von Wizardpupil
Als Harry am Morgen aufwachte, war es immer noch recht früh, erst sieben Uhr, und Hedwig schlief mit ihrem Kopf unter einem Flügel in ihrem Käfig.
Harry stand auf, ging zu seinem Schrank, dessen Tür er gestern, wie er nun bemerkte, offen gelassen hatte, und zog sich um. Als er – die Brille wieder auf der Nase – sein Zimmer verlassen wollte, hörte er ein Geräusch, das er dank jahrelanger Erfahrung als das Rascheln von Eulenflügeln erkannte, bevor er sich umdrehte.
Eine braune Schleiereule war durch sein Fenster geschwebt und landete gerade elegant auf der Lehne seines Schreibtischstuhls. Hedwig erwachte sofort und warf der Schleiereule empörte Blicke zu – offenbar fand sie es unerhört, dass ein so schöner Vogel im Zimmer ihres Besitzers war. Sie bäumte sich zu voller Größe auf und schuhute mit verletztem Stolz, als Harry der Schleiereule über das Gefieder streichelte, bevor er ihr den Brief abnahm, der mit einer blassblauen Masche an ihren Fuß gebunden war.
Der Umschlag war blendend weiß und Harrys Adresse war mit edlem goldenem Schriftzug darauf aufgetragen. Harry öffnete den Brief neugierig, obwohl er sich schon denken konnte, worum es sich dabei handelte. Sein Verdacht bestätigte sich, als er las, was in derselben goldenen Schrift wie auf dem Umschlag da geschrieben stand:
schließen den heiligen Bund der Ehe am 27. Juli 1997 um 17.30
im Fuchsbau bei Ottery St. Catchpole.
Fleur und William würden sich beide freuen,
wenn Sie, Mr Potter, an dieser Hochzeit teilhaben würden.
u.K.w.g. bis zum 25. Juli 1997:
Ich komme und freue mich
Ich komme nicht, aber es tut mir Leid
Ich komme, aber habe keine Lust
Ich komme nicht und zwar freiwillig, weil ich nicht möchte
Die Hochzeit von Bill und Fleur – ein Ereignis, auf das er sich schon eine ganze Weile lang freute. Am siebenundzwanzigsten Juli also ... das dauerte ja noch ein wenig; aber vielleicht würde man ihn schon früher abholen.
Aber da fiel Harry eines ein – sollte er nicht bis zu seinem Geburtstag hier bleiben? Er wusste nicht, ob es gut war, dass er den Ligusterweg Nummer vier noch vor dem einunddreißigsten Juli verlassen würde. Allerdings wollte er in jedem Fall die Hochzeit miterleben; außerdem, wenn es irgendwelche Probleme machen würde, dass er nicht bis zu seinem Geburtstag im Haus der Dursleys blieb, dann würde der Hochzeitstermin doch sicher erst für den August festgelegt werden?
Als Harry bemerkte, wie arrogant diese Überlegung war, beschränkte er sich lieber darauf, dass er wohl keine Einladung bekommen hätte, wenn er bis zu seinem Geburtstag bleiben müsste.
Obwohl Harry nur raten konnte, vermutete er, dass „u.K.w.g.“ so viel bedeuten sollte wie „um Kreuzen wird gebeten“, also nahm er die Feder von seinem Schreibtisch und zeichnete neben „Ich komme und freue mich“ ein Kreuz. Über die merkwürdigen Antwortmöglichkeiten wunderte er sich nicht; es konnte ihn nur noch wenig in der Zaubererwelt schockieren.
So war er auch nicht überrascht, als die anderen Antwortmöglichkeiten verschwanden und unter dem von ihm angekreuzten Satz stattdessen weiterer Text erschien:
Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie daran auch teilnehmen wollen.
u.K.w.g. bis zum 25. Juli 1997:
Ich nehme an dem Festessen teil und freue mich
Ich nehme nicht daran teil, aber es tut mir Leid
Ich nehme daran teil, aber nur weil ich wahrscheinlich Hunger haben werde
Ich nehme daran nicht teil, aber freiwillig, weil ich nicht möchte
Ich habe vorher eine falsche Antwort angekreuzt und möchte das beheben, bevor ich diese Frage beantworte
Harry kreuzte „Ich nehme an dem Festessen teil und freue mich“ an. Wiederum verschwanden die restlichen Antwortmöglichkeiten.
Fleur und William (Bill)
stand nun am Ende des Briefes.
Als Harry wieder aufblickte, saß die Schleiereule immer noch auf dem Stuhl und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ähm – das hast du super gemacht“, sagte Harry und streichelte erneut das Gefieder der Eule. Diese brüstete sich vor Stolz, breitete dann anmutig ihre Flügel aus und schwebte zurück durch das Fenster hinaus.
Auf Hedwigs vorwurfsvollen Blick hin murmelte Harry: „So eine Angeberin.“ Von diesem Kommentar scheinbar zufriedengestellt, klapperte Hedwig zustimmend mit dem Schnabel, sprang aus ihrem geöffneten Käfig und flog der Schleiereule hinterher in den neuen Tag hinaus.
Harry machte sich währenddessen auf den Weg hinunter in die Küche, wo er auf Tante Petunia traf, die, eine Schürze umgebunden, das Frühstück vorbereitete. Als sie ihn erblickte, tat sie (wie so oft) so, als hätte sie ihn nicht gesehen. Sie warf einfach nur ihren Kopf hoch, sodass ihr ohnehin schon sehr langer Hals noch länger aussah und schritt an Harry vorbei zu der Spüle.
„Dir auch einen guten Morgen“, sagte er, als er sich am Küchentisch niederließ. „Was gibt’s zum Frühstück?“
Petunia hatte ihm den Rücken zugewandt und stand über die Spüle gebeugt da; sie antwortete nicht. Obwohl dies nichts Neues war, hatte Harry das Gefühl, dass etwas nicht stimme – Petunia wusch sich zwar oft sehr lange die Hände, aber für gewöhnlich drehte sie dafür auch den Wasserhahn auf.
„Ähm – Tante Petunia, ist irgendetwas?“
Harry hörte sie seufzen, dann drehte sie sich mit entschlossener Miene zu ihm um, öffnete den Mund zum Sprechen – und in diesem Moment kam Onkel Vernon in die Küche, mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen unter seinem dichten Schnurrbart, das allerdings verschwand, als er Harry erblickte.
„Du schon wieder“, brummte Vernon.
„Ich wohn ja auch hier“, gab Harry zurück.
„Ja, noch.“ Die Erinnerung, dass Harry bald ausziehen würde, trieb das Lächeln zurück auf sein Gesicht. „Also, Junge, falls es dich interessiert –“
„Nein, tut es nicht, außerdem wollte mir Tante Petunia gerade etwas erzählen“, sagte Harry, aber Onkel Vernon hörte ihm nicht zu.
„– ich werde heute Gäste empfangen und hoffe stark auf einen neuen Auftrag“, fuhr Vernon fort. Dies erklärte Harry, warum sein Onkel so fröhlich ausgesehen hatte, als er die Küche betreten hatte; alles, was mit seiner Bohrmaschinenfirma zu tun hatte, machte ihn glücklich. „Jedenfalls wirst du den Abend in deinem Zimmer verbringen – und diesmal wirst du gefälligst nicht zaubern! Du bist noch nicht volljährig, vergiss das nicht.“
„Ich hab damals nicht gezaubert, als die Masons hier waren, das war ein Hauself.“
„Ein – ich –“, stammelte Onkel Vernon. „Denkst du, das interessiert mich? Dann wirst du eben dafür sorgen, dass dich heute kein Hauself besucht, und auch keiner deiner Freunde aus dieser Irrenschule, und erst recht nicht dieser alte Mann, der vor einem Jahr einfach eingebrochen ist!“
„Er ist nicht eingebrochen“, sagte Harry wütend – er tat es zwar nicht bewusst, aber er stand sogar auf. „Beleidige nicht Albus Dumbledore, verstanden! Außerdem kann er gar nicht kommen“, fügte er kleinlaut hinzu. Er schluckte, um sich darauf vorzubereiten, es auszusprechen – nicht, weil es ihn interessierte, ob die Dursleys es erfuhren; er hoffte, dass es erträglicher wurde, je öfter er es sagte. „Er ist tot.“
Harry erschrak, als daraufhin ein lautes Klirren zu hören war. Petunia, die gerade einen Teller aus einem Wandschrank holen wollte, hatte diesen Teller fallen gelassen, und er war am Boden zerborsten. Sie drehte sich zu Harry um, mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
„Petunia, Schatz! Ist alles in Ordnung?“, fragte Vernon seine Frau besorgt.
Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete, aber schließlich sagte sie: „Ja – ja, ich hole nur schnell einen Besen ...“
Sie verließ die Küche. Vernon sah ihr hinterher, zuckte dann aber mit den Schultern und setzte sich gegenüber von Harry an den Küchentisch. Er schnappte sich die Zeitung, die dort lag, und verschwand hinter ihr, darauf wartend, dass seine Frau zurückkehrte, um ihm Frühstück zu machen.
Harry aber war in Gedanken versunken. Erst hatte ihm Tante Petunia etwas erzählen wollen, und dann war ihr ein Teller hinuntergefallen, als er gesagt hatte, dass Dumbledore tot war. Schon vor zwei Jahren hatte sie sich recht merkwürdig verhalten, als sie offenbart hatte, dass sie wusste, was Dementoren sind. War sie nun vielleicht endlich bereit, ihm zu sagen, was ihr Geheimnis war?
In diesem Moment kam Petunia mit Besen und Schaufel wieder in die Küche, scheinbar bemüht, Harry auf keinen Fall anzusehen. Sie stolzierte an ihm vorbei zu den Scherben am Boden und begann, sie aufzukehren.
„Schon wieder sind Leute verschwunden“, sagte Vernon hinter seiner Zeitung. „Mrs Cecilia Fortinson aus Little Hangleton, Mr und Mrs Krinster aus London, Dennis Bishop aus Wales, Severus Snape aus Bristol –”
Harry erhob sich blitzartig aus seinem Stuhl. Er hörte, wie Petunia hinter ihm einen weiteren Teller fallen ließ, diesmal aber wohl, weil er seinen Sessel umgeworfen hatte. Vernon riss vor Schock die Zeitung in der Mitte auseinander.
„Bei Gott, Junge, was denkst du dir denn!“, keifte Vernon mit purpurnem Gesicht. „Willst du, dass deine Tante und ich einen Herzinfarkt erleiden?“
Unter anderen Umständen hätte Harry gesagt, dass ihm dies nur recht wäre, aber in diesem Moment schnappte sich Harry die beiden Zeitungshälften und suchte nach Snapes Namen. Er fand ihn in einem kleinen Artikel in der Mitte der rechten Hälfte.
Ebenfalls vermisst wird Severus Snape, 38, aus Spinner’s End 39, Bristol. Er ist der Sohn des kriminellen Tobias Snape, der mehrmals wegen Einbruchs angeklagt worden war und in Bristol dafür bekannt ist, zu Lebzeiten täglich im betrunkenen Zustand Aufruhr veranstaltet zu haben. Severus Snapes Mutter, Eileen Snape, wurde schon vor zwei Jahren als vermisst gemeldet. Severus Snape konnte nie erfolgreich mit dem Verschwinden seiner Mutter in Verbindung gebracht werden.
Harry war sich sicher, dass Snape seine Mutter hatte verschwinden lassen, vermutlich sogar getötet hatte. Dies interessierte ihn im Moment aber gar nicht – vielmehr fragte er sich, wieso von Snape in einer gewöhnlichen Muggelzeitung berichtet wurde.
„Gib das gefälligst wieder her“, bellte Vernon, dessen Schnurrbart vor Zorn zitterte. Er riss die Zeitungshälften aus Harrys Händen. „Ja, an diese Snapes kann ich mich noch erinnern, sowohl an diesen Trunkenbold, als auch an das Verschwinden seiner Mutter, das kam damals alles in der Zeitung ... in Spinner’s End hast du doch auch gewohnt, Petunia, als du noch jung warst, nicht wahr? Hast du ihn gekannt?“
Harry wandte sich mit offenem Mund zu Petunia um, die ihn mit flehendem Blick ansah – als wollte sie ihn bitten, nicht zu erwähnen, dass Severus Snape ein Zauberer war ... sie wusste es ...
Dieser überaus merkwürdige Moment zwischen Harry und Petunia (von dem Vernon überhaupt nichts mitbekam) wurde unterbrochen, als Harry zum zweiten Mal an diesem Tag das Geräusch hörte, das er unfehlbar als flatternde Eulenflügel erkannte. Diesmal aber waren es gleich zwei Eulen – eine Schleiereule, sehr ähnlich der, die vorhin Harry seine Hochzeitseinladung geschickt hatte, und Rons Eule Pig –, die durch das offene Fenster in der Küche geflogen kamen.
„Eulen!“, schrie Vernon, der seine Versuche, die Zeitung ohne Klebeband wieder zu reparieren, aufgab. Wieder mit hochrotem Kopf blickte er von den Eulen zu Harry. „Spinnen die, dir Post direkt in unsere Küche zu liefern?“
Harry aber hatte den beiden Eulen schon ihre Briefe abgenommen (zu seiner Überraschung stellte er fest, dass der Brief der Schleiereule mit demselben blassblauen Band befestigt war, wie seine Hochzeitseinladung), die Schleiereule (die ähnliche Wünsche zu haben schien wie die, die Harry schon vorhin besucht hatte) gelobt und gestreichelt, bis sie endlich davonflog, und dem winzigen Pig erlaubt, sich auf seiner Schulter auszuruhen. Dann las er die Beschriftung des Briefs, den die Schleiereule gebracht hatte – und erstarrte vor Erstaunen.
„Der – der ist an euch adressiert“, sagte er ungläubig und sah von seiner Tante zu seinem Onkel – dann brach er in lautes Gelächter aus.
„Was ist denn so witzig?“, schrie Vernon, der den Gedanken, einen Brief per Eulenpost zu bekommen, wohl eher beängstigend als belustigend fand.
„Nichts – nur, dass sie wohl glauben, ihr wollt vielleicht zur Hochzeit kommen“, presste Harry hervor, als er sich einigermaßen beruhigt hatte, aber sein Lachen war noch nicht ganz erstickt. „Zwei Freunde von mir heiraten – Mrs Weasley muss wohl gedacht haben, es wäre unhöflich, euch nicht einzuladen. Aber lies selbst.“
Harry warf den Brief – immer noch lachend – in Onkel Vernons Schoß. Dieser erschrak und warf die Hände in die Höh. Es war erstaunlich, zu sehen, dass dieser große Mann Angst vor einem Brief hatte. Mit einem heftigen Schlag fegte Vernon den Umschlag von seinem Schoß.
„ICH WERDE AUF KEINEN FALL ZU EINER HOCHZEIT VON DEINEM PACK GEHEN!“, brüllte er; sein Gesicht war noch dunkler als bisher, sein Schnurrbart zitterte und wackelte so stark wie noch nie. „DASS DIESE LEUTE ÜBERHAUPT HEIRATEN! SIE BESCHMUTZEN DIE HEILIGKEIT UNSERER ZEREMONIEN, DIESE – DIESE ...“
Aber Harry hörte schon gar nicht mehr zu. Er hatte sich Rons Brief zugewandt.
Harry,
ein paar Mitglieder des Ordens kommen morgen, um dich abzuholen. Es wird gar nicht so einfach, dies zu tun, ohne dass Du-weißt-schon-wer etwas bemerkt – der Orden scheint besorgt zu sein, dass der Ligusterweg von Todessern bewacht wird.
Halt die Ohren steif, wir sehen uns!
Ron
Obwohl ihn die Neuigkeit, dass Voldemort Harry bewachen ließ, nicht überraschte, war er dennoch schockiert zu hören, dass auch der Orden dies befürchtete. Dies war einfach nur eine Bestätigung für Harry, dass es wohl an der Zeit war, Angst zu bekommen ...
„Ich treffe mich jetzt auf einen Tee mit Yvonne“, sagte Petunia kurz angebunden und unterbrach das Geschrei von Vernon, das bis jetzt angehalten hatte. „Erwarte mich nicht vor heute Abend, Vernon.“
Ohne daran zu denken, die Schürze auszuziehen, eilte sie aus der Küche, zog sich Schuhe an und verließ das Haus. Erst als sie die Eingangstür hinter sich schloss, schien Vernon zu verstehen, was gerade passiert war.
„Ähm – und ... und wer macht jetzt Frühstück?“ Sein Blick fand Harry. „Du, Junge, mach Frühstück. Und kehre die restlichen Tellerscherben zusammen, deine Tante scheint das vergessen zu haben.“
Tatsächlich kehrte Tante Petunia erst wieder an diesem Abend zurück, als Harry schon oben in seinem Zimmer war und ihm verboten worden war, wieder hinunterzugehen, da Onkel Vernons Gäste bereits gekommen waren.
„Ah, Mr und Mrs Colisen“, hatte Harry Vernons Stimme vor einigen Minuten gehört. „Darf ich Ihnen meinen Sohn vorstellen? Ah – und da, da ist ja auch schon meine Frau, Sie war bei einer Freundin zum Tee eingeladen, wissen Sie ...“
Harry stellte sich vor, wie sein Cousin Dudley – seinen Körperumfang (dem eines jungen Nilpferds gleich) in einen spießigen Anzug gesteckt – verwirrt aussehen musste, als seine Mutter – in Schürze und Hauskleidung –, die er den ganzen Tag nicht gesehen hatte, erst spät abends nach Hause kam. Er versuchte, sein Gelächter zu ersticken, damit man ihn unten nicht hörte. Immerhin würde er die Dursleys morgen verlassen, da musste er ihnen den letzten Abend nicht verderben, er war ja nicht wie sie ... sie würden bestimmt einen Weg finden, ihm die letzten Stunden zur Hölle zu machen, wenn sie nicht damit beschäftigt wären, in die Hintern zweier reicher Leute zu kriechen.
Aber was Harry an diesem Abend am meisten beschäftigte war seine Tante Petunia. Was wusste sie über Snape? Aber das Wichtigste war ... wenn Petunia in ihrer Kindheit in der Nähe von Snape gelebt hatte, dann galt das auch für seine Mutter. Also hatten sich Lily Evans und Severus Snape gekannt, bevor sie gemeinsam die Hogwarts-Schule besucht hatten?
Solange sie nicht befreundet waren, dachte Harry, und bei dem Gedanken, sie wären es möglicherweise doch gewesen, wurde ihm fast so schlecht wie letzte Nacht.
Hedwig war wieder jagen, also war Harry allein in seinem Zimmer. Gerade als er an seinem Schreibtisch sitzend überlegte, wie er den verbleibenden Tag verbringen sollte – er zog es sogar ernsthaft in Erwägung, einfach schlafen zu gehen –, klopfte es an seiner Tür. Vor Überraschung konnte er gar nichts sagen, aber da es einer der Dursleys sein musste, würde die Person vor seiner Tür ohnehin ungebeten hereinkommen. Aber es klopfte noch einmal.
„Herein?“, sagte Harry unsicher.
Die Tür öffnete sich und genauso unsicher wie Harry sie hereingebeten hatte, blickte Petunia herein.
„Hallo“, sagte sie knapp, trat schnell ein, als fürchtete sie, irgendjemand würde sie angreifen, wenn sie zu lange im Türrahmen stand, und schloss die Tür so leise wie möglich.
Harry wusste nicht, was er sagen sollte, aber das Sprechen wurde ihm ohnehin erspart, da seine Tante sofort zu reden begann:
„Also, ich will es kurz und schmerzlos halten ... ja, ich bring es einfach schnell hinter mich, bevor Vernon irgendetwas bemerkt ... also, Harry.“
Sie ging auf ihn zu, blieb aber einen Meter neben dem Schreibtisch stehen, als wollte sie einen Sicherheitsabstand zwischen sich und Harry bringen.
„Glaub nicht, dass mir viel an dir liegt“, sagte Petunia, und es schien ihr wirklich wichtig, dies klarzustellen. Aber Harry konnte nicht antworten, dass er sie genauso wenig mochte wie sie ihn, da fuhr sie schon fort: „Jedenfalls hat Dumbledore mir einen letzten Brief geschrieben, bevor er – nun, du hast ja gesagt, er wäre gestorben.“
„Einen letzten Brief?“ Harry runzelte die Stirn. „Wie viele Briefe hat er dir denn zuvor geschrieben?“
„So einige“, gab Petunia zur Antwort und sie griff in die Tasche der Schürze, die sie immer noch umgebunden hatte. „Darum geht es ja auch – in dem letzten Brief hat er mir gesagt, ich solle dir alle Briefe geben, die er mir geschickt hat, wenn er tot ist.“ Sie zog ein Bündel Briefe hervor – es mussten mindestens fünf Umschläge sein – und warf ihn achtlos auf Harrys Schreibtisch.
Dann wandte sie sich wortlos um und machte sich auf, den Raum zu verlassen. Harry war so perplex, dass ihm erst in letzter Sekunde einfiel, was er noch von seiner Tante wissen wollte.
„Halt – Tante Petunia!“, rief er.
Petunia wandte sich um, ihre Hand schon am Türknauf, und sah ihn wütend an.
„Bist du wahnsinnig? Die unten hören es doch, wenn du so schreist!“
„Du und Mum, ihr habt in derselben Straße wie Snape gewohnt?“, fragte Harry fordernd. „Wieso hast du mir das nie –“
„Es wird alles in den Briefen erklärt“, unterbrach ihn Petunia. „Und jetzt entschuldige mich, ich muss mich umziehen für unsere Gäste, und dann diese Hochzeitseinladung verbrennen, falls Vernon das noch nicht getan hat. Gute Nacht.“
Als Petunia den Raum verlassen hatte, saß Harry noch wenige Sekunden bewegungslos da. Doch dann überkam ihn die Neugierde – was hatte Dumbledore Petunia geschrieben?
Harry zählte die Briefe ab – es waren sechs. In der Hoffnung, dass sie in der richtigen Reihenfolge vor ihm lagen, nahm er den obersten Brief und holte ein Stück Pergament aus dem geöffneten Umschlag.
Sehr geehrte Mrs Dursley,
Sie wissen sicher nicht, wer ich bin. Mein Name ist Albus Dumbledore, ich bin der Schulleiter von Hogwarts, der Schule, die Ihre Schwester Lily besucht hat.
Erst einmal Glückwunsch dazu, dass Sie Tante geworden sind.
Ich habe mit Ihrer Schwester gesprochen und sie gefragt, ob es ihr Recht ist, wenn ich Ihnen einen Brief schreibe; sie ist einverstanden.
Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie etwas besitzen, das mit der magischen Welt zu tun hat, wessen Sie sich natürlich nicht bewusst sein können. Ich möchte Sie fragen, ob Sie ein familiäres Erbstück oder einen Gegenstand besitzen, der Ihnen irgendwie besonders, ja vielleicht merkwürdig vorkommt?
Denken Sie nach, und erwähnen Sie, sollten Sie mir antworten, bitte alles, was ihnen einfällt, egal, wie gewöhnlich der Gegenstand auch eigentlich wirken mag.
Mit freundlichen Grüßen,
Albus Dumbledore
Es rührte Harry beinahe zu Tränen, Dumbledores verschnörkelte, edle Schrift zu sehen; aber der Inhalt des Briefes beschäftigte ihn in diesem Moment zu sehr, um das Gefühl der aufsteigenden Trauer in ihm wirklich wahrzunehmen.
Ein familiäres Erbstück, das mit der magischen Welt zu tun hatte, ohne, dass Petunia es wusste? Harry verstand kein Wort. Die Familie seiner Mutter, die Evans, waren Muggel, sie hatten mit Zauberei nichts zu tun. Wie also sollten sie in den Besitz magischer Gegenstände gekommen sein? Es war natürlich nicht auszuschließen, dass irgendwelche Vorfahren Harrys mütterlicherseits magisch waren – aber das erklärte nicht, warum Dumbledore an dem Erbstück interessiert war …
Harry hätte gerne gewusst, wann Petunia diesen Brief erhalten hatte. Es stand kein Datum darauf, allerdings war die Rede von der Schule, die Lily besucht hatte, und Petunia sprach er bereits mit Mrs Dursley, nicht etwa mit Miss Evans an. Dumbledore musste den Brief also nach der Schulzeit von Harrys Mutter und nach der Hochzeit von Tante Petunia und Onkel Vernon verfasst haben. Zudem beglückwünschte Dumbledore Petunia dazu, Tante geworden zu sein (auch wenn sie sich sicher nicht darüber gefreut hatte), es könnte also kurz nach seiner Geburt gewesen sein; dies stand aber nicht fest, da auch die Möglichkeit bestand, dass Dumbledore einfach erst zu dem Zeitpunkt dazu gekommen war, Petunia seine Glückwünsche auszusprechen, als er diesen Brief verfasst hatte. Es könnten Wochen, ja sogar Monate seit Harrys Geburt vergangen sein – aber seine Mutter hatte noch gelebt, er war noch kein ganzes Jahr alt gewesen …
Harry legte den Brief beiseite, nahm den nächsten aufgerissenen Umschlag zur Hand und holte das Papier, das darin lag, heraus.
Sehr geehrte Mrs Dursley,
danke für Ihre Antwort. Ich finde es natürlich sehr schade, dass Sie mir nicht weiterhelfen können, aber fühlen Sie sich nicht schuldig deswegen – ich hatte es nicht erwartet.
Allerdings mag es sein, dass ich zu voreilig war, zu viel erhofft hatte. Auch wenn Sie keinen besonderen Gegenstand dieser Art besitzen, so halte ich es für gut möglich, dass Sie mir anders helfen können.
Soweit ich weiß, haben Sie Ihre Großmutter mütterlicherseits nie wirklich kennen gelernt, sie starb, als Sie noch sehr klein waren. Haben Sie – oder hatten Ihre Eltern – Schriften oder Texte von ihr? Möglicherweise Briefe oder vielleicht sogar Tagebücher? Sollten Sie solche Papiere besitzen, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sie mir postwendend zusenden könnten.
Mit freundlichen Grüßen,
Albus Dumbledore
Sollte Harry verstehen, was damit gemeint war? Hatte Dumbledore angenommen, diese Briefe würden ihm etwas zu verstehen geben, er würde ihre Botschaft erkennen, sie würden ihm helfen? Anders konnte sich Harry nicht erklären, warum er Tante Petunia aufgetragen hatte, sie ihm zu geben; aber er verstand kein Wort davon. Er hatte gehofft, der zweite Brief würde ihm den ersten erklären, aber das tat er keineswegs.
Harry hatte nie über seine Großeltern, geschweige denn über deren Eltern nachgedacht. Die Großmutter seiner Mutter und seiner Tante, von der wusste er überhaupt nichts. Er musste später Tante Petunia fragen, auch wenn diese keine Lust auf ein Gespräch haben würde und genauso wie Dumbledore zu denken schien, Harry würde von allein darauf kommen, was diese Briefe zu bedeuten hatten.
Er legte auch diesen beiseite und widmete sich dem nächsten.
Geehrte Mrs Dursley,
vielen Dank für Ihre großartige Hilfe. Sie mögen annehmen, dass der Brief Ihrer Großmutter, den Sie mir geschickt haben, nutzlos ist für mich, aber das ist er keineswegs. Ich bin Ihnen etwas schuldig, schreiben Sie mir, wenn Sie etwas brauchen.
Allerdings, so Leid es mir tut, Sie zu belästigen, würde ich immer noch Hilfe von Ihnen benötigen. Ihre Schwester hat mir bereits alles über Ihre Großmutter erzählt, was sie weiß – ich weiß es nicht genau, aber es wäre möglich, dass das nicht genug ist und dass ich noch einiges mehr wissen sollte. Können Sie mir etwas über Ihre Großmutter sagen? Auch wenn Sie bei ihrem Tod noch sehr jung waren, wäre es zumindest möglich, dass Sie sie ein paar Mal gesehen haben, dass Ihre Eltern Ihnen etwas über sie erzählt haben, was Lily nicht weiß.
Zudem möchte ich Sie fragen, ob Sie sich noch an einen gewissen Severus Snape erinnern.
Harrys Eingeweide schnürten sich zu.
Er wohnte in derselben Straße wie Sie als Kind. Können Sie mir etwas über ihn und seine Familie erzählen?
Ich danke Ihnen erneut sehr für Ihre Hilfe und erinnere Sie daran, dass Sie bei mir etwas gut haben. Nutzen Sie dies.
Mit freundlichen Grüßen,
A. Dumbledore
Dumbledore hatte Tante Petunia über Snape ausfragen wollen … Dumbledore hatte wissen wollen, was sie über seine Jugend wusste … Hatte Dumbledore Snape doch nicht so blind vertraut, wie es den Anschein gehabt hatte? Harry konnte nicht anders, als bei der Erwägung dieser Möglichkeit zu grinsen.
Aber wieso war Dumbledore so interessiert an Lilys und Petunias Großmutter gewesen? Wer war diese Frau gewesen? War es möglich, dass sie magische Fähigkeiten gehabt hatte, die aber nur Harrys Mutter später geerbt hatte? Und warum hatte Dumbledore Harry nie gesagt, dass er so viel über die Evans in Erfahrung hatte bringen wollen? War es einfach nicht wichtig? Aber warum wollte er dann jetzt, nach seinem Tod, dass Petunia ihm die Briefe gab?
Harry legte das Pergament auf den Stapel der bereits gelesenen Briefe und nahm den vierten heran. Er war überraschend kurz.
Geehrte Petunia,
Harry fiel auf, dass Dumbledore seine Tante nun nicht mehr mit Mrs Dursley, sondern mit dem Vornamen ansprach.
so merkwürdig mir der Gefallen, um den Sie mich bitten, auch vorkommt, ich verspreche Ihnen, niemandem von dem zu erzählen, was Sie mir gesagt haben.
Da war es – ein triftiger Grund, warum Dumbledore mit Harry nie über all das gesprochen hatte.
Ich danke Ihnen auch für die neueren Informationen. Gibt es außer Ihrem Wunsch, diese Briefe geheim zu halten, wirklich nichts, was ich für Sie tun kann?
Ich möchte Ihnen zu guter Letzt noch mitteilen, dass Ihr Neffe Harry etwas ganz Besonderes ist. Ich hoffe für Sie, dass Sie sich irgendwann doch noch mit Ihrer Schwester versöhnen und Harry kennen lernen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
A. Dumbledore
Harry las die letzten Sätze erneut. … dass Ihr Neffe Harry etwas ganz Besonderes ist … Hatte Dumbledore das geschrieben, weil er da bereits gewusst hatte, dass Harry der Eine mit der Macht war, den Dunklen Lord zu besiegen?
Harry hielt sich nicht allzu lange mit diesen Überlegungen auf; er war begierig, zu wissen, was im nächsten Brief stand. Endlich neue Informationen, Neues, worüber er nachdenken konnte; Worte, die Dumbledore verfasst hatte … Dumbledore …
Werte Petunia,
bestimmt wundern Sie sich, warum Sie plötzlich einen Jungen auf Ihrer Türschwelle finden – nun, ich hoffe, Sie haben erkannt, dass es der Sohn Ihrer Schwester ist, Harry Potter, über den wir uns zuvor bereits unterhalten haben.
Was ich vorhergesehen habe, ist eingetroffen – Ihre Schwester und ihr Mann sind von Lord Voldemort getötet worden. Harry braucht also ein neues Zuhause, und es ist wichtig, dass er bei Ihnen wohnt.
Der Grund, warum ich Harry in Ihre Hände lege und nicht in die irgendwelcher Zauberer und Hexen, ist folgender: Nur durch das Blut seiner Mutter kann Harry geschützt werden vor einem erneuten Angriff Voldemorts. Solange Sie Harry also erlauben, in Ihrem Haus zu wohnen, sorgt ein mächtiger Schutzzauber dafür, dass ihm nichts passieren kann. Für Ihre Sicherheit kann ich natürlich ebenfalls garantieren, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.
Wissen Sie folgendes: Wenn Sie Harry nicht aufnehmen, dann werde ich dies erfahren, und dann erst müssen Sie Magie fürchten – ich werde nicht zulassen, dass Sie Harry verweigern; meine Bitte vorhin war nur eine Maske der Höflichkeit, falls Ihnen dies nicht klar sein sollte.
Sie brauchen nicht zu antworten, kümmern Sie sich nur darum, dass Harry lebt. Sobald er elf Jahre alt ist, wird er der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei beitreten, Sie sind ihn dann also (für den Großteil der Jahre) los. Harry muss um jeden Preis in Ihrem Haus bleiben, sonst ist nicht nur er, sondern auch Sie, Ihr Mann und Ihr Sohn in großer Gefahr.
Mit freundlichen Grüßen,
A. Dumbledore
Das war relativ unspektakulär, fand Harry – dies musste der Brief sein, den Dumbledore damals nach dem Angriff auf seine Eltern für Petunia hinterlassen hatte, um zu erklären, wieso sie Harry aufnehmen mussten. Viel erklärte der Brief aber nicht, für Harrys Geschmack eher viel zu wenig.
Er steckte das Pergament zurück in den Umschlag und nahm den letzten Brief – der, in dem Dumbledore Petunia gesagt hatte, sie sollte Harry all diese Briefe geben.
Sehr geehrte Mrs Dursley,
begann dieser Brief nun wieder, als wären Dumbledore und Tante Petunia erst immer mehr zu Bekannten geworden, und hätten sich jetzt wieder entfremdet.
es ist etwa fünfzehn Jahre her, seit ich Ihnen zuletzt geschrieben habe, wenn man den Heuler außer Acht lässt. Es mag Ihnen merkwürdig erscheinen, dass ich Ihnen nun wieder einen Brief zukommen lasse, aber es ist unendlich wichtig, dass Sie eine Ihrer Entscheidungen noch einmal überdenken.
Ich weiß, dass Sie Harry ebenso wenig wie jeden anderen Menschen auf der Welt wissen lassen wollen, dass wir beide brieflichen Kontakt hatten, und dass Sie den Inhalt dieser Briefe und das, was Sie mir erzählt haben, geheim halten wollen. Aber es ist unendlich wichtig, dass Sie Harry die Briefe geben und ihm sagen, was er wissen will, was immer er Sie fragt. Glauben Sie mir, es tut mir unendlich Leid, dass ich mein Versprechen Ihnen gegenüber nun indirekt durch Sie brechen muss, aber Harry muss es erfahren.
Aber nicht jetzt – erst wenn Harry nach dem kommenden Jahr in Hogwarts wieder zu Ihnen zurückkehrt, und erst nach meinem Tod.
Bitte sagen Sie, dass Sie Harry alles erzählen werden; Sie können sich nicht vorstellen, wie wichtig das ist.
Mit freundlichen Grüßen,
Albus Dumbledore
Und auch wenn es bestimmt interessant war, als wie wichtig Dumbledore den Inhalt dieser Briefe einschätzte, so war es doch etwas völlig anderes, das Harrys Gedanken nun einnahm. Etwas, das Tante Petunia vorhin schon gesagt hatte, das ihm aber erst gar nicht aufgefallen war … Aber nicht jetzt – erst nach meinem Tod …
Dumbledore wusste, dass sein Tod bevorstand, dass er sterben müsste. Dieser Brief war kurz vor dem Beginn von oder während Harrys sechstem Schuljahr geschrieben worden. Es ist etwa fünfzehn Jahre her, seit ich Ihnen zuletzt geschrieben habe …
Harry hörte Tante Petunia lachen, vermutlich über einen schlechten Witz von Onkel Vernon. Jetzt konnte er nicht mit ihr sprechen – aber sie war seine einzige Hoffnung, Klarheit zu bekommen; sie war die einzige, die möglicherweise wusste, warum Dumbledore seinen Tod bereits vorhergesehen hatte, viele Monate, bevor er eingetroffen war.
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