von yoho
Denn ein Traum ist alles Sein. Und die TrÀume selbst sind Traum.
(aus dem Film 'Picknick am Valentinstag' von Peter Weir)
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âWie ist die Adresse?â, frage ich Mina.
Ich stehe vor dem Kamin, das Flohpulver schon in der Hand und gerade fĂ€llt mir ein, dass ich die Anschrift ihrer GroĂeltern gar nicht kenne. Ich weiĂ nur, dass sie auf Korfu wohnen und dass das eine Insel vor der griechischen KĂŒste ist.
Laut Mina muss das Wetter dort deutlich besser sein als zurzeit in England. Und nicht nur deswegen freuen wir uns beide auf den Besuch.
Der zweite Grund fĂŒr unsere Vorfreude: wir reisen ohne Erwachsene. Hermine und Harry haben andere PlĂ€ne fĂŒr die Pfingsttage und Minas Eltern mĂŒssen sich immer noch verstecken.
âStimmtâ, Mina lacht, âhab ich ganz vergessen dir zu sagen, âNur-ad-Din-Road 534.â
Ich werfe das Flohpulver in den Kamin, trete hinein und sage dann laut und deutlich: âNur-ad-Din-Road 534.â Minas âNein, Rose!â höre ich erst, als ich schon unterwegs bin.
UnzĂ€hlige Kamine rauschen an mir vorbei. Dann stolpere ich ins Freie und gerate sofort ins Rutschen. Der FuĂboden vor dem Kamin ist schrĂ€g und entsetzt sehe ich, dass er im Nichts endet. Ich versuche panisch irgendwo Halt zu finden. Aber da ist nichts, woran ich mich festhalten könnte.
Ich falle. Und falle.
Mein Sturz endet auf etwas Weichem, aus dem jede Menge Staub aufwirbelt. Sekunden spÀter landet jemand auf mir und ich blicke erschrocken in Minas Gesicht.
Wir liegen auf einer Couch, die auch schon bessere Tage gesehen hat.
Ganz in der NĂ€he kracht es laut und eine gewaltige Staubwolke hĂŒllt uns ein. Menschen schreien. Wieder ein Krachen und dieses Mal prasseln Steine auf uns. Mina rollt von mir herunter und reiĂt mich dabei mit. Sekunden spĂ€ter liegen wir unter dem Sofa. Mina zittert. Ich kann in dem ganzen Staub nicht viel von ihrem Gesicht erkennen, aber was ich sehe zeigt mir, dass sie Angst hat.
Nach einigen Minuten wird es ruhiger um uns herum. Kein Krachen mehr. Nur noch vereinzelte Schreie und Rufe. Und ganz in unserer NĂ€he weint jemand.
Ich huste. âWo sind wir?", krĂ€chze ich. âIst das Korfu?â
âNeinâ, keucht Mina, âdas ist nicht Korfu. Du hast mich nach der Adresse gefragt und ich habe dir unsere alte Anschrift genannt, anstatt die von meinen GroĂeltern. Sorry.â
Ich blicke sie entgeistert an: âHier hast du gewohnt?â
âJaâ, antwortet Mina. Sie will noch etwas sagen, aber ihre Worte werden von einem Hustenanfall erstickt. Als sie sich wieder beruhigt hat, hören wir es. Ein Wimmern, unterbrochen von leisen Schluchzern. Ganz in unserer NĂ€he.
Mina stupst mich an und wir robben unter dem Sofa hervor.
âWo kommt das her?â, frage ich. Mina deutet auf einen TrĂŒmmerhaufen direkt neben dem MöbelstĂŒck, das jetzt wirklich kaputt ist. Die SitzflĂ€che liegt voller Schutt, der uns sonst begraben hĂ€tte. In Gedanken bedanke ich mich bei dem Sofa, denn es hat uns wohl das Leben gerettet.
Wir beginnen Betonbrocken zur Seite zu rÀumen. Zuerst kommt ein Bein zum Vorschein, das in einer verwaschenen Jeans steckt. Der Stoff ist staubig und fÀrbt sich rot.
âDas ist Blutâ, sage ich und höre die Panik in meiner Stimme.
Mina reagiert nicht darauf, sondern arbeitet sich das Bein aufwĂ€rts durch die TrĂŒmmer. Der Hosenbund kommt zum Vorschein. SchlieĂlich ein T-Shirt mit bunten Comic-Figuren. Erst jetzt wird mir klar, dass wir ein Kind ausgraben, nicht Ă€lter als wir beide es sind.
Das Gesicht sieht schrecklich aus. Ăberall ist Blut. Es sickert aus einer tiefen Wunde in der Stirn, lĂ€uft ĂŒber das linke Auge und die Nase und nach hinten in die schwarzen Haare, die von einem einfachen Gummiband zusammengehalten werden.
Erschrocken registriere ich, dass die Schultern des T-Shirts unterschiedliche Farben haben. Die eine ist hellrot, die andere viel dunkler. Und das Dunkele, das ist Blut.
Der Mund in dem Gesicht öffnet sich. âMina?â Die Frage ist leise wie ein Hauch.
âNa'amâ, antwortet Mina in einer Sprache, die ich nicht kenne. Dann noch mehr Worte, die ich nicht verstehen kann.
Ich nutze die Zeit, um das MÀdchen, das wir ausgegraben haben, nÀher zu betrachten und entdecke erst jetzt die tiefe Wunde in ihrem linken Bein. Irgendetwas steckt da drin. Sieht aus wie ein riesiger Holzsplitter. Mich wundert, dass sie so ruhig bleibt. Das muss doch höllisch wehtun.
âWir brauchen einen Arztâ, sage ich.
âVergiĂ esâ, antwortet Mina. âHier ist Krieg. Es gibt keinen Arzt, der mit dem Krankenwagen kommt. Wenn, dann mĂŒssten wir sie in ein Krankenhaus bringen. Aber ich weiĂ nicht wie.â
âGeht dein Handyâ, frage ich.
Mina wĂŒhlt in ihrer Hosentasche und zieht das kleine Telefon hervor, mit dem sie Kontakt zu ihren Eltern hĂ€lt, die in der Muggelwelt leben. Sie sieht auf das Display. âWir haben ein Netz.â
Ich reiĂe ihr das Ding aus der Hand und wĂ€hle die Nummer von Hermines Buchhandlung. In dem Teil des Ladens, der in der Muggelwelt liegt, gibt es ein Telefon. Hermine meldet sich fast sofort.
Wir haben so etwas geĂŒbt, fĂŒr den Fall, dass ich in Gefahr gerate. Ich gebe also eine kurze Zusammenfassung, wie aus dem Lehrbuch. So wie Hermine es mir beigebracht hat. Wie geht es uns? Wer ist in Gefahr oder verletzt? Was ist passiert? Nur wo wir sind, kann ich Hermine nicht sagen.
Ich drĂŒcke das Telefon Mina in die Hand und die gibt die Adresse durch.
Es dauert keine Minute und Hermine materialisiert sich aus dem Nichts, höchstens drei Meter von uns entfernt.
Sie sagt kein Wort, sondern beginnt gleich, dem Kind zu helfen. Aus einer kleinen Tasche zieht sie vier Glasampullen, die sie eine nach der anderen köpft und mir in die Hand drĂŒckt. âSie soll das schluckenâ, sagt sie zu mir.
Mina spricht mit dem MĂ€dchen und nimmt mir dann die Ampullen aus der Hand. Das MĂ€dchen schluckt den Inhalt gehorsam und verzieht das Gesicht.
Hermine berĂŒhrt inzwischen mit dem Zauberstab die Beinwunde. Den Splitter hat sie schon herausgezogen. Es ist tatsĂ€chlich Holz mit einer glatten Kante. Vielleicht von einem Balken. Dann arbeitet sie sich den Körper aufwĂ€rts. Die Wunde an der Stirn schlieĂt sie zuletzt.
âSukranâ, murmelt das MĂ€dchen, dessen Haut dort, wo man sie unter Staub und Blut noch erkennen kann, inzwischen wieder eine etwas krĂ€ftigere Farbe angenommen hat.
Hermine lÀchelt sie an.
âWas hat sie gesagt?â
âDankeâ, ĂŒbersetzt Mina. âSie hat Danke gesagt.â
Plötzlich ertönt hinter uns ein Redeschwall. Erst jetzt sehe ich, dass wir von einer Menschentraube umringt sind.
Mina blickt sich um. Sie redet in der fremden Sprache auf den Mann ein, der uns angeschrien hat, aber er lÀsst sich nicht beruhigen.
âWir sollten gehenâ, sagt Mina ganz ruhig.
Wir richten uns auf. Hermine nimmt uns an den HĂ€nden. âDie richtige Adresse?â, fragte sie leise.
Dieses Mal muss Mina ihr wirklich die Anschrift ihrer GroĂeltern genannt haben, denn als der Schwindel nachlĂ€sst und ich mich traue, die Augen zu öffnen, sitze ich unter einem Olivenbaum und ganz in der NĂ€he schlĂ€gt das Meer gegen Felsen.
Am Abend ist Hermine schon wieder nach London zurĂŒckgekehrt und ich liege auf einer Decke auf einem kleinen Sandstrand direkt am Meer. Es ist warm. Um uns herum zirpen Grillen und Vögel singen.
Mina ist aufgesprungen und zieht sich ihr T-Shirt ĂŒber den Kopf. âKommst du mit schwimmen?â
Ich zögere und sie bemerkt es.
Sie stupst mich an die Schulter. "Du kannst dich ruhig ausziehen", sagt sie. "Ich komm damit klar."
Wir haben darĂŒber geredet, was da in London passiert ist. Als Mina Jungenkleider trug und die Haare ganz kurz geschnitten hatte und ich sie gekĂŒsst habe. Und sie mich zurĂŒckgekĂŒsst hat, obwohl ich ein MĂ€dchen bin wie sie. Uns war die Sache hinterher beiden ziemlich peinlich.
Wir sind jetzt zwei Freundinnen, die ein Geheimnis haben. Nur Luna weiĂ etwas. Aber die hĂ€lt dicht. Und gekĂŒsst haben wir uns seitdem nicht wieder.
"Es ist nicht deswegen", sage ich.
"Sondern?", fragt Mina.
"Kanntest du das MĂ€dchen, das wir ausgegraben haben?"
"Ja", antwortet Mina. "Sie wohnte direkt neben uns."
"Sie hÀtte sterben können, wenn Hermine nicht gekommen wÀre. WÀhrend wir dabei sind."
Mina zuckt mit den Schultern.
"Hattest du keine Angst davor?", frage ich sie.
Mina lacht leise und ganz seltsam. Es klingt nicht fröhlich. "Das ist so, wenn Krieg ist", sagt sie. "Ich habe schon einige Menschen sterben sehen. Einfach so. Es ist nichts Besonderes."
Ich starre sie an: "Ich finde schon, dass das was Besonderes ist, wenn jemand stirbt."
âFĂŒr dich vielleicht. Aber wenn man in einem Krieg lebt, dann ist es ganz normal. Die Leute sterben eben. Wir hĂ€tten auch sterben können, heute.â
Ich schlucke und mir wird etwas schwindelig, weil ich gerade begreife, dass das stimmt. Wenn das Sofa unseren Sturz nicht gedĂ€mpft hĂ€tte. Wenn es direkt neben uns geknallt hĂ€tte. Wenn dieser wĂŒtende Mann, der Hermine hat zaubern sehen, auf uns losgegangen wĂ€re. Wir hĂ€tten sterben können.
âUnd dann kannst du jetzt einfach so schwimmen gehen und SpaĂ haben?â, frage ich.
âWir mĂŒssen SpaĂ haben, weil sonst wĂ€re es ja kein Unterschied zum Totsein.â
Ich denke ĂŒber diesen Satz nach. Mina hat schon Recht. Aber ich fĂŒhle, dass es so einfach nicht ist. Irgendwie fĂŒhle ich das, aber ich kann es nicht in Worten ausdrĂŒcken. Es bleibt bei einer Ahnung.
Um irgendetwas zu tun, ziehe ich mich aus und laufe ins Wasser. Mina ist knapp hinter mir.
Wir schwimmen ein StĂŒck ins Meer hinaus, dahin, wo die Wellen nicht mehr so hoch sind und uns sanft auf und ab wiegen.
Irgendwie bin ich nicht richtig da. In diesem Meer. Dem blauen Wasser. Den kleinen Wellen, die meine Haut streicheln.
Alles scheint mir wie ein Traum. Aber ich kann nicht unterscheiden, ob es einer von den TrĂ€umen ist, von denen man schweiĂgebadet aufwacht, oder einen von denen, die einem hinterher leise seufzen lassen.
Ich lass mich treiben und spĂŒre Mina ganz dicht neben mir. Unsere Finger streifen sich unter Wasser. Einmal, zweimal, dreimal. Dann nimmt sie meine Hand.
Die Wellen.
Das Meer.
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