von Wizardpupil
Das bisschen Mondlicht, das dieses Treppenhaus erhellte, verschwand hinter einer Tür, als sie von einem Mann geschlossen wurde. Harry wusste, dass er schlief, dass er träumte, dass er in diesem Traum gar nicht er selbst war. Er beobachtete diesen Mann durch die Augen einer Person, deren Körper er in diesem Moment teilte; aber auch diese andere Person sah das alles nicht mit eigenen Augen, sie hatte Besitz ergriffen von jemandem – oder eher von etwas ...
Wie schon vor etwa eineinhalb Jahren befand sich Harry in Voldemort, der sich wiederum in seiner Schlange Nagini eingenistet hatte, dessen war sich Harry vollauf bewusst, ohne wirklich zu wissen, warum ihm dies so klar war. Als würde er nicht nur Voldemorts Gedanken, sondern auch sein Wissen teilen ... wie viel er herausfinden könnte ... aber er war beschäftigt. Er wusste nur nicht, womit.
Nagini hing auf einem Dachbalken des Treppenhauses, umschlang es mit ihrem unglaublich langen Körper, hielt sich daran fest, beobachtete den Mann mit starrem Blick durch die Finsternis, die die Sicht der Schlange aber nicht so stark einschränkte wie sie es mit Harrys Augen getan hätte. Harry wusste nicht, wie die Schlange hier hoch gekommen war, oder wie er in Voldemorts Geist gelangt war – aber er wusste ganz genau, wo er war: Im Eberkopf, einem Wirtshaus in Hogsmeade. Und dieser Mann, den er da beobachtete, das war der Wirt des Eberkopfs. Nagini – und damit Voldemort, und so auch Harry – wollte etwas, das der Alte hatte oder wusste ... etwas, das sie alle drei unbedingt brauchten.
Als der Mann sich von der geschlossenen TĂĽr wegdrehte, eine kleine Ă–llampe aus einer Tasche seines Umhangs holte und diese mit der Spitze seines Zauberstabs, den er aus einer anderen Tasche genommen hatte, anzĂĽndete, konnte Harry sein Gesicht genau sehen. Ihm wurde eines schlagartig klar, etwas, das er bisher nicht erkannt hatte. Aber da Harry in letzter Zeit kaum ĂĽber etwas nachdachte, was nicht mit Albus Dumbledore zu tun hatte, war es ihm nun ein Leichtes, zu sehen, dass dieser Mann hier Dumbledores Bruder war, ĂĽber den der ehemalige Schulleiter einmal gesprochen hatte.
Aberforth Dumbledore – so hieß er, erinnerte sich Harry nun – murmelte vor sich hin, während er die Treppe hinunterging. Harry wollte jedes Wort hören, das Aberforth sagte.
„.... Einen Sündenbock brauchen wir, ja, ja“, sagte er leise zu sich selbst, flüsternd, wispernd, in Gedanken versunken. „... Als ob das so einfach wäre, ein Sündenbock ... aber natürlich, mit jemandem wie ihm ... da ist das doch gar nicht so schwierig ... aber jetzt lässt es sich nicht mehr rückgängig machen ... jetzt ist es ja bald –“
Aberforth erstarrte, als er den Fuß der Treppe erreicht und aufgeblickt hatte. Er richtete seine Augen gebannt auf irgendetwas, das ihm gegenüber an der Wand hing. Nagini schlängelte sich vom Dachbalken herab, an der Wand entlang hinunter, bis sie sich nur noch mit ihrer Schwanzspitze festhielt, und sie wandte ihren Kopf in die Richtung, in welche Aberforth blickte. Es war ein Kalender, ein einfacher Wandkalender, der Aberforth so zu faszinieren schien. Er zeigte den Monat Oktober, und nur noch drei Tage blieben bis Halloween. Seltsam, fand Harry, wo es doch Juli war …
Scheinbar angeregt durch diesen Kalender, stürzte sich Aberforth hinter den Tresen, der dort im Raum stand. Er stellte die Öllampe ab, bückte sich und richtete seinen Zauberstab auf einen offenbar ganz bestimmten Punkt. Harry konnte nicht sehen, was Aberforth tat, aber er hörte ein Geräusch, das ganz eindeutig so klang, als wäre eine Schublade geöffnet worden. Scheinbar erleichtert seufzte Aberforth auf.
„Es ist noch da ... langsam werde ich wirklich paranoid ... kein Wunder, jeder würde nervös werden ... so eine Aufgabe, so eine Last, die man zu tragen hat ...“
Dann hob Aberforth die Hände – und er hielt etwas fest umklammert. Eine Kette, scheinbar, eine silberne Kette; daran hing ein Medaillon, ein ebenso silbernes. Von dem Licht der brennenden Öllampe beschienen, glänzte es recht stark; ohne Schwierigkeiten konnte Harry eine dekorative S-förmige Schlange erkennen, die eine Seite des Medaillons schmückte.
Und in diesem Moment spürte Harry, wie er Nagini verließ – aber der Traum war noch nicht zu Ende. Harry sah plötzlich hinab auf eine Gruppe von Leuten mit schwarzen Kapuzenumhängen, die am Fuß einer kleinen Treppe standen, die Gesichter hinter weißen Masken; drei von ihnen standen weiter vorne als der Rest, berührten mit ihren Zehenspitzen die unterste Stufe. Die Treppe führte hoch zu dem Podium, auf welchem er sich befand. Harry konnte seine Hände sehen, die links und rechts auf den Lehnen eines scheinbar sehr großen, silbernen Throns ruhten – weiße Hände mit langen, dürren Fingern; Voldemorts Finger. Harry hatte Nagini verlassen, um in Voldemorts Körper überzugehen.
„Meister“, sagte eine weibliche Stimme aus der Gruppe von Leuten; Harry erkannt sie – es war die Stimme Bellatrix Lestranges. „Meister – sagt mir, bitte, was habt Ihr gesehen? Hat er es? Hat er es tatsächlich?“
Voldemort antwortete nicht sofort, Harry konnte hören, worüber er nachdachte. Ein Sündenbock, ging es durch Voldemorts Kopf. Ein Sündenbock ...
Aber dann spürte Harry, wie er – oder eher Voldemort – ein humorloses Grinsen aufsetzte.
„Ja, Bellatrix.“ Harry jagte es einen kalten Schauer über den Rücken, als er sich mit Voldemorts kalter, markerschütternder Stimme sprechen hörte. „Ja, der Mann hat es tatsächlich ...“
Harry spürte, wie in ihm – Voldemort – ein wenig Wut aufbrodelte, aber diese versank schnell wieder, als Voldemort fortfuhr. Trotzdem merkte Harry, dass er sich um einen ruhigen Tonfall bemühen musste.
„Es scheint so, als hätte ich einen Fehler begangen, Bellatrix.“
„Das kann nicht sein!“, rief Bellatrix.
„Ihr täuscht euch bestimmt, Meister“, sagte eine andere Person der Gruppe - Harry erkannte die Stimme von Lucius Malfoy.
„Ganz gewiss müsst Ihr euch täuschen, mein Lord.“
Diese letzte Stimme war es, die in Harry die ersten Gefühle in diesem Traum erregte, die auch wirklich ihm und nicht Voldemort gehörten. Ein plötzlicher Hass überkam Harry, so stark und durchdringend, dass er Voldemorts Gedanken ausgeblendet hatte; es gab nur noch ihn, Harry, und diesen Mann, der da gesprochen hatte: Severus Snape.
„Nein, ich täusche mich nicht, mein schmieriger Freund.“ Voldemort sprach nun wieder und holte Harry damit zurück in seine Gedanken. „Erst jetzt erkenne ich einen Fehler, den ich schon vor langer Zeit begangen habe. Auf der Suche nach den Relikten habe ich ein falsches gefunden.“
„Wie? Aber mein Lord, Ihr wart euch so sicher!“, rief Bellatrix überrascht. „Wie könnt Ihr nun davon ausgehen, dass Ihr euch geirrt habt?“
„Dieser dumme, alte Mann ... dieser Aberforth, er hat das richtige Relikt.“
„Aber –“
„Nein, Bellatrix, diskutiere jetzt nicht mit mir. Der große Salazar Slytherin, er war ein Meister der Täuschung, ich hätte es wissen müssen. Es war ganz allein mein Fehler, aber der lässt sich beheben. Aberforth hat das Richtige; er hat das, was mich jetzt interessiert, alles andere ist mir egal. Wir machen uns auf der Stelle auf den Weg.“
Voldemort erhob sich aus seinem Thron. „Wir müssen sofort los“, sagte er. „Folgt mir.“
Voldemort apparierte und Harry mit ihm – das Gefühl mochte er nun ebenso wenig wie er es tat, wenn er sich in seinem eigenen Körper befand. Doch schon eine Sekunde darauf hatte Harry wieder festen Boden unter den Füßen. Er befand sich wiederum im Eberkopf. Aberforth stand hinter dem Tresen, mit dem Rücken zu Voldemort; er hatte noch nichts bemerkt. Harry spürte, wie hinter ihm weitere Personen erschienen – dies mussten die Todesser sein, mit denen er vorhin gesprochen hatte.
„Guten Abend, Aberforth“, sagte Voldemort. „Oder eher guten Morgen, wenn ich an die Uhrzeit denke ... und du bist noch wach, wie praktisch.“
Aberforth drehte sich langsam um; seine Miene, erleuchtet von der Ă–llampe, war eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit.
„Was willst du hier, Tom?“ In Aberforths Stimme war ein Zittern zu hören.
Voldemort lachte laut auf; es war ein eisiges Lachen.
„Er hat dir also gesagt, wie du mich anzusprechen hast, dein lieber Bruder?“, sagte Voldemort, immer noch lachend; doch sofort war er wieder ernst, sehr ernst – wütend. Und diesmal konnte er es nicht unterdrücken. Seine Miene verzog sich, und die nächsten Worte brüllte er: „Wie kannst du es wagen, du dreckiger Wirt! Du hast kein Recht, mich Tom zu nennen, ich fürchte dich nicht, ich bin stärker als du – und wenn ich wollte, wärst du augenblicklich tot.“
„Und wieso bringst du mich dann nicht einfach um?“ Aberforths Worte waren immer noch mutiger als deren Tonfall; seine Stimme zitterte noch stärker als vorher.
„Oh, ich werde dich gleich töten, Aberforth – aber erst muss ich mir noch etwas holen.“ Voldemort richtete seinen Zauberstab auf den Tresen – er sagte nichts, bewegte den Stab kaum, er hielt ihn nur locker in seiner Hand.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall wurde der Tresen in die Luft gesprengt. Holz und Steine flogen durch den Raum, prallten an dem Schutzschild ab, das Voldemort heraufbeschworen hatte, und schossen daraufhin mit unglaublicher Geschwindigkeit zurück auf Aberforth; die Öllampe wurde an die Wand geschleudert, die daraufhin in Flammen aufging – das Feuer verbreitete sich rasch. Aber Voldemort hob erneut den Zauberstab, sagte wieder nichts und führte wieder keine Bewegungen durch, und trotzdem geschah etwas.
Das Holz und die Steine, die immer noch vom Druck der Explosion durch die Luft geschleudert wurden, erstarrten plötzlich und schienen zu schweben. Das Feuer breitete sich nicht weiter aus, die Flammen sahen abstrakt aus, wie gelbrote, merkwürdig geformte Wolken. Auch Aberforth bewegte sich nicht, was aber daran lag, dass er unter einem großen Teil der Überreste seines Tresens begraben war. Der aufgewirbelte, erstarrte Staub hätte es fast unmöglich gemacht, etwas zu sehen (obwohl das wegen des schwachen Mondlichts ohnehin schwierig gewesen wäre), wäre da nicht das helle Feuer, das Licht spendete – und dort, mitten zwischen einigen grauen Steinen, die auf ihrem Weg auf ein Fenster zu erfroren waren, konnte man ein silbernes Glitzern erkennen – das Medaillon.
Erneut hob Voldemort den Zauberstab und das Medaillon flog auf seine linke Hand zu, die er erwartungsvoll nach dem Gegenstand ausstreckte. Seine weißen Finger schlossen sich um die Kette, er ließ es vor seinen Augen baumeln. Harry erkannte die eingravierte Schlange nun noch genauer – im Licht der bewegungslosen Flammen gab sie ein merkwürdiges Glänzen von sich.
„Sehr gut“, sagte Voldemort, so leise, dass nur Harry es hören konnte. Ein letztes Mal hob er den Zauberstab, richtete ihn auf Aberforths Gesicht, welches neben ein paar Steinen hervor lugte. „Avada Kedavra“, sagte Voldemort – und ein grünes Licht kam aus der Spitze hervor, schoss auf Aberforths Gesicht hinab und tötete ihn augenblicklich. Dann wandte Voldemort seinen Blick nach rechts auf das Treppenhaus, welches Aberforth zuvor hinuntergegangen war. „Nagini“, sagte er lauter, „es ist Fressenszeit.“
Als hätte Nagini nur darauf gewartet, schlängelte sie sich plötzlich von der Decke herab und die Stufen hinunter. Sie zog ihren riesigen Körper vorbei an Voldemort und den Todessern, über die noch stehenden Grundsteine des Tresens auf die Überreste desselben zu, unter welchen Aberforth lag. Mit einem hungrigen Zischen (Harry wusste, dass er es nur als hungrig erkannte, weil er Parsel verstand) bäumte sie sich über Aberforths totes Gesicht auf, öffnete ihr Maul weit, brachte ihre spitzen, langen Giftzähne zum Vorschein und stürzte sich auf Aberforth, während Voldemorts kaltes Lachen das einzige war, das im Eberkopf zu hören war.
In diesem Moment trennte sich Harry von Voldemort, erwachte schweiĂźgebadet, beugte sich ĂĽber den Rand seines Bettes und ĂĽbergab sich.
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