von SynthiaSeverin
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Hustenreiz nachließ und Sarah wieder durchatmen konnte. Zu lange hatte der Knebel, den man ihr nach dem letzten Verhör in den Mund gestopft hatte, ihren Rachen ausgetrocknet. Noch immer schüttelte sie ein leichtes Zittern, als ihre Atmung wieder gleichmäßig ging. Doch rührte das Beben weder von ihrem Husten, noch den schmerzenden Gelenken her und auch nicht von ihrem Magen, der vor Hunger knurrte. Es waren ihre Nerven, die dieses Zittern erzeugten. Das Vehikel ihrer Psyche, die in der letzten halben Stunden eine Irrfahrt durch alle Emotionen genommen hatte. Emotionen, die unter der Last der mächtigsten von ihr, der Angst, grotesk verzerrt und ins Extreme gesteigert waren. Verwirrung, Erleichterung, Dankbarkeit, Ekel, Ohnmacht, Kampf und vor allem Furcht hatte sie durchlebt. Unbestimmte, diffuse Furcht; Furcht betatscht zu werden und Furcht, besiegt zu werden, die Festung in ihrem Geist nicht mehr halten zu können.
Vom einstigen Traum einer Flucht war nichts geblieben, als Sarah den Todesser wiedererkannte. Vom ersten Augenblick an hatte sie nur die nackte Angst beherrscht. Angst, nun in doppelter Münze heimgezahlt zu bekommen, was beim letzten Mal versäumt worden war. Sie kannte die Todesser. Sie waren alle gleich. Zumindest dachte Sarah das bis vor Kurzem. Sie scherten sich nicht um sie. Und sie selbst war zu schwach zum kämpfen. So war ihr süßer Gedanke von Freiheit, der ohnehin nur eine fixe Idee zur Beruhigung ihrer Seele gewesen war, wie Rauch im Wind zerstoben, als sie das Gesicht im Türrahmen erblickte. Doch was immer Sarah befürchtet hatte, es war anders ganz gekommen – und hatte den Fingerabdruck eines ganz neuen Eindrucks in ihr hinterlassen.
Wasser. Im Glas schlug die Flüssigkeit noch immer in leichten Wellen gegen den Rand, als Sarah es entkräftet auf dem Boden absetzte. Ihre Finger wollten sich nicht lösen, verkrampften sich unwillkürlich darum als würde sie nie wieder ein Wasserglas zu fassen bekommen, wenn sie dieses hier losließe. Wasser! Wasser in dieser durstigen, staubigen Einöde, in der einem das geballte Küchentuch den Mund austrocknete. Wie eine lang in der Sommerdörre vergessene Pflanze, die endlich jemand gegossen hatte, fühlte sich Sarah. Doch war es nicht einmal ihre ausgetrocknete Kehle, die diese Flüssigkeit aufsog wie ein Schwamm. Dieser erlösende Regen fiel noch auf einen ganz anderen Boden.
Jemand hatte sie genährt. Jemand hatte sie gepflegt. Jemand hatte sie versorgt in dieser schmerzerfüllten, trostlosen Dunkelheit ihres Gefängnisses, in dem sie doch nicht mehr war als weggekehrter Dreck. Dieser Gedanke ließ Sarah nicht los, brannte sich wie ein Brenneisen in ihr Gehirn. Jemand hatte sich um sie gekümmert! Vorsichtig und ganz benommen vor Erschöpfung und Erleichterung, in die sie gefallen war, als die Türe ins Schloss fiel, fuhr sich Sarah über die Haut ihrer Handgelenke als könne die kleinste Berührung ihre Wunden wieder zum Bluten bringen. Konnte es denn Wahrheit sein, dass sie geheilt geworden war? Dass jemand sich um ihr Wohl geschert hatte? Jemand von denen, für die sie doch nicht mehr war als ein Vieh, das sie nur am Leben erhielten, bis sie ihr Wissen endlich abgemolken hatten? Ungläubig wiegte Sarah den Kopf. All das erschien ihr mehr wie eine jener wirren Halluzinationen, die einen hier unten überfielen, wenn man in dieser Stockfinsternis ausharren musste und vor Knebeln und Fesseln weder sprechen noch sich rühren konnte. Und doch, die heile Haut unter ihren Fingern, die weder schmerzte noch sich klebrig und feucht anfühlte vor Blut, bewiesen ihr, dass sie nicht träumte. Auch wenn Sarah nachwievor zitterte vor Angst, die nicht aus ihrem Nacken weichen wollte, noch immer Zuckungen durch ihren gemarterten Körper rauschten.
Das Antlitz des Mannes schwebte vor ihren Augen wie ein Kippbild, changierend zwischen wollüstigen Blicken, die widerwärtig über ihren Körper glitten und dem konzentrierten Augen eines Heilers, der ihre Wunden mit Diptam versorgte. Zwischen Lippen, die ein sanftes „Hier“ sprachen und welchen, die sie anschrien und ihr Drohungen zuriefen. Dieses Gesicht mit den dunklen Augen, den fettriefenden Haare, der groben Hakennase. Es kam ihr vor wie ein Januskopf, der sich schnell zum Guten, schnell sich zum Bösen wandeln konnte. Und Sarah wusste nicht, war es Angst oder Geschütztsein, was sie in Gegenwart dieses Mannes empfand? Wer war er überhaupt, dass er sich ihr gegenüber so widersprüchlich verhielt? Konnte es einen Todesser geben, der noch einen Funken Menschlichkeit besaß, den es nur zu schüren galt?
In tiefes Grübeln versunken, hob Sarah erneut das Glas und gönnte sich einen weiteren Schluck klaren Wassers, das ihren vernebelten Geist reinwaschen sollte. Und all dem Chaos ihrer Gefühle, dem Blankliegen ihrer Nerven und vor allem all ihrer Vernunft zum Trotz, die aus den Begegnungen mit den Todessern längst ihre Lehre gezogen hatte, begann in Sarah eine neue Hoffnung zu keimen. Mit schwindelnden Sinnen blickte sie in Richtung der Tür, die in der Dunkelheit mehr eine Vorstellung als Materie war. Und während sie so ins Dunkel blickte, begann ihr Kopf ihr seine eigene Geschichte vorzuspielen, die Sarah neuen Mut und Lebenswille einflößte: Er würde wieder kommen. Er würde sie finden in der Stunde ihrer schlimmsten Not. Und obgleich er sie bedrohte und lüstern begaffte, wäre er derjenige, der sich um sie kümmern würde. Auf mehr als einen zwielichtigen Helfer konnte sie hier unten nicht hoffen. Was blieb ihr anderes übrig als sich an diesen zu wenden? Der Tagtraum begann sich vor Sarahs ermüdeten Augen von der Leinwand zu lösen und Gestalt anzunehmen.
Abermals brannte sich ihr das Gesicht des Mannes tief ins Gedächtnis. Und sie beschloss erneut, nach ihm Ausschau zu halten. Diesmal aber aus anderen Gründen. Nicht nur der Anzeichen von Schwäche wegen, die Sarah mit einem gezielten Schlag für ihre Flucht ausnutzen konnte, sondern auch um zu wissen, wo ein rettender Anker in diesem Meer aus Qualen war. Sie würde nach ihm suchen, wie nach einem Licht in der Finsternis, einem Sturmfeuer auf rauer See. Wenn sich an ihn hielte, dann wäre sie gerettet. Für den Moment freilich nur. Doch Momente wogen hier unten Gold.
Zu hastig stellte Sarah das Glas zurück auf den Boden, so dass es klirrend umfiel und der letzten Rest Wasser sich über ihre Hand ergoss. Tief in sich spürte sie, dass etwas in Wallung geraten war. Dumpf wie ein Beben in der See, das erst noch zur Oberfläche dringen musste. Sie atmete ein und hatte den Hauch einer Ahnung schon wieder vergessen.
„Sonderbarer Mann“, murmelte Ollivander nach einigen stillen Minuten. Doch Sarah hörte nicht zu.
„Severus Snape“ flüsterte sie nur wie ein Mantra, wie eine Gebetsformel, „Severus Snape“
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