von Schlickschlupf
Tracey wusste nicht, was in sie gefahren war. Ausgerechnet auf den Rat von jemandem zu hören, der dem Haus derer angehört hatte, die mit Abstand die lebensmüdesten Dummheiten anstellten! Ein Teil von ihr (das war ganz klar der mit dem Schlangenwappen) sagte ihr, dass es kein gutes Ende mit ihr nehmen würde; doch Tracey wischte sämtliche Bedenken beiseite, wie sie es in letzter Zeit häufiger tat. Zumindest im Vergleich zu früher.
Und hier war sie also, mitten in London. Einer Großstadt voller Menschen – und voller Zauberer! Die hohen hellen Gebäude ragten rechts und links von ihr auf und vermittelten das Gefühl, dass Tracey geradewegs in eine Falle gelaufen war. Die Straße war belebt, doch die Stimmung alles andere als ausgelassen. Und es war kalt.
Obwohl die Muggel nicht wirklich wussten, was mit ihnen geschah, ahnten sie doch Schlimmes und alles in allem hatten sie in den letzten Jahren auch etliche Verluste zu beklagen gehabt. Doch obwohl Muggel nun so etwas wie Freiwild waren, hatten es die Todesser hauptsächlich auf Muggelgeborene abgesehen.
Ein Mann stob an ihr vorbei und rempelte sie versehentlich an. Tracey stolperte aus dem Weg, wirbelte herum und stellte fest, dass er einfach weiter geeilt war.
Bei Merlins Bart, was war nur in sie gefahren? Verärgert versuchte sie, ihre dunklen Haare ins Gesicht fallen zu lassen, damit man sie nicht zu leicht erkannte. Doch eigentlich machte sich Tracey da gar nichts vor; sie war nicht wichtig genug, um aktiv gesucht zu werden und die kleine Chance auf ein Wiedererkennen, das sie vielleicht hervorrufen könnte, hatte sie mit dem Ändern ihrer Haarfarbe weiter minimiert.
Unentschlossen wandte sie sich der Straße zu und umklammerte mit den Händen das gusseisernen Geländer, das den Gehweg markierte. Es fühlte sich eiskalt an. Schwarz und grau, das waren hier die vorherrschenden Farben; selbst der Himmel war wolkenverhangen und trist. Tracey erschauderte unwillkürlich.
Pansy würde nicht mit ihr reden. Das wusste sie. Es war also zwecklos, sich hier dem Risiko auszusetzen, während sich Angelina ins Fäustchen lachte, sie aus der Reserve gelockt zu haben!
Nervös fingerte Tracey ihre Taschenuhr hervor und warf einen kurzen Blick darauf. Es war genau zwei vor fünf!
Entgegen ihrer festen Überzeugung, dass das die dümmste Idee seit den Lebzeiten Merlins war, wandte sich Tracey dem Leben der Muggel ab und verschwand in jene Seitenstraße, von der sie wusste, dass sich dort der Besuchereingang des Ministeriums befand.
Ein Außenstehender hätte leicht Verdacht geschöpft, wenn er sich Tracey einmal ernsthaft betrachtet hätte. Sie trug zwar keinen Umhang, doch ihre schwarze Stoffhose und die dicke Daunenjacke, die gewiss schon bessere Zeiten gesehen hatten, wirkten alles andere als vertrauenswürdig. Dazu warf sie immer wieder nervöse Blicke über ihre Schulter.
Vielleicht glaubten die Leute, sie sei eine Obdachlose, die sich eher versehentlich in dieses Viertel verirrt hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie klein war, zierlich und ein Mädchen. Kein Herumtreiber, der ebenso gut ein Irrer oder Vergewaltiger sein konnte, sondern nur ein armes harmloses Mädchen, vor dem keiner Angst zu haben brauchte.
Erneut warf Tracey einen Blick auf ihre Taschenuhr, just in der Sekunde, als der Minutenzeiger auf die Zwölf sprang. Es war genau fünf Uhr! Und als ob das der Zauberspruch war, der gefehlt hatte, um die Szene komplett zu machen, bog eine junge Frau um die nächste Straßeneecke, die Tracey sofort ins Auge sprang. Sie hatte dunkles Haar, noch dunkler als das von Tracey und ein breites Gesicht.
Mopsgesicht, so war Pansy manchmal von anderen Schülerinnen genannt worden und Tracey hatte es immer fies gefunden. Doch jetzt sprang ihr dieser Spitzname wie automatisch in den Sinn. Mopsgesicht.
Mit schnellen Schritten holte sie auf. Sie wusste, dass sie nur wenige Augenblicke Zeit hatte. Pansy würde gleich um die nächste Ecke biegen und dann, außer Sichtweite der Muggel, disapparieren.
„Hey!“, zischte Tracey, als sie den Abstand zu ihrer ehemals besten Freundin stark verringert hatte und blieb stehen.
Zufrieden stellte sie fest, dass Pansy heftig zusammen fuhr, herum wirbelte und ebenfalls wie angewurzelt stehen blieb. Schon im ersten Moment realisierte Tracey, dass Pansy sie sofort wiedererkannt hatte.
„Was tust du hier?“, fragte diese, mit vor Schreck geweiteten Augen und Tracey verspürte gegen ihren Willen, wie der Gedanke an eine Abweisung ihr einen schmerzhaften Stich verpasste.
„Was denkst du wohl?“
„Ich weiß es nicht – und es ist mir auch egal! Hau ab, Tracey! Ich will nichts mit... jemandem wie dir zu tun haben!“, gab Pansy zurück und wirkte leicht panisch.
Tracey stockte der Atem. Das war... direkt.
Sie starrte das runde Gesicht von Pansy Parkinson an und dachte, dass sie es doch eigentlich immer gewusst hatte. Sie gehörte nicht dazu. Nicht wirklich jedenfalls. Ihr Magen fühlte sich schrecklich verkrampft an, während sich ein schwerer Kloß in ihrem Hals festsetzte. Oh, lass mich jetzt bloß nicht losheulen, verdammt!
„Ich wollte nur wissen...“, fing Tracey an und spürte im selben Augenblick, wie die Verzweiflung der Wut wich. Wut auf alles, was mit den Todessern und dieser bescheuerten Reinblutideologie in Verbindung stand! Wie mechanisch verfinsterte sich ihr Blick. „Aber ist schon klar, du willst mit Dreck nichts zu tun haben!“, fügte sie kalt hinzu und stellte zufrieden fest, dass ihre Stimme überhaupt nicht brüchig klang.
Zu ihrer Überraschung wirkte Pansy, die gemeine und böse Pansy Parkinson, plötzlich betroffen. Tracey war so überrascht, dass ihr beinahe der Mund aufgeklappt wäre. Das hätte ihren ganzen Auftritt jedoch ziemlich versaut.
„Nein“, murmelte Pansy und Tracey wusste nicht, ob sie es sich nur einbildete, doch sie wirkte noch blasser als sonst, „Du bringst mich nur in Schwierigkeiten! Ich würde dir sogar helfen, aber ich kann nicht... du würdest alles kaputt machen!“
„Kaputt machen?“, wiederholte Tracey empört und verspürte zum ersten Mal in ihrem Leben das instinktive Gefühl, zum Zauberstab zu greifen.
Doch sie beherrschte sich. Sie durfte Pansy jetzt nicht einfach angreifen; sie würde sie verraten.
Und außerdem lag da immer noch dieser gequälte Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin. Ehemaligen Freundin. Was auch immer.
„Es ist schon alles den Bach runter, falls du es noch nicht gemerkt hast!“, fauchte Tracey und schnappte sich den Ärmel von Pansy, um sie näher zu sich zu ziehen.
Sie war selten so wütend gewesen!
Pansy befreite ihren Arm mit einem Ruck und erwiderte Traceys Blick. Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, fühlte sich eisig an. Und eine Spur verzweifelt. Bis Pansy schließlich seufzte, kurz den Kopf schüttelte und Tracey aufgrund der Tatsache, dass sie das Blickduell offensichtlich gewonnen hatte, überrascht blinzelte.
„Okay. Okay, ich geb dir einen Hinweis, ja?“, fragte Pansy rhetorisch und ihr Tonfall klang jetzt plötzlich geschäftsmäßig, „Du weißt, dass ich erst zufrieden bin, wenn ich alles weiß, oder?“
„In Hogwarts kannte keiner so viel Tratsch wie du, Pansy“, bestätigte Tracey, meinte das jedoch keineswegs als Kompliment; doch der plötzliche Sinneswandel verwirrte sie.
„Eben“, erwiderte sie mit einer Spur Stolz in der Stimme, „Und das bedeutet auch, dass ich manche Dinge weiß... zum Beispiel ein paar kleine Geheimnisse. Kennst du Astoria noch? Die Schwester von Daphne?“
„Jaah.“
Wohin sollte das nun führen? Tracey hatte die jüngere Schwester ihrer ehemaligen Freundin natürlich in Hogwarts gesehen, aber auch ab und zu in den Ferien getroffen.
„Schön. Vielleicht interessiert es dich, zu hören, dass sie gar nicht begeistert von ihrer Situation ist. Man könnte sogar meinen, sie mag Todesser nicht besonders... nun, abgesehen davon, dass sie ja immer noch Malfoy heiraten soll!“, meinte Pansy spöttisch, doch ihre Stimme hatte sie zu einem Flüstern gesenkt, als ob Voldemort persönlich hinter dem nächsten Müllcontainer hervorspringen und laut „Buuuh!“ rufen könnte.
Tracey fand die Vorstellung unheimlich, aber auch ziemlich weit hergeholt. Trotzdem konnte sie natürlich nachvollziehen, dass Pansy Angst hatte. Sie hatte ja selbst Angst!
„Mein Ratschlag also... wenn du Hilfe brauchst, klopf doch mal bei Astoria an! Wenn sie den Mut dazu hat...“, ergänzte Pansy und ließ den Rest des Satzes offen.
Tracey zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, sich die Situation begreiflich zu machen. Irgendwie hatte sie es geschafft, Pansy dazu zu bringen, einen Namen auszuspucken – doch konnte sie ihr wirklich vertrauen? Mehr noch, konnte sie dieser Astoria vertrauen?
Tracey wusste es nicht und versuchte angestrengt, einen Haken an der Sache zu sehen. Zumal ihr diese angebliche Hilfe eindeutig zu plötzlich kam!
Wenn sie den Mut dazu hat... – ja, was dann? ...wird sie dir helfen, hätte Tracey gerne gehört, doch ebenso konnte Pansy den Satz auch aus anderen Gründen abgebrochen haben. ...wird sie tun, was ich nicht kann und dich dem Ministerium ausliefern, zum Beispiel.
Oder war Tracey jetzt eindeutig zu paranoid? Ziemlich wahrscheinlich.
„Nimm, die kannst du wahrscheinlich besser gebrauchen als ich“, murmelte Pansy plötzlich, streckte eine Hand aus, in der mehrere Münzen glitzerten und blickte dabei mehrmals nervös über ihre Schulter, „Und dann verschwinde! Wenn man mich hier mit dir sieht...“
„Behalt dein Gold, Parkinson“, presste Tracey hervor und fragte sich, wieso sie es nicht einfach nahm.
Es konnte doch nur zu ihrem Vorteil sein. Doch gleichzeitig hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, die verdächtig nach Angelina Johnson klang. Typisch Slytherin. Aus allem nur den eigenen Vorteil ziehen.
Pansy schnaubte unterdessen laut und drückte Tracey in den Schatten einer Telefonzelle der Muggel.
„Hör zu, ich mochte dich echt, aber das hier ist alles, was ich tun kann!“, zischte ihre ehemalige Freundin und kniff die Augen zusammen, was ihr rundes Gesicht nur noch mehr betonte, „Ich kann dir das geben, vielleicht hilft es dir beim Beschaffen von... was weiß ich, Zutaten für Zaubertränke oder sonst was – nein, lass mich ausreden! Mach dir keine Sorgen um deinen Stolz, das Gold gehört nicht mal mir! Es war bei dem Scheiß, den sie dem letzten Flüchtigen abgenommen haben, aber wieso sollte man Gold konfiszieren... das ist für Ermittlungen wertlos, oder? Deshalb hab ichs mitgenommen und den anderen Quatsch, Zauberstäbe und alles, liegen lassen. Also nimm schon!“
Ehe sie sich versah, drückte Pansy ihr die Münzen in die Hand. Tracey blieb mit verdutztem Gesichtsausdruck stehen und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Daphne, die gutmütige, vielleicht ein wenig zickige aber im Grunde gutmütige, Daphne hatte ihr die Haustür vor der Nase zugeschlagen und ausgerechnet Pansy hatte den Schneid, ihr auch noch Geld zu schenken.
In was für einer verkehrten Welt war sie hier gelandet?
„Danke“, brachte Tracey nur hervor, überrascht und irgendwie ein bisschen gerührt. Obwohl es doch nur Geld war. Sie hatte seit Jahren kein echtes Zaubergeld in der Hand gehalten.
„Gern“, erwiderte Pansy und räusperte sich verlegen, ehe sie flehend hinzufügte: „Und jetzt verschwinde, bevor man dich noch sieht! Du darfst nicht mehr zu mir kommen, okay? Ich arbeite jetzt im Ministerium. Das ist zu gefährlich – für uns beide!“
Tracey nickte langsam. Sie hatte nicht mehr erwartet und doch spürte sie, wie tief in ihr ein kleiner Funken Hoffnung erlosch.
Pansy entschied sich natürlich für ihr gewohntes Leben – hatte sie etwas anderes erwarten können? Was sollte sie schon tun? Tracey begrüßen, sich über den Besuch freuen, die Tasche packen und mit ihr ins Exil gehen? Ganz bestimmt nicht Pansy Parkinson! Es grenzte ja schon an ein Wunder, dass sie ihr überhaupt geholfen hatte. Und wenn Tracey so darüber nachdachte, hätte sie sich selbst kaum anders verhalten.
Doch damit gab es auch endgültig niemanden mehr, an den sie sich hätte wenden können. Na ja, abgesehen von ihrer neuen Adresse: Astoria Greengrass.
Als Pansy herumwirbelte und disapparierte, atmete Tracey die Luft aus, die sie bis eben noch angehalten hatte und betrachtete das Geld in ihrer Hand. Eine Galleone, drei Sickel und zwölf Knut. Das war nicht viel, aber mehr, als sie bisher gehabt hatten.
Langsam ließ sie es wieder in die Hosentasche gleiten und spürte, während sie den Kopf gegen den kühlen Wind senkte, dass sich etwas Nasses den Weg über ihre Wange bahnte.
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