von SynthiaSeverin
Ungläubig starrte Sarah auf den Türschlitz. Was war geschehen? Was war passiert? Ihr Geist wand sich, unfähig das sonderbare Schauspiel zu begreifen, das sich vor ihrer Nase abgespielt hatte. Der Todesser war vor ihr vor ihr davongelaufen. Er war geflohen. Tatsächlich geflohen. Warum? Würde er zurückkehren? Würde er die Anderen holen? Doch er war so schnell weg gewesen. So plötzlich. Was ging hier überhaupt vor sich? Halluzinierte sie oder war es wirklich wahr, was ihre Augen gesehen hatten?
Einige gebannte Schrecksekunden lang kauerte Sarah noch zittrig in ihrer Ecke und fixierte die Tür. Sie wartete. Wartete darauf, dass irgendetwas geschehen würde. Irgendetwas musste geschehen. Doch das Türschloss klackte nicht wieder. Dann nach einer gefühlten Ewigkeit atmete sie aus. So tief wie selten zuvor in ihrem Leben. Mit einem Schlag fiel die Anspannung von ihrem Körper und erschöpft sackte Sarah zu Boden.
Alle Fragen, die ihr durch den Kopf gegangen waren, ertranken mit einem Mal in einem Meer tiefer Erleichterung. Sie wollte die Antwort nicht mehr wissen, nicht in diesem Moment. In diesem Moment fühlte sie nur Dankbarkeit, tiefste Dankbarkeit. Dankbarkeit, verschont worden zu sein. Keine Schmerzen, keine Flüche, kein Ankämpfen müssen gegen den Drang, aufzugeben, es einfach nur beenden zu wollen. Sie wusste nicht, welches Schicksal, welche höhere Macht sie gerettet hatte, doch sie flüsterte tausend Dankesworte in die Stille. Die Stille der kleinen, ewig finsteren, stickigen Kammer, in der sie eingesperrt war und auf deren hartem Steinboden sie gerade lag, die Augen geschlossen.
Es dauerte eine Weile, bis Sarah wieder Kraft fand, sich aufzusetzen. Wie tief sie atmete, bemerkte sie selbst erst, als sie sich wieder aufrichtete. Ihr Rock raschelte auf dem Boden. Oder war es die Ratte, die sich an ein paar alten Holzkisten in der anderen Ecke des Raumes zu schaffen machte?
„Haben Sie Hunger, Miss?“, drang auf einmal die leise Stimme Garrick Ollivanders durch die Dunkelheit zu ihr herüber, „ich habe noch etwas Brot übrig.“
Sarahs Magen rumorte.
„Nein, vielen Dank, Mister“, antworte sie leise.
Und dann, auf einmal kehrten die Fragen wieder zurück.
„Wer war nur dieser Mann?“, dachte Sarah laut in die Finsternis hinein, während das Geräusch vom Auseinanderbrechen trockener Brotscheiben die Kammer erfüllte.
Für einen Moment vergaß sie, dass sie nicht allein war.
„Severus Snape“, antwortete eine alte Männerstimme plötzlich.
Kurz zuckte Sarah zusammen. Dann besann sich wieder ihres Zellengenossen.
„Sie kennen ihn?“, fragte sie verwundert.
„Ebenholz, 12 ½ Zoll, nicht biegsam, Drachenherzfaser“, Olivander seufzte, „ich erinnere mich an jeden Zauberstab, den ich verkauft habe, Miss… an jeden. Und diesen verkaufte ich an Severus Snape vor mehr als 20 Jahren. Wenn ich nur gewusst hätte, was so viele meiner guten Zauberstäbe in der Welt anrichten…“
Sarah senkte den Blick. Ollivander brauchte nicht weitersprechen. Der Schrecken dieses Krieges saß auch ihr in den Knochen. Unauslöschlich eingebrannt.
„Guten Appetit“, flüsterte sie ihm zu, „Überlassen Sie es nicht der Ratte.“
„Oh, die ist nicht mehr hier. Sie ist vorhin durch die Türe hinaus, als Mister Snape gerade hereinkommen war“, antwortete der Zauberstabmacher.
Doch Sarah hörte ihn nicht mehr. Ihre Gedanken kreisten noch immer um den Todesser, der sich so merkwürdig verhalten hatte. Wer war nur dieser Mann? Ein wenig fühlte Sarah sich fast schon dankbar ihm gegenüber. Dankbar dafür, verschont worden zu sein. Dankbar, obwohl ihr Verstand rebellierte. Obwohl sie doch genau wusste, dass dieser Mann sie gefoltert hätte, hätte ein rätselhafter Zufall dies nicht verhindert. Und doch stand ihr noch immer sein Bild vor Augen. Tief eingebrannt in ihren Kopf war seine Erscheinung, schien sie einfach nicht loszulassen zu wollen. Fast so, als versuchte ihr Geist sich sein Gesicht tiefer und tiefer einprägen, um einstweilen, wenn die Tür zur Kammer sich das nächste Mal öffnen würde, nach ihm suchen, wie nach einem Licht in der Finsternis, einem Sturmfeuer auf rauer See.
Sarah verstand sich selbst nicht mehr. Das unerklärliche Verhalten des Todessers bereitete ihr Angst, tiefe Angst. Wie alles Plötzliche, Unerwartete hier unten Furcht in ihr heraufbeschwor. Denn schlimmer als die Schrecken, auf die man sich einstellen konnte, waren die Schrecken, die sich hinter Schleiern verbargen und plötzlich zuschlugen, wie ein Tier, das in der Nacht lauerte. Und doch… es war merkwürdig. Beinahe schien Sarah darauf zu bauen, dass das geheimnisvolle Verhalten dieses Todessers irgendeinen tieferen Sinn ergeben würde, den sie finden würde, wenn sie nur lang genug grabe. Einen Grund, warum er sie verschont hatte… und vielleicht wieder verschonen würde? War es das, warum all ihre Gedanken um den sonderbaren Ausgang ihrer Begegnung kreisten? Die Hoffnung, endlich ein Licht am Ende des Tunnels ihres Leidens zu sehen?
Immer leiser wisperte die Stimme der Zweifel gegen die Gefühle an, die in Sarah zu keimen begannen, je länger ihr das Gesicht des Todessers vor Augen schwebte. Ein tiefes Seufzen der Entspannung brachte sie endgültig zum Schweigen. Tiefer, immer tiefer begann sie in dem Gedanken zu wandeln, dass nicht Zufall, sondern Absicht sie heute gerettet hatten. Wie sehr hatte Sarah darauf gewartet, dass sich einmal diese Tür öffnen würde, ohne dass jemand hereinkäme, um sie zu foltern. Wie sehr wünschte sie sich, dass es noch einmal geschehen würde. Viel zu lange war sie schon gefangen, viel zu viele Folterflüche hatte sie über sich ergehen lassen müssen. Viel zu stark war unter der Dumpfheit ihres Vegetierens in der Dunkelheit und den Schmerzen ihres geschundenen Körpers die Sehnsucht nach dem Ende angewachsen. Ihre Nerven lagen blank und der Gedanke war wie ein süßes Gift der Erlösung, das ihre Sinne betäubte. Sie hatte keine Kraft mehr, dem Hoffnungsschimmer zu widerstehen, sich zu sagen, was für ein Irrsinn das war.
Benommen vom Kreisen ihrer Gedanken und der Dösigkeit, die sich allmählich auf ihre Glieder schlug, nachdem Zittern und Anspannung ihr Ende gefunden hatten, starrte Sarah ins Leere. Noch immer wollten die Fragen ihren Kopf nicht schweigen. Warum nur hatte dieser Severus Snape sie verschont? Warum war überhaupt er gekommen und nicht einer der anderen drei Todesser? Und warum war er geflohen? Was an ihr hatte ihn in die Flucht geschlagen? Tausend Geschichten, eine wilder als die andere, spann sich Sarah in ihrem Kopf zusammen und verwarf sie wieder. Ratlos blickte sie hinüber zur Türe, die schweigend und tot in der Dunkelheit stand und ihr keine Antwort gab. Sarah ahnte nicht, dass der Grund für all ihre Fragen ihr näher, viel näher war, als sie glaubte…
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