von SynthiaSeverin
Endlich… endlich war Severus alleine. Der Nieselregen prasselte in sein schmales, bleiches Gesicht, als er sich vor der Malfoy Manor noch einmal gegen die Säule des großen Eingangstores lehnte und dem Rascheln der Büsche hinter sich lauschte. Noch immer stand ihm das Bild der Frau in der Kammer vor Augen. So oft er es auch wegzuschieben versuchte, es kehrte wieder. Wieder und wieder und wieder. Wie ein spukender Poltergeist, der beschlossen hatte, ihn zu verfolgen. Einen letzten Blick warf Severus durch die Gitterstäbe zurück auf das Herrenhaus, auf dessen Rasen noch immer weiße Pfauen ungerührt durch den Regen spazierten. Nie war ihm das Zuhause seines alten Schulkameraden so gruselig erschienen, wie an diesem Tag, als in dessen Tiefen die Augen einer Toten ihn angeblickt hatten. Tief atmete Severus ein und im nächsten Moment stand er auf einer alten Brücke, unter der ein stinkender Fluss toste. Der Heimweg war gepflastert mit sich überschlagenden Gedanken.
Nur ein paar Schritte war Severus durch den Gestank der aufsteigenden Dämpfe des giftroten Wassers gegangen, als Ärger, purer Ärger auf sich selbst seine Adern flutete. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können? Wie hatte er sich so sehr von seinen Gefühlen leiten lassen können? So dumm sein können, sich von seinen Sinnen täuschen zu lassen? Aber war es denn wirklich ein Trugbild, eine Täuschung? Tausend Mal rief sich Severus das flüchtige Bild vor Augen, das er unten in der Kammer gesehen hatte. Fuhr wie die Linse einer Kamera näher heran, um sich zu vergewissern, dass diese Frau Lily nicht im mindesten ähnlich sah - und wich mit einem Schaudern zurück, als die grünen Augen ihn anblickten, ihn trafen wie zwei Pfeile in der Dunkelheit. Es war sinnlos, absolut sinnlos, sich einreden zu wollen, dass es auf der Welt tausend Frauen gab, die rote Haare und grüne Augen hatten. Die Vernunft krächzte nur noch kläglich aus den Fluten der Gefühle hervor, in der sie zu ertrinken drohte. Der Blick durchbohrte Severus, verfolgte ihn, den ganzen Weg zu Spinner’s End. Er spuckte auf den Boden, verfluchte die Welt, verfluchte das Schicksal, verfluchte sich selbst. Verdammt, diese Augen waren doch tot! Wie konnten sie ihn da nur anblicken? War es nicht genug, dass sie ihm andauernd in den Fluren von Hogwarts begegneten? Mussten sie ihn nun auch außerhalb der Mauern des Schlosses heimsuchen? Merlin! Er konnte sie nicht ansehen. Die stumme Anklage in ihnen nicht ertragen. Es war doch alles seine Schuld!
Plötzlich blieb Severus stehen.
Und was wäre wenn…
Was wäre, wenn Lily vielleicht auf merkwürdige, sonderbare Weise überlebt hätte? Wenn sie eine andere Identität angenommen hätte? Wenn sie sich nun Sarah Falls nannte und sich vor den Todessern all die Jahre versteckt gehalten hatte?
Snapes Herz donnerte vor plötzlicher Aufregung heftig gegen seine Brust. Erneut trat Schweiß auf seine Stirn, während seine Sinne in einem Strudel wild ineinander rauschender Gefühle zu schwinden begannen.
Und er hatte sie ihrem Schicksal, dem Dreck, in der schäbigen, dunklen Kammer überlassen! Er hatte abermals nicht aus den Händen der Todesser befreit!
Nein, nein… Schluss, Ende! Dieser Gedanke war blanker Irrsinn. Eine Wahnidee, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Er durfte sich ihr nicht hingeben. Wie oft in den vergangen Jahren war er in mancher dunklen Stunde dem verbotenen Wunschtraum nachgehangen, dass sie vielleicht irgendwie doch noch leben könnte. Aber Lily war tot. Punkt. Aus. Daran gab es nichts zu rütteln. Alles andere waren nicht mehr als verzweifelte Spinnereien und traurige Erinnerungen, die ihm, ihrem Mörder, gefälligst nicht zustanden. Nur sentimentale Schwächlinge, naive Kinder und Feiglinge, die vor ihrer Schuld zu fliehen versuchten, gaben sich solch lächerlichen Träumereien hin. Schlimm genug, dass er in der Malfoy Manor den Kopf verloren hatte. Nie, nie hätte er eine solche Schwäche zeigen dürfen. Wütend umklammerte Snape seinen linken Arm, so fest bis es wehtat, als wollte er sich für die Kapitulation vor Lilys Doppelgängerin bestrafen.
Endlich kamen seine Füße vor dem letzten Haus in der schmalen Gasse des Fabrikarbeiterviertels zum Stehen. Die Fenster waren dunkel und kein Geräusch drang hinaus auf den Weg. Snape hob die Augenbraue, zog den Zauberstab und trat ein. Im Haus herrschte Totenstille. Skeptisch blickte er sich um. Von Wurmschwanz war keine Spur zu sehen. Sollte er tatsächlich außer Haus sein?
„Homenum revelio“, rief Snape.
Nichts.
„Accio Ratte!”
Ein kleines Fellbündel schwebte unter der Spüle hervor und landete Severus vor den Füßen. Es war fast noch ein Jungtier und seine Tatzen gänzlich unversehrt. Mit verdutzten Augen blickte es auf. Snape funkelte böse zurück, biss die Zähne zusammen und beförderte es vor die Türe.
„Elende Bruchbude“, murmelte er, während er sich auf einen der Sessel im Wohnzimmer fallenließ. Jetzt hatten sich auch noch Ratten hier eingenistet. Doch von der schlimmsten Plage war keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich trieb Wurmschwanz sich irgendwo in den Kanallöchern des Viertels herum oder – ein hämisches Grinsen kräuselte Snapes Lippen – die Straßenkatzen wie dieses verlumpte Drecksvieh von nebenan, hatten endlich doch noch zugeschlagen. Was auch immer sein Schicksal gewesen sein mochte, Severus war die Abwesenheit seines unliebsamen Mitbewohners nur Recht. Seinetwegen konnte er bleiben, wo der Pfeffer wächst. So hatte er wenigstens hier Zeit zum Durchatmen und kam nicht in Erklärungsnot. Reichte auch, dass er nachher noch Albus würde Bericht erstatten müssen. Albus… verflucht! Er hatte ihm den Auftrag erteilt, bei Falls Legilimentik einzusetzen. Und was war geschehen? Severus hatte es vermasselt! Sich von melancholischen Erinnerungen in die Knie zwingen lassen. Na das würde aber ein schönes Gespräch werden. Zum Teufel… zum Teufel mit allem!
Für einen Augenblick dachte Snape darüber nach, wieder zurück vor die schmiedeeisernen Tore zu apparieren, sein Glück erneut zu versuchen. Doch er verwarf den Gedanken so schnell wie er aufgeblitzt war. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Was würde Narzissa wohl sagen, wenn er wieder vor ihrer Türe stehen würde, um Falls einen erneuten Besuch abzustatten? Bellatrix, wenn sie noch dort war, würde vielleicht Verdacht schöpfen. Und hätte er überhaupt die Nerven, diesen grünen Augen noch einmal zu begegnen? Allein der Gedanke ließ ihn erschauern. Ob im Guten oder im Schlechten konnte Severus nicht sagen. Doch er wusste, dass er sich nicht würde konzentrieren können. Dass die Chancen, etwas herauszufinden, zu gering und der Preis, die Gefahr sich selbst zu verraten, zu hoch waren, um den Versuch heute noch einmal zu wagen. Lange würde er nicht vor den roten Haaren und den grünen Augen und den Stürmen, die beide in ihm heraufbeschworen, fliehen können. Dessen war er sich sehr wohl bewusst, mehr als ihm lieb war. Doch wenn er in die Malfoy Manor zurückkehren würde, dann musste er vorbereitet sein. Er würde seine Gedanken sortieren und mindestens eine Nacht darüber schlafen müssen, sollte das Vorhaben nicht wieder scheitern.
Geistesabwesend ließ Severus die verborgene Tür im Bücherregal aufspringen und schritt langsam die alten Treppen hinauf zu seinem Schlafzimmer. Die Berge aus Staub und Tapetenresten, die sich an den Rändern aufgetürmt hatten, waren verschwunden. Blank blitzten die kalten Steine unter seinen Schritten auf, erschienen fast wie neu. Snape blickte verwundert auf sie hinab. Wurmschwanz hatte also tatsächlich einmal einen Befehl ausgeführt. Welch Kuriosität in diesem Hause. Und doch, jetzt wo Severus das gefegte, saubere Treppenhaus erblickte, da wünschte er sich fast, der Teppich aus Staub und Spinnenweben und zerfallenen Erinnerungen würde noch immer die Stufen bedecken. Er hatte es nie bemerkt, doch im Dreck hatten seine Stiefel immer festen Halt gefunden. Jetzt allerdings, auf der blanken, klaren Ebene, von der der Staub der Jahre gewichen war, da schien er zu straucheln und taumeln und beinahe auszurutschen. Fast so, als hätte er verlernt, sich auf klarem Parkett zu bewegen. Fast so, als bräuchte er Finsternis und Morast, um sich zurechtzufinden.
Schnell passierte Severus die Tür zu seinem Zimmer. Er hatte kaum einen Fuß auf die Dielen gesetzt, da entdeckte er auf dem Boden vor dem Bett ein kleines, vergilbtes Papier. Daraus lachte ihm ein rothaariges Mädchen entgegen. Ein unerklärliches Zittern ergriff seinen Körper, als er dem Kind in die Augen blickte. Blitzschnell packte er das Foto weg und starrte ins Leere. Es war ihm, als konnte er den Blick nicht ertragen, als wollte eine Mauer in ihm einstürzen wie ein Kartenhaus. Dann, von einem Moment auf den anderen, stand er wieder auf. Bis zum Abend, wenn die Flammen grün aufloderten und Dumbledores Gesicht darin erscheinen würde, war es noch eine Weile hin. Er brauchte Zerstreuung. Er brauchte Ablenkung. Und es gab nur eine Sache, bei der er wirklich abschalten konnte.
Schnell ließ Severus das obere Stockwerk wieder hinter sich und betrat die Küche. Bald schon zischten glühende Flammen auf und ein Messer glitt dazu flink im Takt über ein Schneidebrettchen. Unbemerkt sollten die Stunden dahin schmelzen, wie die Affodillwurzeln im Wermutaufguss.
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