von rodriquez
Montag - Der Morgen danach
Meine Augenbinde wurde brutal herabgerissen, und als mich das grelle Licht der Deckenlampe traf, musste ich blinzeln. Unscharfe Konturen. Grelles Licht. Hermine starrte mit leerem Blick auf mich herab. Sie war bleich, nackt und wunderschön. Aus ihrer Brust ragte ein langes Stilett. Ich konnte das Blut erkennen, das über ihren Körper lief. Es hob sich obskur von ihrem im grellen Licht blass wirkenden Körper ab.
Von der herrlichen, ungesunden Bräune war nichts mehr zu erkennen. Auch mein Körper schimmerte blutrot und war damit besudelt. Einige Sekunden war ich, wie betäubt.
Gerade hatte ich meine Liebe gefunden, und jetzt wäre sie schon vorbei?
Hermine, tot?
Ein weiterer Blick auf ihr Gesicht wurde mir verwehrt. Den Schrecken vor meinen Augen nahm ich wahr, aber mein Gehirn weigerte sich, ihn zu verstehen. Ein maskiertes Gesicht hatte sich in mein Blickfeld geschoben, raubte mir den Blick auf eine unerfüllte Liebe.
Meine Augen versuchten dennoch die Umgebung zu erforschen. Hermine rührte sich nicht. Sie stand einfach nur da. Dann musste ich mit ansehen, wie sie langsam zu Boden sank und aus meinem Blickfeld verschwand. Der Maskierte vor meinen Augen hielt das blutverschmierte Messer in der Hand. Die Klinge blendete meine Augen. Ein Strahl der Deckenlampe brach sich darin. Sie blitzte. Ich wurde von einer Woge des Schreckens erfasst, und schaffte es langsam meine Gedanken zu sortieren. Wut. Unsäglich Wut baute sich auf. Der Kerl hatte meine beste Freundin, meine Hermine ermordet. Und ich könnte der Nächste auf seiner Liste sein. Gerade als ich den Mund zum Schreien öffnen wollte, presste sich eine kräftige behandschuhte Hand darauf. Das blutige Messer schwebte über meinem Gesicht und näherte sich meinem Auge, bis es mein gesamtes Blickfeld eingenommen hatte.
„Willst du, dass ich dir das Auge herausschnitze?“, fragte eine kehlige und heisere Stimme. Ich versuchte mich zu konzentrieren, ob ich die Stimme schon irgendwo gehört haben könnte. Doch einen klaren Gedanken zu fassen, war unmöglich. Verzweifelt versuchte ich unter dem Druck seiner riesigen Pranke ein Nein zu stammeln und schloss dabei panisch die Augen.
Die Klinge berührte mein Lid.
Mein Kehlkopf wanderte schluckend auf und ab, und blieb irgendwo in der Mitte kleben, als hätte ich aufgehört zu atmen. Längst war ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Die Angst um Hermine. Die Angst um mein eigenes Leben. Niemandem wünsche ich eine solche Situation. Selbst vor Jahren, Auge in Auge mit Voldemort verspürte ich keine solche Angst.
Was war es aber, das mir solche Angst bereitete?
Die Angst, die große Liebe verloren zu haben?
Die Angst vor dem Ungewissen?
Worum ging es hier überhaupt?
„Ich werde die Hand jetzt wegnehmen“, krächzte die heisere Stimme. „Wenn du nur einen Mucks von dir gibst, kannst du dich von einem Auge verabschieden, ich stech es dir aus. Wenn du mich verstanden hast, nicke kurz.“
Ich nickte. Schweißperlen tropften von meiner Stirn.
„Wo ist es?“ rief eine laute Stimme aus dem Rücken meines Peinigers.
Er war also nicht Alleine!
„Wo ist was?“, antwortete ich verzweifelt.
„Wo hast du es versteckt?“, bläffte der Maskierte mit dem Stilett. „Und lüg mich nicht an!“
„Nein, nein, tu ich nicht, ich schwöre.“
„Ich frage dich zum letzten Mal: Wo hast du es versteckt?“
Verzweifelt zuckte mein ganzer Körper. „Ich weiß nicht…“
„Du sollst mich nicht anlügen. Wenn du mich anlügst, verlierst du ein Auge, klar?“
„Ja, ja. Ich habe verstanden, ich habe verstanden.“
„Gut, ich habe das Mädchen getötet, damit du mich ernst nimmst.“
„Aber das hätten sie nicht tun müssen“, versuchte ich mich zu wehren, als ob diese idiotische Antwort meine Hermine wieder lebendig machen würde. Hinter der Maske glaubte ich ein Lächeln zu erahnen. „Nein, das glaube ich nicht. Aber jetzt tust du es, oder? Also, wo hast du es versteckt?“
Die müssen mich verwechseln.
„Ich glaube sie verwechseln mich“, versuchte ich die Unschuldsmasche.
„Auch das glaube ich nicht. Wir sind euch den ganzen Abend über gefolgt. Und damit du mir glaubst, stell dir vor, wenn ich diese Nutte abstechen kann…“
„Hermine ist keine Nutte!“, spie ich unbedacht aus. Speichel spritzte auf die Maske. Er wischte mit dem Handrücken weg, und unter seiner Maske konnte ich sein hämisches, genüssliches Lachen erkennen, was meine Wut nur noch weiter anheizte. „Du solltest besser überlegen, was ich alles mit dir anfangen kann“, höhnte er unbeeindruckt.
„Mir? … Aber?“
„Oder deiner Frau. Oder deiner Tochter. Wie heißt sie noch gleich: Tracy…“
„Sie ist nicht meine Tochter!“, schrie ich.
Auch wenn es aussichtslos war. Ich versuchte auf diese Art meine Haut zu retten.
Und mit ein bisschen Glück die meiner Ex Frau und meiner Nichttochter.
Eine Verwechslung war nun ausgeschlossen. Aber vielleicht würden sie sie in Ruhe lassen, wenn sie bemerken, dass ich keinerlei Bezug zu Ginny und Tracy hatte. Dennoch krampfte sich in mir alles zusammen. Für einen Augenblick vergaß ich sogar das Messer.
„Du kannst reden solange du willst“, blieb der Maskierte seiner Linie treu. „Wenn ich muss schlachte ich deine ganze Familie ab, dann deine Freunde, schneide sie in kleine Scheiben und verfüttere sie im Zoo an die Haie.“
„Was - wollen - sie?“
„Dass du mir wahrheitsgemäß antwortest. Beim geringsten Fehler…“. Der Typ hielt inne und berührte mit der Klinge die Wurzel meines längst schlaffen Penis. „…schnipple ich ein Wenig an dir herum.“
„Ich sag die Wahrheit, ich schwör's. Ich habe keine Ahnung nach was sie suchen.“
Nichts geschah.
Innerlich stellte ich mich bereits auf den Verlust eines Körperteils ein. Und da wurde mir klar, der Kerl pokerte. Wahrscheinlich nutzte ich ihm lebendig mehr als tot.
„Der hat wirklich keine Ahnung“, sagte der zweite Mann mit ängstlich klingender Stimme. „Komm, lass ihn.“
Kurzzeitig wandte der Maskierte seinen Kopf von mir ab. „Halt's Maul“, blaffte er seinen Komplizen an.
Sekunden später traf mich ein harter, dumpfer Gegenstand an meiner Schläfe, der eine unheimliche Dunkelheit über mich brachte.
Benommen erwachte ich aus einem Albtraum.
Ich schüttelte meinen Kopf. Mein Kiefer fühlte sich ausgerenkt an. Meine Schläfe schmerzte. Ich griff nach der Stelle, und zuckte zusammen. Eine feuchte, harte Beule, mitten auf der Stirn. Meine Finger kehrten Blutverschmiert zurück.
Kein Traum. Mich fröstelte.
„Hermine tot?“ Fragte ich mich und brach in Tränen aus. Ich wollte es nicht glauben. Mein Herz sprach eine andere Sprache und bekräftigte das Gegenteil:
Sie lebt!
Meine Hände jedenfalls waren frei. Nicht mehr gefesselt. Vorsichtig blickte ich an meinem Körper nach unten. Hemd und Jeans. Doch ich lag auf der Seite, um mich herum war es dunkel. Nur das Licht einer Straßenlaterne erlaubte es mir einigermaßen klar zu sehen.
Eine Gosse. Gerümpel, Müll, leere Salatkisten. Ich lag in irgendeiner Hinterhofgosse.
Wie bin ich hierher gekommen?
Meine Nase nahm einen unangenehmen Duft auf. Einen Duft der keiner genauen Beschreibung bedarf. Um es kurz und knapp auszudrücken: Ich roch, als hätte ich in die Hosen gepinkelt. Etwas benommen versuchte ich aufzustehen. Die ersten Schritte taumelte ich, als wäre ich besoffen. Doch alles, was ich glaubte erlebt zu haben, hatte ich noch genau vor meinen Augen. Sogar das glänzende Metall des Stiletts schien noch vor meinem Auge zu blitzen. Ich konnte sogar noch Hermines wunderbar weiche Haut spüren. Ihre wunderbaren weichen Rundungen an meinem Rippenbogen.
Nein, so was kann mich sich nicht einbilden.
Mittlerweile hatte ich torkelnd die Straße erreicht. Eine Hand fest auf die schmerzende Stirn gepresst. Eine ruhige Seitenstraße. Kein Fahrzeug, keine Menschenseele weit und breit. Ein geschlossener Pub zu meiner Rechten. Ich erkannte ihn als unsere letzte Station, bevor…
Ja, bevor ich die wunderbarsten Momente meines Lebens erlebte.
Dort hatte Hermine die Cuba Libre geordert. Noch einmal hatte ich ihr strahlendes Gesicht vor Augen, als sie mit den zwei Getränken zurück an unseren Tisch kam. Leuchtende, wunderbar braune Augen. Glatte reine Haut. Schwingende, leicht gewellte Haare, die im Rhythmus ihrer Schritte wehten. Ein erotisierendes Auf und Ab unter ihrer Bluse.
Wie komme ich hierher?
Ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir: Vier Uhr zweiunddreißig.
Ich versuchte mich zu erinnern.
Der Pub hatte zur Sperrstunde geschlossen: Ein Uhr. Warten und Taxifahrt: Maximal fünfzehn Minuten. Der Weg in ihre Wohnung, die ersten Annäherungen: Maximal zwanzig Minuten. Ihre Wohnung, die erste Runde unseres Liebesspiels: noch einmal zwanzig Minuten. Duschen, Fesselspiele im Bett, der Beginn einer Obsession. Die schreckliche Tat, die Folter: Weitere, maximal dreißig Minuten.
Demnach hätte es etwa zwei Uhr vierzig sein müssen. Maximal Drei.
Also etwa eineinhalb Stunden an die ich keinerlei Bewusstsein oder Erinnerungen hatte.
Was kann ich tun?
Polizei? - Die wird mir nicht glauben.
Freunde? - Welche Freunde?
Ron?
Unmöglich konnte ich zu meinem besten Freund gehen, ihm sagen: Hör zu ich habe mit deiner Hermine einen geile Nacht verbracht, dann ist sie…
Ich musste auf eigene Faust ermitteln. Doch nicht in der momentanen Verfassung. Aber mir war auch klar, dass jede Minute zählen könnte.
Vielleicht ist sie noch am Leben.
Auch wenn ich nicht daran glaubte, nicht nachdem, was ich gesehen hatte.
Sie müsste tot sein.
Doch das durfte nicht wahr sein! Das konnte ich nicht glauben.
Und wieder sagte mir mein Herz etwas Anderes.
Erneut verließ ich den Ort an dem sich das Pub befindet. Nur dieses Mal nicht mit einem Taxi. Ich disapparierte direkt nach Hause, nach Godrics Hollow. Stellte mich unter die Dusche. Zweieinhalb Minuten, neuer persönlicher Rekord, dann suchte ich frische Klamotten. Neue Jeans, ein frisches Hemd, steckte mir ein paar Geldscheine aus meiner Haushaltskasse ein. Begutachtete die Beule an meinem Kopf.
Mein Zeitgefühl könnte stimmen. An dem fetten Hügel auf meiner Stirn hatte sich eine Kruste gebildet. Das Blut war schon geronnen. Ich reinigte die Wunde, verarzte es auf Muggelart mit einem Pflaster, und machte mich auf den Weg zurück in den Norden Londons. Zurück zum Ausgangspunkt, dem Pub. Zitierte ein Taxi herbei und leitete es die Strecke, die wir genommen hatten. Als ich die Fassade mit den getönten Scheiben erkannte, bat ich den Fahrer anzuhalten, reichte ihm die passenden Münzen und wartete bis er davon gefahren war.
Ich notierte mir die Adresse und überlegte, wie ich ungesehen in das Gebäude gelangen könnte. Nichts, was ich mir überlegte klang plausibel. Ich konnte nicht einfach am Portier vorbeigehen. Er hatte mich gar nicht gesehen, hätte Verdacht geschöpft und mir den Zutritt verweigert. Ich konnte auch nicht die magische Lösung nutzen. Ich hatte keine Anlaufpunkt für Disapparieren.
Während ich überlegte, was ich tun könnte redete ich mir immer wieder ein:
Hermine lebt. Sie ist nicht Tod!
Nur wo sollte ich ansetzen?
Ich muss in ihre Wohnung!
Hermine lebt.
Sie ist nicht Tod!
Verzweiflung machte sich breit. In letzter Not fiel mir das Ministerium ein, mein alter Freund und Minister Kingsley Shacklebolt. Er hätte vielleicht eine Idee. Ein Plan. Im Stillen hoffte ich schon wieder, dass ich nur in einen Test geraten wäre.
Ich beschloss im Ministerium zu warten. Vielleicht würde Hermine auf der Arbeit erscheinen. Vielleicht würde sie dort sein, als wäre nichts geschehen. Ich würde einen Blick riskieren, und wieder nach Hause gehen, und mir einreden, es war nur ein Traum. Ein böser Traum. Es hat nie stattgefunden. Eine schwache Ausrede. Ich bemerkte die schwache Hoffnung sofort, trotzdem wagte ich den Schritt. Ich wollte mir nicht vorwerfen, nicht alles Mögliche versucht zu haben. Im Ministerium war noch alles ruhig. Fünf Uhr fünfundvierzig. Ich war wohl der Erste, der es an diesem Morgen betrat. Viel zu früh. Die Ersten werden nicht vor sechs Uhr auf der Arbeit erscheinen. Auf direktem Weg ging ich in den zweiten Stock. Der Abteilung für magische Strafverfolgung. Auch hier alles ruhig. Die Gänge im Dunkeln. Mein Büro verwaist. Nur selten bin ich noch hier. Ich suchte nach irgendwelchen Hinweisen. Irgendwas hoffte ich zu finden. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Nach einigen Minuten vernahm ich erste Bewegungen. Ein Stockwerk tiefer. Neonlichter wurden angeschaltet. Hermines Büro liegt nur wenige Meter über den Flur, von Meinigem entfernt. Die wenigen Schritte waren rasch getan. Es war unverschlossen. Im zweiten Stock war es immer noch ruhig. In ihrem Büro fand ich keinen Anhaltspunkt. Nichts Ungewöhnliches. Ganz so, wie man es von ihr erwartet. Perfekt aufgeräumt. Pikobello sauber. Auf ihrem Schreibtisch ein Bild aus alten Tagen. Es war mir nie aufgefallen. Ich nahm es in die Hände und erinnerte mich an den Tag der Aufnahme. Der kleine Colin Creevey hatte uns am schwarzen See überrascht. Nur Hermine und mich. Ein Schnappschuss, der heute eine ganze andere Bedeutung darstellt. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass nur Hermine und ich darauf zu sehen sind. Die Blicke, die wir uns gegenseitig zuwerfen. Es sieht fast so aus, als würden wir uns anhimmeln.
Warum mussten fünfzehn Jahre vergehen um diese Entdeckung zu machen?
Ich stellte es zurück auf seinen Platz, rückte es gerade. Komisch, dachte ich. Es ist nur ein Büro, dennoch fühlte es sich behaglich an. Ich konnte sie riechen, ihr Parfüm, ihren Körper. Ich konnte sie schmecken. Sie war urplötzlich Allgegenwärtig. Und genauso urplötzlich wurde mir schlagartig bewusst, dass ich es spüren würde, wenn sie nicht mehr wäre.
Sie lebt.
Nur was für ein Spiel läuft hier?
Was ist geschehen?
Gefahr.
Ich konnte die Gefahr riechen.
Sie lebt, aber sie ist in Gefahr.
Ich durfte keine weitere Zeit verlieren.
Die Minuten vergingen. Ich wurde immer nervöser, ging zurück in mein verwaistes Büro, setzte mich an meinen Schreibtisch und starrte in den Flur. Mein Herz raste unaufhörlich. Ohne auch nur einen Augenblick die Augen abzuwenden, beobachtete ich durch meine offenstehende Tür, ihr Pendant einige Meter weiter. Immer noch nichts.
„Harry?“ Erschrocken zuckte ich zusammen. „Was tust du hier? Und vor allem zu dieser ungewohnten Zeit?“ Minister Kingsley starrte mich völlig entgeistert an. Ich war so fixiert auf Hermines Büro, dass ich sein kommen nicht bemerkt hatte.
Warum nicht, dachte ich und beschloss einen Freund, in diesem Fall nicht den Minister einzuweihen. Er könnte mich vielleicht am ehesten verstehen.
„Kann ich mit dir sprechen?“, kam ich direkt zur Sache.
Kingsley muss es meinem Blick angesehen haben. Er stimmte ohne Umschweife zu. „Gehen wir in mein Büro.“
Ich erzählte ihm Alles. Alles, was ich von dem letzten Abend wusste. Wirklich Alles. Lediglich die wunderschönen Momente Minuten zuvor, behielt ich für mich.
Doch die Ahnung, die Vorstellung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Irgendwie habe ich immer gewusst und gehofft, dass du und Hermine…“
„Das hilft mir jetzt nur nicht weiter“, unterbrach ich seinen nostalgischen Traum.
„In einem Punkt hat dich Hermine aber wohl angeschwindelt“, sagte er plötzlich.
„Das wäre?“
„Sie kommt heute nicht zur Arbeit, und sie wäre auch nicht gekommen.“
Fragend blickte ich meinen unmittelbaren Vorgesetzten an.
„Sie sollte eigentlich das ganze Wochenende in Davenport auf einem Seminar für alle Leiter der magischen Strafverfolgung sein. Dafür hat sie für heute einen freien Tag genommen.“
„Gut“, überlegte ich. „Getroffen habe ich sie erst gestern Abend. Da könnte die Konferenz bereits zu Ende gewesen sein. Nur ihre Aussage sie müsse heute früh zur Arbeit…“
Kingsleys eiserne Miene verhärtete sich noch mehr, nachdem er das erste hereinflatternde Memo in Händen hielt. „Sie ist nie in Davenport gewesen.“
„Was?“, presste ich hervor.
„Noch dazu“, murmelte Kingsley mit neuerlichem Blick über das Memo, „…Unentschuldigt.“
„Hermine?“ Ich schüttelte ungläubig meinen Kopf. „Da stimmt was nicht. Das kann nur ein schlechter Witz sein. Ich habe sie gestern Abend im O'Malley's getroffen. Wir haben etwas getrunken. Sind noch auf einen Absacker in ein gemütlicheres Pub, und dann zu ihr nach Hause.“
Kingsley verzog sein Gesicht. „Die Information ist unumstößlich.“
„Das kann nicht sein“. Es wurde immer undurchsichtiger. „Kingsley, wir haben miteinander geschlafen. Es waren einzigartige, wunderbare, wundervolle Augenblicke. Das war keine Einbildung. Ich habe sie sterben sehen…“
„Woran du selber nicht glaubst!“
„Glauben will!“, korrigierte ich. „Nicht nachdem, was zwischen uns war.“
Ich deutete auf die Beule an meiner Stirn. „Die ist echt. Es war kein Traum“.
Mir war bewusst, dass alles was ich erzählte unglaubwürdig klingen musste. Ich sah die Skepsis in Kingsleys Gesicht, wusste, dass er zweifelte, und ich konnte ihn sogar verstehen. Das Alles ergab keinen Sinn, doch es ist ein schreckliches Gefühl, Zeuge eines Verbrechens geworden zu sein, zu wissen, dass das Leben meiner besten Freundin eventuell zu Ende sein könnte. Aber wenn nicht, was würde das bedeuten?
Ich wagte den Faden nicht weiter zu spinnen.
Nein, Hermine würde mich nicht hintergehen. Sie würde mir nicht zeigen, dass sie mich liebt, um mich dann, so fallen zu lassen. Nicht Hermine.
Kingsley hatte sich mit einem Handy am Ohr abgewandt. Ich stand wie ein Häufchen Elend neben ihm, verstand kein Wort, hörte auch gar nicht zu. „Du solltest dir auch so ein Ding zulegen. Sind praktisch. Ein Stück Magie aus der Muggelwelt.“
Mit einem Blick der - was hast du gesagt? - ausdrückte starrte ich den Minister an.
„Hermine hatte übrigens auch so Eins.“ Kingsley ging zu seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf, und weiteres Handy heraus, drückte es mir in die Hand. „Liegt seit Wochen schon hier“, erwähnte er beiläufig. „Warum bist du so selten hier?“
Ich antwortete nicht.
„Hermines Nummer ist schon eingespeichert. Genau, wie Meine.“
Ich nickte beiläufig, nahm das Gerät entgegen, steckte es kommentarlos in meine Tasche.
„Akku ist voll“, nickte Kingsley. „Das eben war New Scotland Yard.“
Ich richtete meine Augen gerade, wurde hellhörig.
„Sie werden dir helfen. Melde dich auf dem zuständigen Polizeirevier der Metropolitan Police Police Station, Whitchurch.“
Ich nickte.
„Detective Sergeant Cole.“
Erneut brachte ich lediglich ein Nicken zustande.
„Harry!“, mahnte Kingsley. „Es bringt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Das ist nicht deine Art. Nicht solange…“
„…Hermine wirklich tot ist“, unterbrach ich meinen Chef.
Kingsley zuckte erschrocken.
„Kingsley, wenn nicht einmal du mir glaubst, was soll ich dann auf diesem Polizeirevier?“
„Nur mit der Polizei wirst du in Hermines Wohnung zurück können.“
Mit einem mulmigen Gefühl betrat ich wenig später das Revier in Whitechurch. Ein übergewichtiger Kerl in einem ärmellosen Shirt sah mich auffordernd an. „Detective Sergeant Cole?“, beantwortete ich seine fragenden Blicke.
„Mr. Potter?“
Die Stimme aus meinem Rücken fuhr mir durch Knochen und Mark. Ich traute mich gar nicht mich umzudrehen.
„Harry?“
Ich schaute auf und erblickte eine attraktive dunkelhaarige Frau Ende Zwanzig, die gerade durch eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite kam. Sie war leger gekleidet in Jeans, einem Sweatshirt und Puma Turnschuhen. Trotzdem war sofort ersichtlich, dass es sich bei ihr um eine Polizistin handelt, anders als vor knapp zwei Jahren.
Ich hatte gerade die Trennung von Ginny und Tracy hinter mir, befand mich in einer Art Trotzzeit. Vielmehr, als Sturm und Drangzeit bekannt. Das O'Malley's wurde zu meinem fast allabendlichen Revier. Ich habe regelmäßig Unmengen Alkohol vernichtet und diverse Bekanntschaften geschlossen. Meist weiblicher Natur. Gelegentlich endeten die Nächte in den Laken diverser Betten. So auch bei ihr. Sie prostete mir zu und wir kamen legere ins Gespräch. Die anzüglichen Bemerkungen wurden eindeutiger, je mehr Gläser voller Bier vor uns abgestellt wurden. Sie lehnte sich aufreizend mit einem Lächeln zurück. Sie war ebenfalls nicht mehr nüchtern, aber ihre Augen wirkten klar und fokussierend. Lass dich nicht darauf ein, redete ich mir ein. Doch längst war klar, dass keiner von uns überhaupt noch an etwas anderes dachten. Wir nahmen uns ein Zimmer im nächstmöglichen Hotel und kamen sofort zur Sache, ehe wir den Zimmerservice bemühten. Dann liebten wir uns ein zweites Mal, bis wir schließlich in den seligen Schlaf der Gerechten fielen. Am nächsten Morgen liebten wir uns ein letztes Mal, ehe ich erneut in den Schlaf fiel. Als ich wieder aufwachte, war sie verschwunden. Sie ging ohne weitere Worte, ohne eine Notiz, oder einen Hinweis, und ich hatte sie seither nicht wieder gesehen.
„Detective Sergeant Lydia Cole“, stellte sie sich vor und reichte mir die Hand. „Würdest du mir genau erklären, was du erlebt haben…“
„…Willst“, murmelte ich vor mich hin. Die Beamtin strahlte eine gewisse Härte und Selbstsicherheit aus, die mir auch bei ihr das Gefühl gab, wenig Glauben geschenkt zu bekommen. Keinen Moment gab sie mir das Gefühl, dass zwischen uns etwas mehr stattgefunden hatte, als eine lose Bekanntschaft. Sie hörte sich ruhig meine Geschichte an, stellte gelegentlich eine Zwischenfrage, und stand nach dem ich geendet hatte mit den Worten: „Das bringt alles nichts, fahren wir vor Ort“, auf. „Du kennst die Adresse?“
Während wir in ihren Dienstwagen, einem dunkelblauen Vauxhall Frontera einstiegen, nannte ich sie ihr.
„Der Coleblock“, nickte sie zustimmend.
Fragend sah ich sie an.
„Ich weiß, was du denkst, und ja du hast Recht. Das Gebäude gehört meinem Vater. Im Übrigen tut es mir leid, dass ich damals einfach so verschwunden bin.“
„Kein Problem“, log ich.
„Du hast noch geschlafen und ich wollte dich nicht wecken. Ich wurde zu einem Einsatz gerufen…“
„Kein Problem“, wiederholte ich.
„Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, als ob du nach einer festen Bindung suchen würdest. Nur deswegen bin ich auch mit dir gegangen. Du tatest mir Leid, sprachst immer nur von deiner unglücklichen Ehe mit Ginny.“
„Das tut mir leid“, erwiderte ich peinlich berührt. „Das war mir nicht bewusst…“
„Kein Problem“, benutzte sie meine Antwort und lächelte dabei. Und ich könnte nicht erkennen, ob auch sie diese Worte als Lüge benutzt hatte. „Die Nacht mit dir war toll. Aber nicht mehr und nicht weniger.“
„Die Nacht war eine Ausnahme“, wiegelte ich ab. „Du darfst nicht glauben, nur weil ich jetzt in einer ähnlichen Situation…“
Sie schüttelte beschwichtigend ihren Kopf.
„Hermine ist eine langjährige, fast schon ewige Freundin - und jetzt ist sie vielleicht tot…“
„Das wissen wir noch nicht…“
„Du glaubst mir nicht?“
„Das habe ich nicht gesagt…“
„Es klingt aber so…“
„Das ist mein Beruf. Ich muss alle Möglichkeiten ausleuchten. Aber wenn es dich beruhigt, ich habe andere Gründe, dir zu glauben…“
„Sind in dem Wohnblock alle Wohnungen belegt?“, lenkte ich von dem peinlichen Thema ab, als wir uns mühsam durch den allmorgendlichen Berufsverkehr bewegten.
„Interesse?“
„Nein“, schüttelte ich meinen Kopf. „Ich habe schon ein riesiges Haus. Viel zu groß für eine alleinstehende Person.“
„Zeit, etwas daran zu ändern.“
Auf der fünfzehnminütigen Fahrt berichtete ich Alles, was ich wusste. Von dem Moment an, wo ich Hermine im O'Malley's getroffen hatte, bis zum Betreten des Ministeriums. Ich bemühte mich die Einzelheiten detailgenau und so präzise, wie möglich zu schildern.
Sie hörte geduldig zu. „Wie sagtest du, heißt deine Freundin?“
Ihre Frage machte durchaus Sinn. Keine der Klingeln, neben dem Haupteingang war mit Hermines Namen gekennzeichnet. „Hermine Granger“, antwortete ich nervös. Ziemlich betreten folgte ich Lydia zum Empfang, der dieses Mal besetzt war mit einem ziemlich schmierigen, übergewichtigen Mann Ende fünfzig. „Miss … Miss Cole?“, stammelte er nervös. Sie presste ihren Dienstausweis gegen die Scheibe. „Ich bin dienstlich hier, Mike.“
Der Pförtner warf mir einen irritierten Blick zu. „Tatsächlich? Um was geht es?“
„Eine Miss Granger.“
„Hermine Granger“, vervollständigte ich.
„Achter Stock“, nickte Mike und runzelte die Stirn. „Die kesse Brünette? Was ist mit ihr?“
„Genau die“, antwortete ich giftig. Er wirkte verwirrt.
„Merkwürdig…“
„Was ist merkwürdig?“, hakte DS Cole nach.
„Ich habe sie seit Freitagfrüh nicht mehr gesehen. Sie hat sich von mir verabschiedet mit einem Trolli in der Hand, wollte auf irgend so ein Seminar. Was ist mit ihr?“
„Augenblick mal“, mischte ich mich verblüfft ein. „Sie hat sie heute Nacht gegrüßt. Sie haben ihr geantwortet nur mal kurz für kleine Jungs gewesen zu sein. Sie heißen doch Mike, nicht wahr?“
„Ja. Ich bin Mike, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie sich irren. Ich habe Miss Granger seit Freitagmorgen nicht mehr gesehen“.
Ich konnte es nicht fassen, warum dieser Penner log.
„Was soll überhaupt passiert sein?“
„Im Augenblick können wir dazu noch keine Angaben machen“, würgte ihn Lydia ab. „Wären sie bitte so freundlich, und würden uns ihre Wohnung aufschließen?“
„Darf ich das?“
„Ja sie dürfen!“, fauchte ich. „Und mich würde brennend interessieren warum sie lügen. Ich war mit Miss Granger heute Nacht hier!“
„Hör mal zu Kumpel“, verteidigte sich der schmierige Mann. „Ich bin den ganzen Abend und die ganze Nacht hier gewesen, und ich habe weder sie noch Miss Granger gesehen.“
Ich wandte mich aufgebracht an Lydia. Sie schüttelte ihren Kopf. Ihre Miene verriet nichts. „Schließen sie uns einfach die Wohnung auf. Sie haben doch einen Schlüssel, Mike?“
Er nickte schwerfällig. „Ich kann aber hier nicht weg. Hier…“. Er drehte sich um, griff in einen Tresor und reichte uns den gleichen futuristischen Schlüssel entgegen, den Hermine bei sich hatte.
Immerhin drehte sich Lydia nicht einfach um, und ging wieder von dannen. Sie blieb hartnäckig, nahm den Schlüssel entgegen und fragte. „Du kennst den Weg nach oben?“
Ich nickte.
Im Fahrstuhl nahm ich das Thema noch einmal auf. „Ich verstehe nicht warum der Typ lügt. Gut, mich konnte er nicht sehen, ich hatte Bedenken, wollte nicht gesehen werden. Aber Mine, sie hat ihn definitiv gegrüßt.“
„Warum wolltest du nicht, dass man dich sieht?“
„Hermine ist … war mit meinem besten Freund liiert. Ich war mir nicht sicher, ob es gut wäre…“
„Ihren Freund zu hintergehen?“ Lydia nickte. „Ihr Freund, könnte er…“
„Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Er hätte mir vielleicht eine Szene gemacht, aber nicht so … brutal.“
„Drogen?“
„Bitte?“ Ich verstand ihre Fragen nicht.
„Bei Entführungen oder Geiselnahme stecken meist Drogen, Drogendealer dahinter.“
„Drogen?“, wiederholte ich. „Entführung?“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Nicht das ich wüsste.“
Während Lydia die Tür zu Hermines Appartement aufschloss, suchte ich am Rahmen nach Spuren, konnte aber nicht den kleinsten Kratzer erkennen.
Wie zum Teufel, sind die reingekommen?
Entweder sie hatten einen Schlüssel, oder Hermine…
Nein, sie war im Schlafzimmer. Bei mir.
Lydia sah mich erwartungsvoll an. Mir hatte es die Sprache verschlagen, wusste nicht was ich sagen sollte, deshalb marschierte ich schnurstracks ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht. Sogar ein kleiner Teddy lächelte mich an. Er thronte zwischen den aufgeschüttelten, perfekt symmetrisch aufgereihten Kissen. Absolut Herminelike. Alles schien an seinem Platz zu sein. Ähnlich erging es mir im Bad. Perfekt aufgeräumt und sauber. Nirgends ein Tröpfchen Blut. Nichts, das an heute Nacht erinnert hätte. Allerdings rümpfte Lydia die Nase. Und ich bemerkte auch warum. Es roch penetrant nach Reinigungsmitteln. Desinfektion.
„Jemand hat hier saubergemacht“, bestätigte sie. „Allerdings kommen Kriminelle nicht zu einem Tatort zurück.“
„Ich bilde mir das nicht ein“, antwortete ich verzweifelt. „Bitte glaube mir.“
Zu einer Antwort kam sie nicht. Ihr Handy läutete. Während sie telefonierte versteinerte sich ihr Blick. Sie drehte mir den Rücken zu, begann zu flüstern. Mir fiel mein eigenes, neues Handy ein, zog es aus meiner Tasche und bewegte mich durch das Menü. Bei „H“ blieb ich hängen. Ich scrollte weiter bis ich ihren Namen lesen konnte, dann betätigte ich die Auslösetaste. Ein, zwei Sekunden Stille. Ein Freizeichen. Es klingelte. Und ganz in der Nähe, ganz leise ertönte eine Melodie. Langsam, stetig anwachsend. Ich hielt meine Hand weit von mir und suchte nach dem Ursprung der Melodie. Hermines Nachttisch. Ich zog sie auf.
Die Melodie ertönte laut und deutlich.
Ich nahm das melodische Teil heraus und hielt es Lydia Cole unter die Nase. „Würdest du ein Seminar besuchen, und dein Handy zuhause lassen?“
Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie starrte mich an, ihr Handy abgesenkt vor sich haltend.
„Im Brent Reservoir hat man eine unbekannte, weibliche Leiche gefunden.“
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