von SynthiaSeverin
Weißer Dunst… weißer Dunst, links, rechts, überall. Die Welt schien aus weißem Dunst zu bestehen. Nur schemenhaft glitten hier und da dunkle Schatten vorüber. Flüchtig, nicht wirklich zu sehen, nicht wirklich zu greifen. Doch zu hören. Grausames Lachen, wahnsinniges Lachen. Es klang als würde es aus sehr weiter Ferne kommen und schien doch unheimlich nahe zu sein. Ein verschwommenes Lachen, wie aus tausend Stimmen, ein Echo im Nebel. Das wilde Gackern einer Frau übertönte den grässlichen Chor, dann erklangen zeitgleich die Stimmen eines Mannes und einer Frau, Geschwister wohl und schließlich eine zischende, schlangenhafte Stimme, die alle anderen in Schweigen erstarren ließ. Jemand rannte durch den Nebel. Die Schatten tauchten aus dem dunstigen Vorhang hervor, wurden schärfer und düsterer zugleich. Dunkle Gestalten, die Gesichter verborgen unter weißen Masken. Der Mensch rannte noch immer. Wild hämmerte das Herz gegen die bleischwere Brust, die Stirn feucht. Er blickte zurück, blickte nach vorne. Atemlosigkeit. Dann plötzlich - eine Tür. Jemand riss sie auf. Weißer Dunst glitt durch den Rahmen. Etwas Kleines huschte über die Schwelle, nagetiergroß. Der Flur war finster. Eine dunkle Gestalt glitt hinein. Der Mensch rannte und rannte, immer schneller, schneller, schneller! Plötzlich eine Mauer, eine Sackgasse, die Falle! Wirres rotes Haar besprenkelte die fahle Wand. Aufgerissene Augen. Entsetzen. Die Gestalt hob den Zauberstab und…
„LIIILYYY“, keuchte Severus Snape schwer und fuhr auf, „Lil…Lily“.
Kerzengerade saß er auf der dem Bett, das Kissen platt im Rücken, die Stirn schweißnass. Für einen Moment starrten die schwarzen Augen ins Leere. Dann atmete Severus aus und schlug sich die Hand vors Gesicht. Es war ein Alptraum. Nur ein Alptraum. Und doch so entsetzlich wahr. Auf dem Nachttisch stand noch immer das Tablett mit dem Feuerwiskey. Das vergilbte Muggelfoto indessen war in den Staub auf dem Fußboden gefallen und halb unter das Bett gerutscht. Er konnte es gerade noch sehen, schräg zum Bein seiner Hose, in der ein schwarzes Hemd steckte. Scheinbar war er eingeschlafen, ohne es zu merken. Wie sonst hätte er vergessen können, sich umzuziehen? Sein Kopf dröhnte noch immer. Gerade wollte Severus wieder aufblicken, als plötzlich ein Schatten über den Boden huschte, sich am Ende des Betts wandte und abermals vorüberlief.
„Was zum…“
Schnell suchte er die Quelle. Der Schatten fiel vom Türschlitz her in den Raum. Ein kleines Nagetier, das davor eilig auf und ab trippelte.
„Vermaledeite Klette!“, zischte Severus. Wenn er vor dem Dunklen Lord nur nicht seine Maske wahren müsste, wenn er es nicht müsste…! Ein Glück nur, dass er sich erinnern konnte, seine Tür gestern noch mit einem Imperturbatio und Muffliato gesichert zu haben. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn die Ratte dem Flüstern seiner Alpträume gelauscht hätte. Wie spät war es eigentlich, fragte sich Severus und blickte auf.
Das Fenster zur Gasse hin war dämmerungsgrau. Frühmorgendliche Regentropfen fielen auf den Pflasterstein. Irgendwo in England, weit weg von seinem Bett, prasselten sie gegen die Scheiben einer eleganten Manor. Eine Frau riss schwer atmend die grünen Augen auf und schaute mit stierem Blick in die Dunkelheit.
Völlig steif kauerte Sarah Falls auf dem kalten Boden des Kellerraums. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, schlug ihr bis zum Hals, als sie versuchte, sich zu orientieren, zu besinnen, wo sie war. Alpträume, wieder einmal Alpträume. Ihre Nächte bestanden daraus. Ihre Tage auch. Wieder einmal hatte sie die grauenvolle Stimme der Frau gehört, die sie Bellatrix Lestrange nannten und die der beiden Todesser, die sie und Ollivander hergebracht hatten. Wie tief sie in ihren Kopf eingebrannt waren. Zu fliehen hatte Sarah in ihrem Traum versucht. Sie war gerannt. Doch sie hatten sie eingeholt. Sie hatten… sie hatten… Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Kein Alptraum, grausige Realität. Sie mochte nicht an die Folterflüche denken. Die Erinnerung, die gewaltsam in ihren Kopf eindrang, wieder und wieder. Jedes Mal, wenn die Todesser sie aus diesem Zimmer zerrten, begann die Hölle für sie. Jedes Mal, wenn sie sie wieder hineinstießen, war es eine Erlösung, obwohl die Erlösung finster und stickig war. Doch die Flüche hatten dann endlich ihr Ende gefunden. Sie hatten geendet….
Plötzlich raschelte etwas in der Nähe. Sarah wandte reflexartig den Kopf, als…
„Aua!“, ein kleines Tier hatte ihr gerade in den Finger gebissen.
„Vorsicht“, antwortet eine alte Männerstimme in der anderen Ecke des kleinen Zimmers, „wir haben eine Ratte hier. Sie muss irgendwann heute Nacht hereingekommen sein.“
Sarah atmete tief aus. Wie beruhigend zu wissen, nicht alleine zu sein.
„Geht es Ihnen gut, Mr. Ollivander?“, fragte sie sanft.
„Besser als Ihnen, Miss“, antwortete der alte Mann leise, „Sie werden es nicht mitbekommen haben. Doch Sie haben im Schlaf geredet. ‚Bitte…Bitte…aufhören…ich…verrate…alles‘ und ‚Nein…Nein…Nicht…töten‘“
Er sagte es ohne jede Emotion. Das war ohnehin ein merkwürdiger Zug an ihm, befand Sarah. Manchmal wusste man nicht, wie Ollivander die Dinge meinte, die er sagte und wie man zu ihm stehen sollte.
„Ja, ich hatte Alpträume“, antwortete sie ebenso gleichmütig.
Plötzlich drang aus dem oberen Stockwerk Stimmengewirr hinab in die kleine Kammer. Die Worte waren nicht zu verstehen. Doch eine Stimme konnte Sarah heraushören. Eine ihr bisher fremde Stimme. Hoch und klar war sie und sie sprach eine merkwürdig zischelnde Sprache. Sarah zuckte zusammen.
„Ist das…?“, flüsterte sie leise. Sie kannte die Gerüchte über Voldemort. Jeder kannte sie. Parselmund, rote Augen, keine Nase.
„Ja, das ist er“, antwortete Ollivander ruhig.
„Hoffentlich kommt keiner, um uns zu IHM zu bringen“, sprach Sarah mehr zu sich selbst. Sie hatte schon genug Brutalitäten durch seine Gefolgsleute erfahren, um nicht auch noch Bekanntschaft mit ihrem Meister machen zu wollen.
„Ich glaube nicht, dass das noch einmal geschehen wird.“
Sarah schaute durch die Dunkelheit in die Richtung, aus der die Antwort kam.
„Noch einmal? Soll das heißen…?“
Doch Ollivander schwieg.
„Ich hoffe, sie werden uns bald etwas zu Essen bringen“, sagte er nach einer Weile.
Sarah seufzte leise. Frühstück… wie lang schon hatte sie keine Eier mit Speck und Bohnen mehr gegessen?
Frühstück. Jeden Morgen dieselbe lästige Pflicht. Der Tee lauwarm, der Toast krümelig, die Marmelade viel zu süß. Grummelnd klatschte sich Severus einen Löffel mit orangefarbener, labbriger Masse auf zwei dreckbraun gebrannte Scheiben Brot. Die Ratte wuselte um den Tisch und trug das Geschirr in die angrenzende Küche. Wenn man nicht essen müsste, um zu leben, Severus würde darauf nur zu gern verzichten. Ein Glück, dass er nicht in Hogwarts war. Er konnte sich schon denken, was er sich dort wieder hätte anhören dürfen. „Sie müssen unbedingt von dieser Orangenmarmelade probieren, ein Genuss sag ich Ihnen, Severus“. Zum Teufel mit dir, Dumbledore! Genuss. Wie sollte bitte man irgendetwas genießen, wenn Lily es nie wieder konnte? Gerade würgte Snape den letzten Bissen runter, als etwas gegen die Fensterscheibe pickte. Er wandte den Kopf und sah die gelben Augen eines Uhus, der zum Fenster hineinspähte.
„Die Post, Wurmschwanz!“, schnauzte Snape den untersetzten Mann an, der gerade den Teller in die Küche brachte. Pettigrew warf ihm aus den wässrigen Augen einen giftigen Blick zu, wandte sich um und ging zum Fenster. Für eine ganze Weile sah ihn Severus nicht wieder. Er runzelte die Stirn. Einem Verdacht nachgehend folgte er Pettigrew in die Küche. Da stand dieser, das Gesicht geifernd vor Neugierde über den Umschlag gebeugt, das Briefsiegel gerade erbrechend.
„Sieh mal an, Wurmschwanz“, sagte Snape eisig, „ich wusste gar nicht, dass du lesen kannst. Wollen wir doch mal sehen, wie weit dein Talent reicht. Accio Brief! Ah, dachte ich mir‘s doch, wirklich interessant. Wie kommt es, dass du seit Neuestem Severus Snape heißt?“
Der Mann vor ihm blickte mit entsetzten Augen auf. Nur ein Zucken, ein ganz leichtes Zucken mit dem Zauberstab in Snapes Hand reichte aus und in Sekundenschnelle verwandelte sich Pettigrew in eine Ratte, die unter den nächsten Küchenschrank huschte. Rote Funken prasselten hinter ihr nieder. Snape wandte sich um und schlug die Küchentüre zu.
„Miese, kleine Ratte!“
Es war nicht nötig den Brief zu lesen, um seinen Inhalt zu kennen. Das Familienwappen der Malfoys in der Ecke des Pergaments sprach für sich. Dennoch versenkte Snape seine schwarzen Augen in das Schriftstück. Narzissa bat ihn für diesen Nachmittag in ihr Haus. Dann sollten Sie alleine sein, schrieb sie. Er zerknüllte das Papier und ließ es vorsichtshalber in Flammen aufgehen. Von Dumbledore hörte er an diesem Vormittag nichts mehr.
Das Wetter war noch immer neblig und diesig, als der Mann im schwarzen Umhang hinaus auf die stinkende Gasse trat. Er hätte gleich zur Malfoy Manor apparieren können, doch oftmals half ihm ein kurzer Spaziergang an frischer Luft, seinen Geist besser zu verschließen und sich aller Gefühle zu entledigen.
Leider konnte von frischer Luft an diesem Tag keine Rede sein. Es war schwül und in der feuchten Hitze quollen die giftigen Dämpfe nur so aus all den alten Backsteinen ringsumher hervor und verschmolzen mit dem Gestank vom verdreckten Fluss zu einer widerlichen Suppe, die Brechreiz auslöste.
Severus beeilte sich, Spinner’s End hinter sich zu lassen. Durch den warmen Nieselregen hindurch suchte er sich seinen Weg zur Brücke über den giftroten Fluss. Irgendwo von der Mitte aus konnte man bei klarem Wetter in der Ferne den Friedhof sehen, auf dem Tobias Snape und Eileen Prince beerdigt waren. Heute natürlich versperrten dichte Nebelschwaden die Sicht. Wie ihre Gräber wohl aussehen mochten? Severus war schon lange nicht mehr dort gewesen. Das letzte Grab vor dem er gestanden hatte war das eines anderen Ehepaars gewesen. Im Schutz einer kühlen Herbstnacht hatte er dort weiße Lilien niedergelegt. Und selbst das war Jahre her. Bestimmt waren die Grabsteine inzwischen moosüberwachsen und die Beete verwittert.
Für einen Moment blickte Severus hinab auf die Kloake des Flusses. Verschwommen sah er Strähnen roten Haares darin treiben. Ein Bild seiner Einbildung, so flüchtig und durchscheinend wie das Wasser. Kaum entstanden, zerrann es auch wieder in der Strömung, wurde von einem Meer aus Tropfen hinfort gespült und kehrte nie, nie wieder zurück.
Einmal atmete Severus tief ein, zählte innerlich bis zehn, dann öffnete er mit klarem Blick die Augen und dachte deutlich „Malfoy Manor“.
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