von SynthiaSeverin
„Se-ver-us“
Die Stimme schien von weit her zu kommen. Hallend, gebrochen, mehr ein Flüstern, nein, ein Wimmern als Worte. Eine Gänsehaut breitete sich über seinen Rücken aus, als er ihr durch die Korridore folgte. Sie flehte, sie rief nach ihm. Vom dem glockengleichen Klang, der einst die Schatten seiner Kindheit vertrieb, war nicht mehr als kläglicher Hauch geblieben. Bald würde er verweht werden. Sie. Sie würde wie eine Kerze im Wind vergehen, wenn er nicht rechtzeitig zu ihr käme. Dem Wahnsinn nahe irrte Severus durch das Labyrinth der dunklen Gänge, die nie zu enden schienen. Warum konnte er nicht zu ihr gelangen? Er musste sie doch retten. Sie rief nach ihm! Endlich sah er die Tür. Narzissas Kopf wich zurück. Der Schlüssel in seiner Hand blitze auf. Wie war er dorthin gekommen? Er wusste es nicht. Er konnte nichts mehr denken, als ihn plötzlich ein markerschütternder Schrei zusammenfahren ließ. Ein Schrei in ihrer Stimme. Panisch firmelte Severus an der Türe. Doch er bekam sie nicht auf. In heller Aufregung zog er den Zauberstab. „Alohomora!“, schrie er. Endlich, endlich sprang die Türe auf. Das eiserne Schloss gab quietschend nach, öffnete seinen angstgeweiteten Augen das Innere der schauderhaften Folterkammer. Es war ein Anblick des Grauens. Da lag sie, unter Krämpfen sich windend, während ein irres Gackern, das von nirgendwo her zu kommen schien, sich an ihrem Martyrium weidete. Severus spürte das Blut in seinen Adern gefrieren, als er über die Schwelle trat. Sein Herz raste, nur um dann in eine bodenlose Tiefe zu stürzen. Ihr Gesicht unter dem wirren, roten Haar war im Schmerzschrei verzerrt. Doch als er sich ihr näherte, glommen ihre grünen Augen plötzlich in gänzlicher Klarheit auf. Klar und vorwurfsvoll.
„Du?!?“, sprach sie und sah ihm mitten ins Gesicht. Wie ließ dieser Ton doch jeden altvertrauten Liebreiz missen, „Du hast mich verraten!“
„Nein“, keuchte Severus erstickt und spürte wie die Lüge ihm einen Stich versetze. Sie aber hörte nicht zu. Wie ein Donnerwetter prasselte ihre Anklage auf ihn ein.
„Du hast mich hier eingesperrt. Du hast mich im Stich. Du hast mich vergessen!“
Unfähig, sich zu rühren, starrte Severus sie an. Unter der Folter war sie nur noch ein Zerrbild ihrer selbst und der Gedanke, an dem all dem Schuld zu tragen, brannte wie Feuer.
„Nein, das habe ich nicht“, versuchte er sich zu verteidigen – vergebens. Ein letztes Mal fuhren ihre blassen, spröden Lippen auseinander, gerade als er auf sie zustürzten wollte, um ihre Hand zu greifen.
„Du hast mich gefoltert!“, sagte sie kalt und stieß ihn hart von sich weg. Fassungslos wollte Severus etwas sagen, ihr widersprechen. Doch in diesem Augenblick wurde er nach hinten gerissen. Ein gellender Schrei zerschnitt grauenvoll die Luft, als ein erneuter Cruciatusfluch ihren Körper zum Beben brachte.
„NEIN“, schrie Severus aus Leibeskräften, „NEIN“ und hörte seine eigene Stimme als Echo an den Wänden widerhallen. Dann, einen Herzschlag später, stand alles still. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn, als er mit Entsetzen feststellte, um was sich seine im Schreck versteifte Hand schloss. Der Zauberstab, aus dem Folterfluch gebrochen war, war sein eigener gewesen.
Atmen. Als Severus die Augen aufschlug, hörte er für einen Augenblick lang nichts als sein eigenes, heftigen Atmen und den trommelnden Schlag seines Herzens. Erst nach einigen Sekunden lösten sich die steifen Muskeln seines angespannten Körpers. Schwer wie ein Sack Mehl sank er auf die abgewetzte Matratze seines Betts zurück. Der Alptraum saß ihm noch immer in den Gliedern, die nun zu kribbeln begonnen hatten. Schweißgebadet blickte Severus auf zur Decke. In der Dunkelheit waren die Balken nicht mehr auszumachen. Doch das schadete nichts. Vor seinem geistigen Auge flirrten ohnehin noch immer schemenhaft die Fetzen seines Alptraums vorüber. Welch sonderbare Blüten die jüngsten Ereignisse trieben. Er hatte Lily gefoltert. Bei Merlin! ER! SIE! Und doch, steckte nicht ein Funke Wahrheit in all dem? War es nicht er gewesen, der diese Frau, die ihr so grausam ähnlich sah, in jenem stickigen Gefängnis im Keller der Malfoys zurückgelassen hatte? Die Schatten um Severus‘ Bett schienen über ihn Gericht zu halten. In der Stille der Kammer meinte er ein Wispern zu hören, das ihn schuldig sprach. Schuldig der Feigheit in seiner Verwirrung vom Ort des Geschehens einfach abzuhauen, anstatt ihr zu helfen. Lily zu helf- Nein! Severus presste plötzlich die Augen zu und warf seinen Kopf energisch aufs Kissen. Ein für alle Mal: Nein! Diese Frau war nicht Lily. Basta. Ja, Lily mochte vielleicht eine Doppelgängerin haben. Na und? So etwas war selten, aber es kam vor. Kingsley und Weasley hatten nach Dumbledores letzter Mitteilung doch herausgefunden, dass in der Mysteriumsabteilung eine Miss Falls angestellt war, auch wenn sie nichts Näheres zu ihr sagen konnten. Zum Kuckuck also mit all den Fragen. Diese Frau sollte ihn nicht mehr interessieren als Olivander. Wann würde sein mattes Hirn dies endlich begreifen?
Seine Vernunft aufsammelnd, die während des Schlafs irgendwo zwischen den Fusseln und Federn von Kissen und Laken verlorengegangen sein musste, rollte sich Severus aus dem Bett und lichtete mit einem Schlenker seines Zauberstabs die löchrigen Jalousien zur Straße. Das graue Morgenlicht, erstaunlich klar für die verwinkelte Gasse, strömte durch die Scheiben und erhellte das Zimmer bis in den letzten Winkel. Kurz geblendet hob Severus die Augenbrauen und rieb sich die letzten Schleier seiner Träume aus den Augen. Offensichtlich hatten die Dementoren beschlossen, diesen Morgen ihren Nachwuchs woanders auszubrüten. Denn die Lichtverhältnisse konnten nur auf einen strahlenden, sonnigen Tag jenseits der schmutzigen Pflastersteine von Spinner’s End hindeuten. Mit einem Gähnen, das die letzte Müdigkeit verscheuchte, wandte Severus den Blick um zur Wand über dem Schreibtisch. Der magische Kalender zeigte in goldener Schnörkelschrift Mittwoch, den vierzehnten August an. Drei Tage waren verstrichen, seitdem Severus aus der Malfoy Manor geflohen war. Drei Tage, in denen er sich mit der Ausrede wichtiger Zaubertrankzubereitungen und dem Aushorchen seiner maskierten Kollegen erfolgreich vor seiner Aufgabe gedrückt hatte. Drei Tage, die er jede freie Minute damit verbracht hatte, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen; das Erlebnis unter Einbeziehung all seines Wissens über die Geschehnisse systematisch zu analysieren; schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass er es mit einer Doppelgängerin zu tun hatte und seiner zermarterten, widerspenstigen Seele, die die Hoffnung nicht fahren lassen wollte, diese nüchterne Wahrheit mit Gewalt einzuprügeln.
Für einen Moment noch musterte Severus den Kalender, während er sinnend die Stirn runzelte und so manchen Gedanken durch seinen Kopf streichen ließ. Dann kniff er die Augen zu, fasste sich ein Herz und traf einen Entschluss. Mit einem Ruck wandte er sich um, ließ Zauberstab auf die Tür gerichtet durch die Luft sausen und rauschte in den Flur.
„WURMSCHWANZ! Frühstück! Und meine Robe aus der Waschküche!“, donnerte er durchs Treppenhaus, bis er einen kleinen, grauen Schatten die Stufen hinab flitzen sah. Drei Tage waren wahrlich genug Zeit.
Severus legte seine Lippen aufeinander und spürte dem Geschmack seines hastigen Frühstücks nach, als er zwischen den Brombeersträuchern vor dem Anwesen zum Stehen kam. Der Kaffee war an diesem Morgen bitter gewesen. Und der Gedanke, hierher zurückzukehren, bekam Severus nicht. Wie ein Stein lag ihm dem Auftrag im Magen. Doch jeder weitere Aufschub war ein neuerlicher Verlust kostbarer Zeit. Also machte sie Severus ohne Aufenthalt auf den Weg. Der Wind spielte in den Bäumen, die Zweige wiegten sich in der Brise und ließen ein geheimnisvolles Blätterrascheln ertönen, als er die Zufahrt passierte. Wohl fühlte Severus sich nicht in seiner Haut, dem herrlichen Sommertag zum Trotz. Er konnte nicht sagen, dass er gut auf das Kommende vorbereitet war, auch wenn er seinen Geist nach bestem Wissen und Gewissen von allen verräterischen Gedanken und Gefühlen geleert hatte. Doch es gab Dinge, die selbst seine Okklumentik an ihre Grenzen brachten, auch wenn Severus vor einer Woche noch nicht einmal gewusst hatte, wo diese lagen. Er konnte nur hoffen, dass er der Gefangenen heute mit mehr Fassung begegnen würde als vor wenigen Tagen. Bei einem weiteren Versagen würde er seinen Kopf nicht mehr so leicht aus der Schlinge ziehen können. Zum Glück hatte er von Dumbledore nur die Instruktion erhalten, herauszufinden, ob diese Unsägliche irgendetwas über die Wiederherstellung von Prophezeiungen wusste, nicht was noch wie dies konkret vonstattenging. Es ging nur darum, zu klären, ob Falls sich erpressbar machte und die Gefahr bestände, dass der Dunkle Lord durch seine Schergen mehr erfahren könnte als er sollte. Das Wissen selbst aus ihr herauszupressen, war indessen für die Belange des Phönixordens unwichtig. Und Severus war dies allzu Recht. Nicht nur, weil er so vermutlich wesentlich weniger Legilimentik einzusetzen brauchte. Nein, seinetwillen konnte die Prophezeiung gut und gerne im Staub des ewigen Vergessens vermodern und ihm nie wieder entsteigen. Zum millionsten Male verfluchte er den Tag, an dem an der Tür des Hinterzimmers gelauscht hatte. Dann hob er die Hand und klopfte an. Er hatte den Fußabtreter vor der Manor erreicht.
Es dauerte nur Sekunden, bis Narzissas blasses Gesicht im Türrahmen erschien. Ihre Augen funkelten ihn mit einer Melange aus Verwunderung und Freude an, die keinen Zweifel ließ, dass er nicht erwartet worden war.
„Severus, du hier?“, fragte sie ein wenig überrascht.
„Ja, ich hatte dir doch am Sonntag geschrieben, dass ich mich unseres Gastes annehmen würde, sobald ich Zeit dazu fände. Heute habe ich Zeit“, entgegnete er und betrachtete ihre schlanken Finger, die sich um den Türknauf wandten, während sie einen kurzen, nervösen Blick zurück in den Flur warf. Diese Geste war es, die Severus das Runzeln auf die Stirn trieb.
„Ich komme doch hoffentlich nicht ungelegen?!?“, frage er und versuchte an ihr vorbei ins Haus zu spähen. Doch Narzissas Kopf fuhr schneller zu ihm um als er Gelegenheit hatte, etwas zu sehen.
„Oh Nein“, entgegnete sie und trat zur Seite, „Komm herein.“
Das Erste, was Severus im Foyer des alten Herrenhauses empfing, war eine tiefe, nur vom Schnarchen der Porträts unterbrochene Stille.
„Und wir sind wirklich allein?“, hakte er zur Sicherheit doch noch einmal nach, während er seinen Blick über Lucius‘ Ahnen schweifen ließ.
„Wenn du meine Schwester oder sonst jemanden aus dem Kreis meinst, dann ja“, erwiderte sie. Im Halbschatten der Fackeln trafen Severus‘ Augen auf die von Draco Malfoy, der vor einer der schweren Türen stand und ihn finster anstarrte. Zeitgleich ertönte ein Zischen. Ein flüchtiger Seitenblick verriet ihm, dass Narzissa ihrem Beobachter eine nur mit Gesten erklärte Standpauke hielt. Mit mürrisch verkniffenem Mund wandte Draco sich um und verschwand hinter der Tür. Severus musste lächeln. Ein Streit zwischen Mutter und Sohn also. Das erklärte natürlich Narzissas offenkundige Verlegenheit und beruhigte Severus zugleich. Familienzwist ging ihn nichts an. Ihn interessierte nur, ob Todesser im Haus waren. Eines Besseren versichert ließ er sich von der Gastgeberin noch auf eine Tasse Earl Grey einladen und bereitete sich mental auf seine Aufgabe vor.
Wenig später befanden sie sich auf der Treppe hinter der Tür, durch die Draco zuvor verschwunden war. Mit jeder Stufe kamen sie dem Keller näher. Severus spürte trotz Okklumentik seine Anspannung wachsen, als ob er in die Höhle eines Höllenhundes hinabstieg. Wie ein Mantra sprach er sich immer wieder vor, dass es sich nur um eine Doppelgängerin handle und er den endgültigen Beweis schon in ihrer Gestik, ihrer Mimik, oder etwas anderem, das sie von Lily unterschied, schnell finden würde.
„Ich bin guter Dinge, dass sie uns bald verraten wird, wie wir an die Prophezeiung kommen“, plapperte Narzissa froh gelaunt auf ihn ein, „Jetzt wo-„
Plötzlich wurde es still. Verwundert wandte sich Severus zur Schlüsselherrin der Malfoykerker um, die ihrerseits stur geradeaus schaute, als meide sie seinen Blick.
„Was wolltest du gerade sagen?“, fragte er scharf.
„-Jetzt wo du uns hilfst“, erklärte sie hastig und ließ die Schlüssel in ihrer Hand klappern, „Und wir bald auf Veritaserum hoffen können.“
Stirnrunzelnd sah ihr Severus hinterher als sie sich beeilte, die Treppe hinab zu kommen. Was sollte dieses merkwürdige, ja grotesk verdächtige Verhalten bloß bedeuten? Fast spürte Severus die Versuchung, in Narzissas Geist einzudringen. Doch sie war schon zu weit vorrausgegangen, um ihre Augen zu erhaschen.
„Außerdem warst du erfolgreicher bei ihr als Bellatrix“, schallte es von unten herauf und wischte Severus‘ Gedanken mit einem Mal beiseite, ‚Du bist ein guter Legilimentiker‘.
Das Kompliment, das ihn unter anderen Umständen mit Stolz erfüllt hätte, bekam in diesen Hallen eine ebenso zweifelhafte Natur wie Dumbledores Lob seines Muts auf dem Weihnachtsball vor eineinhalb Jahren. Narzissa erhoffte sich viel von ihm. Alle erhofften sich viel von ihm. Und Severus hatte die heikle Aufgabe, sie im Dämmerlicht einer vagen Aussicht auf Erfüllung zu halten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergab, sie mit einer plausiblen Halbwahrheit hinters Licht zu führen; Falls, Olivander, Bones oder wie sie alle hießen den Händen des Phönixordens zu übergeben. Doch während Olivander sein nützliches Handwerk eine gewisse Lebensversicherung einbrachte und für Bones jeder Gedanke zu spät war, stand Falls auf weitaus wackligeren Beinen. Zwei Dinge brachten jemanden, der etwas Wertvolles zu wissen schien, in Lebensgefahr: Die völlige Offenbarung seines Wissen oder die seines gänzliches Unwissens. In beiden Fällen war dieser jemand wertlos geworden und hatte zu viel gesehen, um nicht beseitigt zu werden. Darum musste Severus verhindern, dass Narzissa etwas Konkretes erfuhr. Doch wenn er sie zu lange hin hielt, dann machte er sich selbst verdächtig, zumindest der Inkompetent und die Gefahr wuchs, dass Bellatrix wieder ihren alten Platz einnahm.
Für einen Moment kniff Severus die Augen zusammen. Manchmal, das hieß meistens, hasste er seine Mission. Es war als ob man auf einem Besen reite, bei dem man links und rechts hinunterfallen konnte. Und er war nie sonderlich gut auf dem Flugbesen gewesen. Auch wenn Lily seine ungeschickten Versuche, das Gleichgewicht zu halten, mit einem versonnenen Lächeln quittierte, das ihm sagte, dass er sein Versagen nicht so ernstnehmen solle. Lily. Für eine Sekunde durchzuckte ein warmes Gefühl Severus‘ Brust. Dann schob er den Gedanken an sie mit aller Macht beiseite und wandte sich wieder Narzissa zu, deren Silhouette vor ihm im Schatten des Kellerflurs verschwand.
„Euer Veritaserum braucht noch ein paar Tage. Ich bringe es euch am Samstag vorbei“, rief Severus ihr zu, während er sie einholte.
„Ich weiß“, erwiderte Narzissa.
Dann löste sie den Schlüssel von ihrem Gürtelbund und hielt ihn ihm entgegen: „Sonntag wäre mir lieber, viel Erfolg!“
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