mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.
Harry konnte nicht umhin, überrascht zu sein. Er musste lange bewusstlos gewesen sein, bevor er im Ministerium aufgewacht war.
„Ist aber auch ganz schön dunkel für die Uhrzeit“, meinte Ron, als sie an einem Fenster vorbeikamen und er einen Blick nach draußen werfen konnte.
Er hatte Recht, fand Harry, es war ungewöhnlich finster. Das war aber nicht das einzige, was ihm auffiel – schon seit Tagen fragte er sich, was mit dem Nebel passiert war, der den ganzen letzten Sommer lang über der Erde gehangen hatte. Er war entstanden, weil die Dementoren Nachkommen gebrütet hatten, wie Harry wusste. Aber wieso war er nun verschwunden? Hatten die Dementoren aufgehört, zu brüten? War das möglicherweise die Ursache für die Dunkelheit, die nun herrschte?
Die beiden erreichten Rons recht kleines Zimmer, das sich direkt unter dem Dachboden befand. Neben dem Bett mit dem orangen Laken, auf welchem das Logo von Rons liebster Quidditch-Mannschaft, der Chudley Cannons, zu sehen war, lag ein Feldbett auf dem Boden.
„Wir haben das schon vorbereitet, weil du ja ohnehin bald kommen solltest“, erklärte Ron, während er hinüber zu seinem Schreibtisch ging, dort seinen Zauberstab nahm und eine Kerze damit anzündete; in Harry kam eine kleine Welle der Eifersucht hoch, einerseits, weil er seinen Zauberstab gar nicht bei sich hatte, andererseits, weil er noch gar nicht außerhalb von Hogwarts damit zaubern durfte.
Ron stellte die Kerze neben einem Käfig ab, in welchem eine winzige Eule aufgeregt umher hüpfte. Durch die Gitterstäbe steckte Ron einen Keks in den Schnabel der Eule. „Beruhig dich, Pig!“
„Hedwig ist noch bei den Dursleys!“, sagte Harry, dem plötzlich einfiel, dass er sie und all sein Hab und Gut im Ligusterweg zurückgelassen hatte.
„Dad holt sie und deine Sachen.“ Ron sah Harry mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht an, wie eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Mitleid. „Die Dursleys bringt er auch mit.“
Harry wäre auf dem Weg zu seinem Feldbett beinahe gestolpert. Er drehte sich zu Ron um und rief: „Was?“
„Er meint, sie wären nicht in Sicherheit dort, wo sie jetzt sind“, sagte Ron. „Dadurch, dass du sie das letzte Mal verlassen hast – und das hast du jetzt endgültig, oder willst du noch einmal zurück? – jedenfalls, dadurch ist der Schutzzauber gebrochen und die Todesser könnten deine Familie jederzeit überfallen. Versteh mich nicht falsch, nach allem, was diese Idioten dir angetan haben, können sie von mir aus gern draufgehen.“ Ron hob abwehrend die Hände, als wollte er eine schlimme Anschuldigung von Harry zurückweisen. „Aber du weißt ja, was für ein Muggel-Freak Dad ist. Und bis der Orden ‘ne Ahnung hat, was wir mit denen tun, kommen sie hier her.“
Harry war für einen kurzen Augenblick fast nach Lachen zumute; es würde den Dursleys sicher nicht gefallen, in einem Zaubererhaushalt leben zu müssen. Allerdings fand er die Vorstellung, er wäre sie immer noch nicht los, obwohl er bereits bei den Weasleys war und ihr Haus im Ligusterweg Nummer vier für immer verlassen hatte, so deprimierend, dass er nicht einmal die nächsten Worte verstand, die Ron sagte.
„Harry?“
„Äh, was? ‘Tschuldigung, hab dich nicht gehört. Was gibt’s?“
„Ich hab dich gefragt – also …“ Ron schien um die richtigen Worte verlegen; scheinbar auf der Suche nach ihnen warf er einen Blick aus dem Fenster, bevor er sagte: „Liebst du Ginny?“
Das hatte Harry nicht erwartet. Er spürte, wie er rot anlief, und wandte sich schnell ab. Was sollte er antworten? Sollte er ehrlich sein? Denn ja, er liebte sie. Aber wie würde Ron reagieren? Er hatte nichts gegen ihre Beziehung gehabt, aber er würde wohl lästige Fragen darüber stellen, warum er sich dann von ihr getrennt hatte …
„Tut mir Leid, vergiss es“, sagte Ron dann plötzlich und Harry drehte sich überrascht erneut um. Rons Ohren waren fast genauso rot wie sein Haar. „Ich hätte das nicht fragen sollen, das war unpassend, ich bin ein Trottel. Vergiss es.“
Dann ging er direkt an Harry vorbei auf sein Bett zu und ließ sich gänzlich angezogen darauf fallen, das Gesicht von Harry abgewandt.
Harry hielt es für besser, tatsächlich einfach zu vergessen, was Ron gefragt hatte. Um dies einfacher zu machen, beschloss er, das Thema zu wechseln, und mit Ron endlich über das zu reden, was ihn nun schon so sehr beschäftigte.
„Ich glaube, meine Tante hat versucht zu zaubern.“
Er hatte eindeutig Rons Interesse geweckt, denn sofort drehte er sich um und setzte sich in seinem Bett auf. Der Gedanke an seine Frage über Harrys Gefühle für Ginny schien wie weggefegt.
„Was?“
„Ich wollte bei Mrs Figg vorbeischauen – du weißt schon, meine Nachbarin, die Katzen so gerne hat.“
„Die Squib?“
„Ja, genau die. Ich hab mich – na ja …“ Harry wollte nicht, dass sich das, was er ausdrücken wollte, komisch anhörte. „Ich wollte mal wieder mit jemandem sprechen, der über die magische Welt bescheid weiß und diese nicht verabscheut. Von Angesicht zu Angesicht, du weißt schon, und nicht nur per Post.“
Ron schien zu verstehen, was Harry meinte, denn er nickte. Also fuhr Harry fort.
„Ich bin aber gar nicht reingegangen, als ich bei ihr angekommen bin. Ich hab was durch das Fenster gesehen, was mich davon abgehalten hat.“
Und er beschrieb genau, was seine Tante und seine Nachbarin getan hatten; dass eine Kerze gebrannt hatte, die beiden die Arme kreisförmig gehalten, die Hände des jeweils anderen umschlossen hatten. Die geschlossenen Augen, die nach hinten gelegten Köpfe …
„Klingt das nicht nach einem magischen Ritual?“, schloss er.
Zu Harrys großer Überraschung sah Ron ihn belustigt an.
„Was ist?“
„Nun“, sagte Ron grinsend, „für mich klingt das eher nach einem Gebet. Machen Muggel sowas nicht auch?“
Harry antwortete nicht. Hatte er ein Gebet mit Zauberei verwechselt? War er etwa so paranoid, dass er tatsächlich in etwas so Einfaches wie ein Gebet Magie hineininterpretieren konnte? Aber das war Schwachsinn – wieso sollte Tante Petunia zusammen mit Mrs Figg beten?
„Nein“, sagte er schließlich. „Nein, Tante Petunia mochte Mrs Figg nie besonders, die würde nicht extra zu ihr gehen, um mit ihr zu beten. Sie muss wissen, dass Mrs Figg mit der magischen Welt zu tun hat; ich glaube, dass die beiden gemeinsam zaubern wollten. Mrs Figg ist eine Squib, Petunia die Schwester einer Hexe. Ganz allein kriegt keine Magie hin, aber vielleicht haben sie gehofft, dass sie es zusammen schaffen.“
„Kann aber auch nicht klappen.“
„Das wissen die zwei ja nicht“, entgegnete Harry. „Was mich nur so verwundert, ist die Vorstellung, dass meine Tante … zaubern will. Sie hasst Magie!“
„Anscheinend nicht, wenn du Recht hast.“ Ron zuckte mit den Schultern. „Wir sollten morgen mal mit Hermine reden, vielleicht kann die uns erklären, was die beiden da getan haben.“
Harry nickte; mit Hermine zu reden hielt auch er für die beste Lösung. Aber wenn Mr Weasley ohnehin Tante Petunia hier her bringen würde, konnte er auch mit ihr selbst reden. Wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass er sie zusammen mit Mrs Figg gesehen hatte?
„Ich bin wirklich müde.“ Ron gähnte. „Lass uns jetzt einfach schlafen. Blast du vorher noch die Kerze aus?“
Nachdem Harry das getan hatte, legte er sich auf das Feldbett, wie Ron mit all seinen Klamotten. Nur die Brille nahm er ab und legte sie neben sich auf den Boden. Er hätte gerne gespürt, wie sein Zauberstab, den er sonst immer in seiner Hosentasche trug, sich gegen seinen Körper drückte, als er sich auf die Seite drehte, aber da war nichts. Er fühlte sich unwohl ohne ihn, auch wenn er ihn außerhalb von Hogwarts noch nicht benutzen durfte.
Hogwarts … würde es wiedereröffnen? Er hatte vergessen, einen der Weasleys oder Hermine zu fragen. Und selbst wenn die Schule nicht endgültig schloss nach Dumbledores Tod, würden er, Ron und Hermine zurückkehren? Geplant war, dass sie das nicht taten – aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Auch wenn sie die Horkruxe finden mussten, sie brauchten eine Basis, eine Art Hauptquartier, und wäre Hogwarts nicht gut dafür geeignet?
Das Medaillon … der Becher … die Schlange … etwas von Gryffindor oder Ravenclaw … Und er schlief.
Aber nicht lange. Die Sonne ging auf und vertrieb schließlich doch noch die elende Dunkelheit, ihr Licht fiel durch das Fenster von Rons Zimmer direkt auf Harry, drang durch seine Augenlider und riss ihn unangenehm aus dem Schlaf. Er wollte sich auf die Seite drehen und weiterschlafen, aber Pig (schlief der überhaupt jemals?) hatte scheinbar gesehen, dass er sich geregt hatte, und machte unglaublichen Lärm: Er kreischte aufgeregt, sprang umher und schlug mit ihrem Schnabel gegen die Gitterstäbe. Wütend tastete Harry neben dem Feldbett nach seiner Brille, setzte sie auf und wandte sich nach rechts. Wie erhofft baumelte Rons linke Hand von seinem Bett hinab und Harry konnte einen Blick auf seine Armbanduhr werfen: acht Uhr.
Die Eule wurde immer lauter. Harry stand auf, wobei er knurrte und vor sich hin murrte, von wegen er würde Ron bitten, seine Eule in den Keller zu stellen – doch als er sich die Augen gerieben hatte und er Pig aus dem Käfig lassen wollte, sah er, dass nicht er die Unruhe veranstaltete.
„Hedwig!“
Neben Pigs Käfig stand ein weiterer, und in diesem befand sich Harrys schneeweiße Eule Hedwig. Sie flatterte wild mit den Flügeln und sah Harry vorwurfsvoll mit ihren dunklen Augen an.
„Tut mir Leid, dass ich letzte Nacht nicht da war“, sagte Harry zu ihr, ganz leise, um Ron nicht aufzuwecken, der immer noch tief und fest schlief (und dabei laut schnarchte). „Mit dir alles okay?“
Hedwig gab nur ein indigniertes Gurren von sich und saß dann schweigend da, während Harry ihren Käfig öffnete. In dem nebenan sah der winzige Pig seine größere Artgenossin fasziniert an; er dürfte noch nie gesehen haben, dass eine andere Eule ebenso verrückt spielte wie er es oft tat. Pigs Augen waren so viel größer als sonst, dass sie Harry ein wenig an Professor Trelawney erinnerten, die Wahrsage-Lehrerin von Hogwarts.
Trelawney … Sie war es gewesen, die die Prophezeiung über ihn und Voldemort gesprochen hatte. Im großen Ganzen betrachtet war es letztlich sie, der er all das zu verdanken hatte – die verlorenen Eltern, die Narbe …
Hedwig gab ein weiteres entrüstetes Krächzen von sich und Harry schreckte hoch. Seine Gedanken hatten ihn schon wieder weggetragen, seinen Geist aus seinem Körper geholt, seine Konzentration genommen … So würde er die Horkruxe nie finden. Er musste aufhören, so viel nachzudenken. Das überließ er am besten einfach Hermine.
„Sei nicht so laut“, flüsterte er Hedwig zu, „sonst wacht Ron auf.“
Mit einem Klicken war ihr Käfig geöffnet. Hedwig flog an ihm vorbei, wobei sie ihm sanft ins Ohr knabberte, und aus dem Fenster hinaus in den Garten. Erst jetzt bemerkte Harry, dass das Fenster offen stand. Aber nicht nur das – sein Hogwarts-Koffer, geschlossen und – wie er hoffte – gefüllt mit all seinen Sachen, stand in der Ecke neben seinem Feldbett; frische Unterwäsche, eine Hose und ein Hemd – bestimmt von Mrs Weasley für ihn ausgewählt – hingen an einem Kleiderhaken, der über seinem Koffer mitten in der Luft schwebte. Und da, neben Hedwigs Käfig auf dem Schreibtisch war er. Sein Zauberstab.
Gesetz hin oder her – der Zaubereiminister hatte ihm in der letzten Nacht genug angetan, und er wusste, dass ohnehin niemand feststellen konnte, dass er zauberte – es könnte genauso gut jeder andere in seinem Umfeld sein, immerhin befand er sich in einem Haus voller Magier. Er packte den Stab, schwang ihn und öffnete Pigs Käfig, indem er „Alohomora“ sagte. Pig gurrte fröhlich und flog dann Hedwig hinterher.
Harry zog sich um, steckte den Zauberstab in seine Hosentasche und verließ dann Rons Zimmer. Als er die Tür wieder schloss, vernahm er weitere Geräusche, mindestens genauso laut und störend wie die, die Hedwig gemacht hatte. Der Ghul der Weasleys, der am Dachboden lebte, dürfte ihn gehört haben und aufgewacht sein.
Eilig lief Harry die Stufen hinab, damit der Ghul glaubte, dass niemand mehr da war und sich beruhigte. Als er im dritten Stock ankam, hielt er überrascht an: Die Tür zu Ginnys Zimmer stand einige Zentimeter weit offen.
Waren die Mädchen schon wach? Das wäre großartig – er wollte ohnehin mit Hermine sprechen, wie Ron vor etwa zwei Stunden vorgeschlagen hatte. Zwei Stunden – Harry konnte kaum glauben, dass er nur so kurz geschlafen hatte; er war zwar nicht besonders munter, aber sehr müde oder erschöpft fühlte er sich keineswegs.
Harry näherte sich der Tür, hob bereits die Hand, um leise anzuklopfen – und bekam dann ein paar Worte zu hören, die ihn anhielten und lauschen ließen.
„– kann es einfach immer noch nicht glauben!“, rief Hermine. Es war vielleicht nicht unbedingt das, was sie sagte, sondern vielmehr die Art, wie sie es aussprach, was ihn zum Zuhören brachte; sie klang so merkwürdig, so aufgebracht, so fassungslos, ungläubig, als würde irgendetwas nicht stimmen.
„Glaub es oder nicht“, kam Ginnys Antwort; sie klang trotzig, so, wie sie für gewöhnlich mit ihren Brüdern oder ihren Eltern sprach; nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu. „Was denn?“
„Nun …“ Jetzt kam es Harry so vor, als wollte Hermine nicht aussprechen, was ihr auf der Zunge lag; sie klang zurückhaltend, zögerte viel zu lange, weiterzureden. „Wenn ich ganz ehrlich bin“, sagte sie dann nach einigen Sekunden, „ich weiß ja, dass du gut lügen kannst.“
Ginny sagte nichts; sie schnaufte nur – und lachte dann.
„Dich würde ich nicht anlügen. Nur meine Mum und meinen Dad, wenn nötig – Dean und Micheal und all denen hab ich natürlich erzählt, ich würde Harry nicht mehr lieben –“
Harry verspürte einen schmerzlichen Stich, als er von „all denen“ hörte, aber das Letzte, was sie gesagt hatte, überschattete den Schmerz mit einem Glücksgefühl – sie hat Dean und Micheal und all ihre anderen Freunde belogen, als sie behauptet hat, sie würde ihn nicht mehr lieben; sie liebte ihn …
„– und manchmal belüge ich auch Fred und George. Aber dich? Du bist meine beste Freundin.“
„Aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen!“ Harry hörte ein lautes Fauchen; das war Krummbein. „Oh, entschuldige, Krummbein –“
„Dem ist nichts passiert, er ist nur sauer.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der Ginny das sagte, überraschte Harry; als wüsste sie besser als Hermine, was Krummbein dachte. „Katzen mögen es nicht, wenn ein Mensch einfach aufsteht, obwohl sie auf seinem Schoß liegen. Nicht wahr, Süßer?“
Krummbein schnurrte.
„Aber um noch einmal auf die beiden zurückzukommen“, ergriff Hermine wieder das Wort. „Wie können sie, so, wie sie aussehen, nicht –“
„Ach, Hermine, wir haben das schon so oft durchgekaut! Äußerlichkeiten kann man verändern. Aber ich denke, so viel Veränderung war gar nicht nötig – ihre Haare haben, glaube ich, die gleiche Farbe.“
„Du sprichst so abfällig von ihr – immer noch“, bemerkte Hermine.
„Tja, nach dem, was sie getan hat“, gab Ginny bloß zurück. „Komm, lass uns frühstücken gehen, ich hab einen Bärenhunger.“
Harry hörte Schritte näher kommen. Schnell riss er sich zusammen – sie durften nicht merken, dass er gelauscht hatte – und klopfte.
„Ja, wir kommen ja scho-“
Ginny stieß ihre Tür auf und verfehlte Harrys Nase nur deshalb, weil er rechtzeitig zurückwich. Als sie ihn erblickte, sprangen ihre Augen weit auf; sie erinnerte ihn für einen Moment an die Ginny, die einst jedesmal vor Schreck nichts hatte sagen können, wenn sie Harry getroffen hatte.
„Harry?“ Hermine erschien hinter Ginny, Krummbein in ihrem Armen; er sah aus wie ein großer, orangenfarbener, flaumiger Ball, sein Gesicht so flach, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. „Was tust du denn schon auf? Du musst doch völlig erschöpft sein.“
Krummbein wand sich aus Hermines Armen, sprang zu Boden und kam an Ginny vorbei zu Harry geschlichen. Während der Kater um Harrys Beine tänzelte, hatte Harry nur Augen für Ginny. Ron war nicht hier, Hermine würde es nicht stören … Sag ihr jetzt, was du immer noch für sie empfindest! Die Erinnerung an das, was er gerade heimlich gehört hatte, war wie weggeblasen, sein eigentliches Vorhaben, Hermine zu Tante Petunia zu befragen, spielte keine Rolle mehr …
„Warum hast du denn angeklopft?“
Harry hatte es nicht über sich gebracht; Ginny war die, die als erste gesprochen hatte.
„Ähm …“ Harry nahm die Augen von Ginny, zwang sich, Hermine anzusehen. „Ich wollte dich sprechen.“
„Mich?“ Hermine wirkte überrascht – natürlich, sie hatte sein Schweigen richtig interpretiert; hatte erwartet, er würde jetzt mit Ginny allein reden wollen …
„Dich“, wiederholte Harry. „Es ist wichtig.“
„Kein Problem, geht in mein Zimmer.“ Das waren zwar Ginnys Worte, aber Harry kaufte ihr nicht ab, dass es für sie „kein Problem“ war; sie war vielleicht eine gute Lügnerin, wie Hermine behauptet hatte, aber die Art, wie sie ihren Blick zu Boden wandte, verriet sie in diesem Moment.
Sie lief an Harry vorbei die Treppe hinunter, Krummbein sprang ihr ein wenig unbeholfen hinterher.
„Geht es um –“ (Hermine senkte ihre Stimme und beugte sich ein wenig nach vor) „– du-weißt-schon-was, Harry? Um sie?“
Für einen kurzen, verrückten Moment dachte Harry, sie würde die Personen meinen, über die sie eben mit Ginny gesprochen hatte; dann fiel ihm ein, wovon sie sprechen musste. Etwas, das, egal wie geheim das Thema auch war, über welches sich Ginny und Hermine unterhalten hatten, mit Sicherheit noch viel, viel geheimer war …
„Nein, nicht die Horkruxe“, sagte Harry, der, anders als Hermine, keine Probleme damit hatte, das Wort laut auszusprechen; wer sollte sie schon belauschen, hier im Fuchsbau? Obwohl, hatte er nicht gerade auch jemanden belauscht? …
„Worum geht es dann?“, wollte Hermine wissen, wiederum sehr überrascht, als hätte sie fest damit gerechnet, dass er etwas Neues über die Horkruxe herausgefunden hatte – als ob er das jemals ohne ihre Hilfe schaffen würde …
„Komm hier rein“, sagte Harry und zog Hermine mit sich in Ginnys Zimmer.
Er hatte es noch nie betreten; es sah ganz und gar nach Ginny aus. Die Wände waren in einem Gryffindor-Rot tapeziert, ein Poster der Holyhead Harpies, der einzigen rein weiblichen Quidditch-Mannschaft, hing an der Schrägwand über einem Bett; Decke und Polster waren ebenfalls rot, abgesehen von den vielen kleinen, schwarzen Katzenköpfen, mit denen sie bestickt waren. Neben diesem Bett stand ein Feldbett wie jenes, auf welchem Harry schlief; dieses war sicher für Hermine aufgestellt worden. In einer anderen Ecke neben einem großen Fenster, das von gelben Vorhängen fast ganz verdeckt war, befand sich ein Kleiderschrank, auf dessen Türen mit Magie ein Gryffindor-Banner (die Augen des Löwen glitzerten eindrucksvoll, als hätte Ginny sie mit einem Zauber dazu gebracht) und einige Bilder, die Ginny wohl als Kind gemalt hatte, befestigt waren. Auf der anderen Seite des Fensters stand ein kleiner Tisch, der vollgeladen war mit einer Menge an eingerahmten Fotographien. Harry sah mehrere Ginnys, manche jünger, andere älter, zusammen mit Mr und Mrs Weasley oder ihren Brüdern (nur Percy war auf keinem Bild), auf einem befand sich auch Hermine – und auf dem daneben fand Harry sich selbst, Arm in Arm mit Ginny. Das Foto hatte Colin Creevey letztes Jahr gemacht … Ein Quaffel, einer der Bälle für den Sport Quidditch, lag hinter den Fotos auf einer kleinen Erhebung. Harry und Ginny teilten ihre Leidenschaft für Quidditch; es würde wohl lange dauern, bis Harry wieder welches spielen würde …
„Also, was ist denn jetzt?“
Harry wandte sich von dem Quaffel und den Fotos ab. Hermine betrachtete ihn neugierig.
„Es geht um meine Tante“, begann Harry.
„Diese Dursley?“ Und wieder war Hermine überrascht; sie zog die Augenbrauen zusammen, legte die Stirn in Falten. „Die ist schon hier, denke ich, wieso redest du nicht mit ihr?“
Harry hatte vergessen – Mr Weasley wollte auch die Dursleys hier her bringen. Wenn er sie sehen würde, könnte er nicht an sich halten und würde sofort über die Briefe sprechen wollen … Aber in diesem Augenblick interessierte es ihn einfach zu sehr, was seine Tante und Mrs Figg da gemeinsam getan hatten. Er musste es wissen.
„Nein, das kann ich jetzt noch nicht“, sagte er. „Ich erklär’s dir später. Also, hör zu.“
Wie er es schon Ron erzählt hatte, berichtete er Hermine haargenau von dem, was er beobachtet hatte. Es war ihm diesmal sogar noch wichtiger, jedes Detail zu erwähnen – die Kerze, die Haltung der beiden, der Kreis, den ihre Arme geschlossen hatten. Vielleicht konnte Hermine etwas damit anfangen, ein magisches Ritual hinter einer dieser Einzelheiten erkennen …
„Tut mir Leid, aber das sagt mir nicht wirklich etwas“, sagte Hermine, nachdem er zu Ende erzählt und sie eine Minute lang geschwiegen hatte; Enttäuschung machte sich in ihm breit. „Nun, es gibt alte magische Rituale, die ähnlich ablaufen wie das, was du da beschreibst … Aber da fehlen klassische Elemente wie bestimmte Kräuter, Symbole, die mit Kreide auf den Tisch gezeichnet waren.“
„Kann sein, dass ich solche Dinge einfach übersehen hab!“, warf Harry ein.
Hermine schüttelte den Kopf. „Selbst wenn, Muggel und Squib können auch gemeinsam nicht zaubern. Da hätten ihnen Kräuter auch nichts gebracht.“
„Aber hältst du es für so unwahrscheinlich, dass sie es einfach versucht haben?“
„Nein“, erwiderte Hermine. „Keinesfalls. Aber auf diese Lösung bist du auch allein gekommen – wolltest du bloß, dass ich deine Gedanken bestätige? Oder hast du gehofft, ich könnte dir sagen, warum deine Tante ewig lang behauptet, sie würde Magie hassen, dann in Wirklichkeit aber selbst versucht, zu zaubern? Dann kann ich dir nicht helfen – ich kenn sie nicht.“
„Ich etwa?“, murmelte Harry seufzend.
„Wie bitte?“
„Ach, gar nichts.“ Dann räusperte er sich, ließ seine Augen ein letztes Mal über Ginnys Zimmer wandern – wer wusste, wann er es das nächste Mal sehen würde, wenn überhaupt jemals wieder? – und sagte dann: „Gehen wir auch frühstücken, mein Hunger ist mindestens genauso bärig wie der von Ginny. Und wenn meine Tante unten ist – dann sollte ich so schnell wie möglich zu ihr.“
Als Harry sich schon umdrehte, um das Zimmer wieder zu verlassen, bemerkte er, dass Hermine sich nicht bewegte. Er blieb stehen.
„Kommst du?“, fragte er.
„Ich – ja.“
Aber irgendetwas an dem Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn taxierte, als sie an ihm vorbei aus dem Zimmer ging, gefiel ihm nicht.
Während Harry hinter Hermine die Treppe hinunterlief, fragte er sich, warum er die Dursleys nicht hören konnte – von Zauberern entführt, wie sie es nennen würden, und in einem Haus eingesperrt, in dem es kaum eine gerade Linie gab, das so offensichtlich magisch war, dass sogar Harry gemeint hatte, als er es zum ersten gesehen hatte, es würde selbst Hogwarts in all seiner Magie übertreffen. Aber kein Laut war zu hören, kein Aufruhr, der auf seinen Onkel, seine Tante oder seinen Vetter hinwies.
Warum das so war, stellte er fest, als er das Wohnzimmer des Fuchsbaus erreichte. Er betrat nach Hermine den Raum, erkannte, dass sie stehen geblieben war und irgendetwas mit weit geöffnetem Mund anstarrte und folgte ihrem Blick – und auch ihm klappte die Kinnlade hinunter.
Vernon, Petunia und Dudley Dursley waren zwar hier, standen alle da in ihren Morgenmänteln, aber sie waren nicht fähig, sich aufzuregen. Obwohl es ganz danach aussah, als würden sie schreien, ihre Gesichter vor Angst verzerrt, ihre Münder und ihre Augen aufgerissen; Petunias Arme um den fetten Dudley geschlungen, obwohl sie nicht lang genug waren, um ihn ganz zu umschließen; Dudleys blonde Haare standen von seinem Kopf ab, als hätte er sich gerade wild bewegt und als hätten sie noch keine Zeit gehabt, sich wieder flach hinzulegen, wie sie es sonst immer taten, wie eine kleine Krone über seinem fetten Gesicht. Aber nicht nur die Haare sahen aus, als wären sie erstarrt – die Dursleys waren allesamt erstarrt. Onkel Vernon stand sogar auf einem Bein, was er ohne den Zauber, der auf ihm lag, wohl nie so lange geschafft hätte.
„Nur ein kleiner Erstarrungszauber.“
Moody war aus der Küche gekommen. Mittlerweile hatte er sich ein neues magisches Auge zugelegt; dieses war auf Harry gerichtet, während Moody mit seinem gewöhnlichen Auge auf die Dursleys blickte.
„Fürchterliche Menschen“, knurrte Moody. „Haben schon rumgebrüllt, als wir sie geholt haben. Kaum sind sie angekommen, hat dein Onkel schon angefangen, die Möbel zu zertrümmern – die Lampe und die Vase da hat Molly wieder reparieren müssen – und als sie dann gedroht haben, wegzulaufen, hab ich sie einfach erstarren lassen. Wenn du was dagegen hast“, fügte er hinzu, in seiner Stimme ein sarkastischer Unterton und ein Grinsen auf seinem narbigen Gesicht, „heb ich das gerne wieder auf.“
„Ich wünsche mir schon seit Ewigkeiten, dass sie endlich einmal einfach erstarren“, entgegnete Harry lächelnd. „Still – und am besten gleich zu Stein verwandelt – hab ich sie am liebsten.“
„Kann ich mir denken.“ Moody gab ein bellendes Lachen von sich, das Harry hochfahren ließ.
„Ein neues Auge?“, fragte Hermine in fasziniertem Tonfall; natürlich, sie hatte vorher nicht gewusst, dass Moody sein Auge ersetzen konnte, genauso wenig wie Harry, und logischerweise fand sie das interessanter als er.
„Nein“, antwortete Moody. „Bin drauf gekommen, dass das andere gar nicht ganz kaputt war, hat sich reparieren lassen. So, kommt jetzt – wenn ihr nicht frühstückt, bringt Molly euch um. Oder mich, weil ich euch aufhalte …“
„Nein, Halt“, sagte Harry, als Moody sich schon wieder umdrehen und in die Küche treten wollte. „Professor –“
„Wann wirst du endlich das mit dem Professor lassen?“
„Okay – ähm – Mr Moody –“
„Alastor.“ Moody schnaufte. „Oder, wenn du möchtest, gerne auch Mad-Eye.“
„Also – Alastor“, sagte Harry; auch wenn es ihm komisch vorkam, Moody bei seinem Vornamen zu nennen, fand er das immer noch besser, als ihn mit seinem merkwürdigen Spitznamen anzureden. „Vielleicht solltest du sie doch aus ihrer Erstarrung lösen – meine Tante zumindest. Es ist wichtig, ich muss mit ihr reden. Allein.“
Harry tauschte einen Blick mit Hermine, mit dem er ihr zu verstehen geben wollte, dass es um mehr ging als bloß um die Frage, warum Petunia sich mit Mrs Figg getroffen hatte. Er war noch nicht bereit, mit jemand anderem als seiner Tante über die Briefe zu reden, die er letzte Nacht gelesen hatte. Hermine schien sowohl zu verstehen, dass Harry noch anderes mit Petunia zu besprechen hatte als das, wovon sie wusste, als auch, dass es sich dabei um etwas – mehr oder weniger – Persönliches handelte, denn einerseits wirkte sie erstaunt, andererseits nickte sie entschlossen und eilte an Moody vorbei in die Küche.
Moody hatte währenddessen beide Augen auf Harry gerichtet; durchdringend fixierte er ihn, als wolle er in seinen Geist hineinblicken. Ob Moody Legilimentik beherrschte?
„Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, Junge“, sagte er dann, erstaunlich leise, „und ich werde dich auch nicht bitten, es mir zu verraten. Aber ich möchte dir nur versichern, dass du dem Orden mehr vertrauen solltest. Vor allem, was Dumbledore betrifft.“
„Es hat mit Dumbledore nichts zu tun“, log Harry; er wurde nicht rot – war er ein genauso hervorragender Schwindler wie Ginny es laut Hermine war? „Das, was ich mit meiner Tante besprechen muss. Heb bitte den Zauber auf.“
Moody hob die Augenbrauen. „Glaubst du nicht, dass du das selbst könntest? Ein einfacher Gegenzauber würde genügen.“ Dann zwinkerte er Harry zu und wandte sich um.
„Ich bin noch nicht volljährig!“
„Das Ministerium weiß ja nicht, dass du es bist, der hier zaubert“, entgegnete Moody und verließ das Wohnzimmer; er machte die Tür zur Küche hinter sich zu.
Wenn sogar Mad-Eye Moody dieses Argument überzeugend fand, dann brauchte sich Harry keine Gedanken mehr zu machen. Er nahm seinen Zauberstab aus der Hosentasche, richtete ihn auf die Küchentür und sagte: „Muffliato“. Er wollte nicht, dass die anderen ihm zuhörten. Dann zielte er auf Tante Petunia, in deren Augen mehr Angst steckte, als er je zuvor in ihnen gesehen hatte – sogar mehr als damals, als Harry die Schwester ihres Mannes aufgeblasen hatte, als die Weasleys durch den Kamin ihr Haus betreten hatten, oder als Dudley von den Dementoren angegriffen worden war, als sie aus Versehen verraten hatte, dass sie wusste, was Dementoren waren – und murmelte: „Finite.“
„– ist illegal, ich werde die Polizei –!“
Tante Petunia war ihre Lähmung losgeworden. Zitternd und kreischend führte sie den Satz fort, den sie gerufen hatte, bevor Moody sie verhext hatte. Als sie aber Harry erkannte, war sie sofort still, sah wieder aus, als wäre sie erstarrt, so sehr erschrak sie.
„Wo – wo kommst du her?“, stammelte sie dann, ihre Arme noch fester um Dudley schließend; sie betrachtete ihren Sohn, stolperte mit einem lauten Schrei zurück und rief: „WAS HABT IHR IHM ANGETAN?“
„Er ist nur erstarrt. Du warst auch erstarrt, ich hab das beendet und dir geht’s jetzt gut, oder?“, sagte Harry. „Verzaubert warst du. Wie hat es sich angefühlt?“
Sie drehte ihren Kopf wieder weg von Dudley und Harry zu, öffnete ihren Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, schloss ihn. Schließlich stotterte sie: „Ich – ich, ich weiß nicht, ich – ich habe nichts mitbekommen, ich – wieso fragst du so etwas? Was ist hier los? Harry, wir sind entführt worden, wir –!“
„Ihr müsst Mr Weasley und Mr Moody doch erkannt haben.“ Harry ließ sich auf den Stuhl sinken, auf welchem er schon nach seiner Ankunft im Fuchsbau gesessen hatte. „Und du musst gewusst haben, dass das Freunde von mir sind, warum sollten die dich entführen?“
„Tss!“, machte Petunia nur, erinnerte Harry mit diesem Geräusch an eine wütende Schlange; sie schloss ihren Sohn erneut in ihre Arme, schüttelte ihn, als würde ihn das aufwecken. „Von wegen! Euch kann man doch nicht trauen, keinem von euch! Weder deinen Freunden, noch deinen Feinden, der gesamten Sippschaft nicht, geschweige denn dir! Undankbares Kind …“
„Wenn du uns – also, meiner Sippschaft und mir – nicht traust, Tantchen“, erwiderte Harry, vollkommen ruhig, „wie kommt es dann, dass du dich mit Mrs Figg triffst? Heimlich, nachts?“
Harry betrachtete mit einer ungewohnten, grimmigen Genugtuung den Effekt, den seine Worte erzielt hatten. Petunia Dursley hielt erneut inne und bewegte sich nicht; hatte sich bis eben noch die Angst vor den Zauberern oder die um ihren Sohn in ihren Augen widergespiegelt, so war es jetzt eine ganz andere Angst. Harry konnte sie spüren, Tante Petunias Angst vor dem, was er wusste, wie einen kalten Wind, der ihm ins Gesicht wehte; und er konnte nicht umhin, dass ihm dieses Gefühl ein wenig gefiel – doch da war auch eine Stimme, die ihn daran erinnerte, dass das nicht das war, was er vorgehabt hatte. Er wollte Antworten haben – und wollte er die erhalten, indem er Angst verbreitete? Das klang ganz nach etwas, das Voldemort tun würde; nein, das wollte er nicht.
„Beruhig dich“, sagte er hastig; seine Tante hatte sich immer noch nicht geregt. „Sonst stirbst du noch vor Schock. Setz dich hin.“
Er wies auf ein Sofa direkt hinter ihr. Ungläubig sah sie ihn an, als würde sie nicht verstehen, wie er jetzt von ihr verlangen konnte, sich einfach hinzusetzen, sich zu beruhigen. Aber dann ließ sie Dudley los, schritt auf das Sofa zu, ließ sich hinein sinken. Sie blickte für eine Weile schweigend zu Boden; Harry unterbrach die Stille nicht, wollte darauf warten, dass sie etwas sagte. Als sie den Kopf wieder hob, sah Harry (mehr oder weniger überrascht) Tränen in ihren Augen glitzern.
„Ich habe geahnt, dass Mrs Figg auch etwas mit Magie zu tun hat.“ So zögerlich Tante Petunia auch sprach, so leise und zittrig ihre Stimme auch war, Harry glaubte, dass sie dieses Geheimnis, das sie ihm nun entblößen würde, nicht länger mit sich herumtragen wollte. „Damals, als Dudley von den Dementoren attackiert worden ist – kurz bevor ich die Türe geöffnet habe, ich bin überzeugt gewesen, Mrs Figgs Stimme gehört zu haben. Von diesem Tag an hab ich sie immer beobachtet, wenn ich die Chance dazu gehabt habe; ich habe sie dabei ertappen wollen, wie sie Magie anwendet, habe gewollt, dass mein Verdacht bestätigt wird. Und dann, eines Tages, als ich gerade vom Einkauf zurückgekommen bin, habe ich gesehen, wie eine Eule durch ihr Fenster flattert. Ich bin nicht sicher gewesen, ob sie einen Brief dabei gehabt hat, ich hab das nicht genau gesehen – es ist ja schließlich möglich gewesen, dass sich die Eule einfach in Arabellas Haus verirrt hat! Also habe ich mich hinter einem Postkasten versteckt und gewartet – und tatsächlich, sie hat die Eule wieder weggeschickt nach wenigen Minuten, diesmal definitiv mit einem Brief ans Bein gebunden!“
Harry hatte jetzt schon Kopfschmerzen; Tante Petunia hatte Verdächtigungen gegen Mrs Figg gehegt seit zwei Jahren, hatte Mrs Figg gerade beim Vornamen genannt – und hatte sich hinter einem Postkasten versteckt. Harry hatte Schwierigkeiten, bei dieser Vorstellung nicht laut loszulachen.
„Gleich am nächsten Morgen, als Vernon arbeiten und Dudley in der Schule gewesen ist –“ (sie warf ihrem Sohn und ihrem Mann einen traurigen Blick zu) „– habe ich sie auf die Eule angesprochen. Sie ist völlig schockiert gewesen, hat mit abwimmeln wollen. Ich habe nicht locker gelassen, hab sie gebeten, mir die Wahrheit zu sagen … Stimmt es eigentlich, dass sie eine Squib ist? Dass das bedeutet, dass sie nicht richtig zaubern kann?“
Harry nickte, woraufhin Petunia lächelte.
„Ah, also doch … Ich hab manchmal gedacht, sie hält mich nur zum Narren. Seltsam ist es mir immer vorgekommen … Ich vermute, du weißt, was wir getan haben, wenn wir uns getroffen haben?“
Harry antwortete nicht sofort, dachte eine Weile nach. Wusste er es?
„Nicht unbedingt“, sagte er letztlich. „Ich hab euch nur letzte Nacht durch das Fenster gesehen. Es hat ausgesehen, als ob … als ob ihr … zaubern würdet. Oder versuchen würdet, zu zaubern.“
Tante Petunia lächelte erneut. „Richtig geraten“, sagte sie, schloss die Augen, atmete tief ein und wieder aus. „Ja, wir haben versucht, zu zaubern. Lang vergessene magische Kräfte in uns wachzurufen, um genau zu sein.“ Sie stieß ein hohes, witzloses Lachen aus. „Sie als eine Squib, ich als die Schwester eine Muggel … Wir haben gedacht, vielleicht funktioniert es …“
Dann schwieg sie wieder, ihr Blick auf den Boden gerichtet. Als Harry erkannte, dass er vergeblich darauf wartete, dass sie weitersprach, ergriff er wieder das Wort.
„Habt ihr euch immer nachts getroffen? Wieso hat das von uns nie einer bemerkt? Onkel Vernon, Dudley oder ich?“
„Nein, nein, nicht nachts.“ Tante Petunia wedelte abweisend mit ihrer Hand. „Wenn du in deiner Schule, Dudley in seiner und Vernon in der Arbeit war, so wie damals, als ich Mrs Figg zum ersten Mal auf Magie angesprochen habe. Dann haben wir uns getroffen, bei ihr zu Hause. Sie hat mir gezeigt, was sie vom Hörensagen weiß, welche Zaubereien sie kennt. Es ist immer wieder wahnsinnig aufregend für mich gewesen.“
„Seit wann willst du schon zaubern können?“, fragte Harry, aufrichtig interessiert.
Tante Petunia seufzte. „Schon immer. Seit Lily das kann. Schon immer … Und ich hab auch schon vor Lily immer verheimlicht, wie sehr ich mir das wünsche. Ich hab so getan, als würde ich sie für einen Spinner halten, Lily und ihre Freunde; die Verrückten und ihren Neuzuwachs, Lily, hab ich ihr damals gesagt ...“
Konnte Harry da so etwas wie Reue in ihrer Stimme hören? War es möglich, dass es ihr heute Leid tat, was sie damals gesagt hatte?
Sie schluckte, sah Harry dann direkt an. „Du hast ihre Augen.“
Diesmal lachte Harry tatsächlich. „Viele haben mir das schon gesagt, aber dass ich das einmal von dir hören würde, hätte ich nicht gedacht.“
Das war eine äußerst seltsame Situation. Harry konnte sich nicht erinnern, jemals auf diese vertraute Art und Weise mit seiner Tante gesprochen zu haben.
„Nur, um das klar zu stellen“, sagte Petunia dann, als hätte sie seine Gedanken gelesen, „ich habe definitiv kein Interesse daran, Teil deiner Welt zu sein. Aber Magie ist eben etwas so Verführerisches … Es wäre so toll gewesen, wäre ich an Lilys Stelle nach Hogwarts eingeladen worden … Aber so musste ich meine Neugier vertuschen, mich im Verborgenen mit dieser schrulligen Frau treffen … Und Harry“, fügte sie hinzu, auf einmal hastig und ungehalten, „Harry, du wirst doch Vernon und Dudley nichts davon erzählen? Bitte, tu das nicht!“
„Natürlich nicht“, erwiderte Harry. „Wenn es nach mir gehen würde, würde ich euch alle drei sofort wieder in den Ligusterweg Nummer vier schicken
Dann stand sie plötzlich auf, kam auf Harry zu. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, als sie direkt vor ihm anhielt – dann steckte sie die Hand in die Tasche ihres pinken Morgenmantels und holte einen Bündel Briefe hervor.
„Als ich in der Nacht nach Hause gekommen bin und Vernon erzählt hat, dass du nicht da bist“, sagte sie und streckte Harry die Briefe von Dumbledore entgegen, „bin ich in dein Zimmer gegangen und hab die hier geholt. Nenn es Vorahnung, wenn du willst – da wär ich sogar stolz drauf –“ (sie zeigte ihm ein Lächeln von der Art, von der er nie erwartet hätte, dass sie es an ihn richten würde; nicht herablassend, nicht unecht, sondern ehrlich und – etwa sogar ein bisschen liebevoll?) „–, nenn es weibliche Intuition. Wenn das nicht genau dasselbe ist. Nenn es jedenfalls, wie du willst, aber auf jeden Fall hab ich geahnt, dass von den Briefen sonst niemand erfahren sollte. Und siehe da, nur wenige Stunden später reißen uns zwei Zauberer aus dem Schlaf. Was sagst du dazu? Hab ich Recht gehabt? Ist es gut, dass ich die Briefe bei mir versteckt habe?“
Harry nahm ihr die Briefe ab; er lächelte. „Sehr gut sogar, Tante Petunia.“
Sie nickte. „Gut – könntest du dann vielleicht endlich Dudley und Vernon aus ihrer Starre erlösen?“ Sie sah ihn flehentlich an.
„Gleich“, sagte Harry. „Versprochen – aber erst muss ich noch mit dir über die Briefe hier reden.“
„Können wir uns über die nicht später unterhalten?“ Tante Petunia machte ein saures Gesicht.
„Nein, es ist wirklich wichtig!“, rief Harry aufgebracht und stand nun ebenfalls auf; er war genauso groß wie Petunia. „Lebenswichtig! Du musst verstehen, dein Wissen hilft uns vielleicht, die Welt zu retten!“
„Was interessiert mich deine Welt?“, schnauzte ihn Tante Petunia an, die Augenbrauen zusammengezogen. „Ich hab dir doch gerade erklärt, sosehr mich das Zaubern auch fasziniert, deine Leute sind mir –“
„Nein, nicht nur meine Welt! Kapier das doch, es geht hier um die ganze Welt! Um meine, deine – unsere! Du weißt doch, Voldemort ist hinter mir her, aber nicht nur hinter mir, sondern auch hinter der Weltherrschaft! Wenn wir es nicht schaffen, ihn aufzuhalten, dann werden die zwei Fetten da hinten nicht nur erstarren, sondern wahrscheinlich ste-“
„Wage es nicht, die beiden zu beleidigen!“, schrie Petunia; sie schüttelte ihren Kopf so wild, dass sich ihr Haar aus dem Knoten löste, den sie gebunden hatte. „Heb den Zauber auf, hol sie aus ihrer Erstarrung!“
„Erst wirst du mir die Fragen beantworten!“ Harry spürte Zorn, unbeschreiblichen Zorn, heiß wie Feuer, in seinem Herzen wachsen. „Das ist ungeheuerlich wichtig!“
„Sag du mir nicht, was wichtig ist! Heb die Erstarrung auf!“
„Nein!“
„Du wirst jetzt auf der Stelle –“
„NEIN!“
Funken kamen aus der Spitze seines Zauberstabs geschossen, den er immer noch in der Hand hielt. Er und Tante Petunia blicken beide gleichermaßen geschockt auf das grüne und silberne Licht hinab, welches sich blendend hell bildete, aber keiner von ihnen schnell genug, um genau zu sehen, wie es mit unglaublich hoher Geschwindigkeit direkt auf Petunias Brust zusprang. Pures Entsetzen machte sich auf Petunias Gesicht breit, sie wurde von ihren Füßen gehoben, nach hinten geschleudert. Harry wollte die Hand ausstrecken, sie festhalten, schaffte es aber aus irgendeinem Grund nicht. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen fiel sie gegen das Sofa, auf welchem sie gesessen hatte, und riss es mit sich nach hinten, angetrieben von dem Lichtstrahl, zu dem die Funken aus Harrys Zauberstab mittlerweile geworden waren, der wie eine Verbindung zwischen Zauberstab und Tante Petunia in der Luft hing. Das Sofa landete auf dem Boden, aber Petunia fiel weiter, an den erstarrten Körpern von Vernon und Dudley vorbei, bis sie gegen die Wohnzimmerwand polterte, ihr geschockter Blick immer noch auf Harry gerichtet. Ein Knacksen war zu hören, als hätte sie sich etwas gebrochen; dann verschwanden die Lichtfunken und Petunia sackte am Boden zusammen.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel