von Duchesse
Am Abend desselben Tages saß Severus Snape schon seit einigen Stunden in seinem Büro und überarbeitete die Verteidigungsmethoden gegen Riesen und andere Humanoide. Die Fensterscheiben hatte er mit einem Verdunklungszauber belegt, da die tiefer stehende Sonne ihn blendete, und außer den Fackeln an den Wänden spendete nur das Feuer unter dem kleinen Kessel am Ende seines Schreibtisches etwas Licht.
Letztes Jahr hatte er zähneknirschend die Räumlichkeiten unten im Kerker aufgegeben und Slughorn überlassen. Auch wenn er zufrieden darüber war, endlich Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu unterrichten, hatte er an den stillen, abgelegenen Räumen gehangen. Hier im ersten Stock unweit des Klassenzimmers für Verteidigung liefen ihm öfter Leute zwischen den Füßen herum und er bekam auch mehr Geräusche aus den umliegenden Korridoren und Zimmern mit als vorher.
Aber Slughorn hatte darauf bestanden, wenn er da unten unterrichten sollte, auch sein Büro und seine Wohnräume dort zu haben. Vermutlich wegen der Treppen, die er ansonsten mehrfach am Tag hoch und runter hätte steigen müssen…
Das Feuer unter dem Kessel flackerte und warf lange Schatten auf die Wände.
Seine ersten Unterrichtsstunden waren verlaufen wie immer. Den Erstklässlern hatte er seine übliche Antrittsrede gehalten und die Schüler des fünften Jahrganges am Nachmittag hatte er erst einmal eine Zusammenfassung des Stoffes aus dem letzten Jahr erarbeiten lassen. Unfassbar, wie man in so kurzer Zeit schon wieder so viel vergessen konnte.
Auf dem Tisch vor ihm lagen die alten Lehrpläne. Er hatte er schon einige Zauber gefunden, die unnötig zu unterrichten geworden waren.
Wer würde heute noch einen Spruch brauchen mit dem man Pferde zur Flucht beschleunigen konnte? Oder Drachen.
Er strich die überflüssigen Anleitungen und Beschreibungen der angegebenen Zauberstabbewegungen.
Dafür gab es aber auch so einige neuartige Errungenschaften, die bisher in keinem Lehrplan standen und die er für sehr nützlich erachtete. Beispielsweise eine Verbesserung des Entwaffnungszaubers, der nun den Gegner nicht nur waffenlos, sondern auch gleichzeitig bewegungsunfähig machte und eine Variation des Protego, der, wenn man den Schwung des Zauberstabes minimal veränderte, den Zauber nicht nur abprallen ließ, sondern sogar verstärkt reflektierte.
Außerdem wollte er noch einige andere Flüche wie Sectumsempra und den Levicorpus mit aufführen. Auch diese waren bei der Verteidigung gegen einen angriffslustigen Gegner nicht zu verachten.
Ein pochendes, schmerzhaftes Gefühl wanderte seine Wirbelsäule nach oben in seinen Kopf.
Er schloss die Augen und rieb sich die Stirn mit Daumen und Zeigefinger.
Dieser lästige Schwindel! Er lenkte ihn ab und störte die Konzentration. Außerdem meldeten sich allmählich auch die ziehenden Schmerzen in den Fingerknöcheln wieder.
Mit halb geschlossenen Augen sah er von seinem Pergament auf zu dem kleinen Kessel, dessen Inhalt nun langsam zähe Blasen warf.
Also war das Grundgebräu fertig. Morgen kämen noch die Wurzeln des Krampfknöterichs hinzu und dann musste es einige Tage ziehen.
Krampfknöterich…. Er verdrehte die Augen. Der wuchs in Gewächshaus zwei, welches außerhalb der Unterrichtszeiten abgeschlossen war, da dort die Projekte der Schüler lagerten, an denen im Unterricht gearbeitet wurde. Also würde er die neue Kräuterkundelehrerin wohl oder übel danach fragen müssen.
Etwa eine halbe Stunde später legte er die Feder zur Seite und machte sich auf den Weg zum Abendessen in die Große Halle.
Am Lehrertisch empfing ihn die Direktorin mit einem leichten Nicken. „Na, wie kommen Sie voran?“
Seinen Platz neben ihr einnehmend nickte er ihr ebenfalls begrüßend zu und antwortete: „Recht gut“, als ihm sein Anliegen wieder einfiel. Am besten würde er das jetzt gleich erledigen.
Er sah nach rechts und beugte sich ein wenig nach vorne, um an Hagrids massigem Körper vorbei auf den Platz neben diesem sehen zu können, doch der Stuhl war leer. Verstimmt wandte er sich wieder an Professor McGonagall.
„Wurde uns nicht allen nahegelegt, das Essen nach Möglichkeit gemeinsam einzunehmen? Unsere neue Kollegin legt anscheinend keinen Wert auf solche Vorgaben. Oder wo ist Miss Calaway heute Abend?“ Die Direktorin zog eine Augenbraue nach oben.
„Das weiß ich auch nicht“, antwortete sie. „Ich habe sie beim Mittagessen zuletzt gesehen, aber sie wird schon einen triftigen Grund haben, wenn sie dem Essen fern bleibt. Warum fragen Sie?“
„Nichts Wichtiges“, murmelte er wenig begeistert. Jetzt würde er nach dem Essen noch nach unten laufen müssen, um diese Kräutertante zu fragen.
Doch da er die Wurzel unbedingt für den Trank benötigte, bevor dieser in die Gärungsphase überging, machte er sich direkt nach dem Essen auf den Weg, bevor es stockfinster wurde.
Mürrisch starrte er einen dicklichen Erstklässler an, der erschrocken zusammen zuckte, als er es bemerkte, und schnell in eine andere Richtung blickte.
Es war ein ziemlich milder Abend. Die Wärme der Spätsommersonne hing noch in der Luft und eine leichte Brise hatte sich erhoben, als er nun durch das Portal nach draußen ging.
Er wandte sich nach links, passierte die Mauer und die nächste Ecke und sah dann das erste Gewächshaus vor sich liegen.
Also, wo war diese Frau nun?
Er ging an dem Gebäude vorbei und als er dessen Ende erreicht hatte, sah er, dass im letzten Gewächshaus Licht brannte. Während er sich näherte, konnte er immer deutlicher auch Geräusche hören. Vor der Tür blieb er stehen und vernahm nun ein seltsames Keuchen und Ächzen, das sich mit einem leisen Schaben vermischte.
Stirnrunzelnd lugte er durch das kleine Fenster neben der Tür und erblickte eine bemerkenswerte Szenerie.
Lange Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und hingen in das rote verschwitzte Gesicht. Schwer atmend rammte sie den Spaten augenscheinlich verärgert in den großen braunen Haufen zu ihren Füßen. Eine Schaufelladung der dunklen Masse flog durch die Luft auf eine kleine Karre zu ihrer Rechten. Der lange Rock und das dunkelgrüne Oberteil waren voller Erdflecken, ein Umhang lag achtlos weggeworfen einige Meter weiter auf dem Boden.
Sie hatte die Ärmel hochgeschoben und strich sich mit der Hand die Haare aus den Augen, wobei sie den Dreckspuren auf ihrer Haut noch ein paar weitere hinzufügte. Schnaufend stützte sie sich auf der Schaufel ab, hob den Blick und zuckte kurz zusammen, als sie das Gesicht am Fenster bemerkte.
Sofort wandte er sich ab und trat ein. Ein unangenehmer, beißender Geruch empfing ihn und ließ ihn unwillkürlich wieder einen Schritt zurückweichen.
„Was ist denn das?“, rümpfte er die Nase und wies auf den Haufen vor ihr.
„Guten Abend“, antwortete sie belehrend, lächelte ihn dabei aber freundlich an. „Das ist Drachenmist. Der riecht halt so.“
„Und was gedenken Sie damit zu tun?“, wollte er wissen, vorsichtig Abstand haltend.
Sie musterte ihn mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. „Der ist zum Düngen der Pflanzen.“
Der Gestank wurde immer intensiver und zwickte in den Atemwegen. Er rollte genervt mit den Augen und versuchte so wenig wie möglich zu atmen.
„Ja, das ist mir auch klar.“ Diese Antwort erklärte nun nicht wirklich, was sie da gerade tat, doch im Grunde war das sowieso unwichtig. „Ich wollte Ihnen auch nur eine kurze Frage stellen.“
Sie hatte inzwischen wieder die Schaufel gepackt und fuhr energisch mit ihrer Arbeit fort.
„Also fragen Sie.“ Ihre Stimme klang ein wenig gepresst aufgrund der Anstrengung.
„Wäre es nicht einfacher, so etwas per Zauberstab zu erledigen?“
Ihre Hände fassten den Stiel so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann lächelte sie wieder gefällig, stellte den Spaten in die Ecke und packte die Griffe der Karre. „Das wollten Sie mich fragen?“, meinte sie ruhig und schob die Fuhre mit Schwung über den schmalen Durchgang durch die Hintertür.
Er trat hinter ihr ins Freie und atmete erst einmal tief ein. „Nein. Ich wollte fragen-“, setzte er an, doch sie hatte die Ladung hinter das Gewächshaus gekippt und war schon wieder nach drinnen verschwunden.
Genervt schnaufte er und folgte ihr erneut. „Warum arbeiten Sie wie ein Muggel? Der Geruch ist ja nicht zum Aushalten!“, bemerkte er spitz. „Wenigstens den Gestank könnten Sie neutralisieren!“ Sie schaufelte weiter, ohne ihn anzusehen.
„Man gewöhnt sich dran“, murmelte sie gedämpft. „Was war Ihr Anliegen, sagten Sie?“ Er trat einen Schritt zurück, als sie mit einer vollen Karre an ihm vorbeirauschte und wartete diesmal, bis sie zurückkam.
„Für eine private Angelegenheit benötige ich Wurzeln des Krampfknöterichs.“
Sie sah ihn wieder mit diesem undefinierbaren Gesichtsausdruck an und nickte langsam: „Können Sie haben. Ich habe allerdings nicht sehr viel. Wenn ich wüsste, dass Sie die Wurzeln öfter brauchen, könnte ich einige Ableger davon ziehen.“
„Ja. Das wäre dann erforderlich“, nickte er nun seinerseits. Eine neue intensive Welle des stechenden Geruchs stieg auf, als sie wieder eine Schaufel voll Mist auf der Karre ablud.
„Welchen triftigen Grund hat es, diese abstoßende Substanz hier drinnen zu lagern?“, fragte er angewidert, als sie sich wieder mit dem Arm über das Gesicht fuhr und den Dreck gleichmäßig darin verteilte.
„Wäre das alles?“, fragte sie ihn statt einer Antwort mit einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln. „Oder benötigen Sie sonst noch etwas?“
Er hob die Augenbrauen. „Nein. Machen Sie ruhig weiter mit Ihrer … Arbeit. Wobei ich wirklich nicht weiß, wie Sie freiwillig in so einem Gestank arbeiten können. Der Neutralisationszauber würde es wahrhaftig erträglicher machen.“
Ihre Lippen wurden schmaler und auch ihre Augen zogen sich ein wenig zusammen, als sie antwortete. Das Lächeln wirkte nun wie eine festgetackerte Grimasse. Es reichte nicht mehr bis zu ihren Augen, nur die Gesichtsmuskeln formten es noch geübt. „Ja… Das wäre wohl eine gute Idee.“ Ihre Stimme klang fast heiser und sie atmete schwer. „Kann ich also sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte sie steif.
„Nein“, meinte er kopfschüttelnd und wandte sich zum Gehen, missmutig über ihr stures Unverständnis. „Der Spruch heißt übrigens Purario, falls es Ihnen entfallen ist.“ Er drehte sich um und schritt Richtung Tür.
„Danke“, ihre Stimme bebte nun und sie sprach leise und mühsam beherrscht, „ für den Hinweis.“
„Es wäre ja wirklich einfacher, wenn Sie-“ Weiter kam er nicht.
Seine kampferprobten Sinne ließen ihn gerade noch rechtzeitig den Zauberstab aus der Umhangtasche reißen, um den heranfliegenden stinkenden Brocken so abzulenken, dass er ihn nicht mit voller Wucht traf.
Er starrte sie an und es war schwer zu sagen, wessen Blick mörderischer war. Ihre vor wenigen Sekunden noch mühevoll kontrollierten Augen funkelten jetzt vor herausbrechender Wut und ihre Hände zitterten.
„Sind Sie noch ganz beisammen?!“, fuhr er sie an. „Behalten Sie Ihre Sch… Ihren Mist gefälligst!“ Statt einer Antwort bückte sie sich und griff eine weitere Handvoll.
Ein kurzer Schwung seines Zauberstabes ließ die Karre gegen die rückwärtige Wand aus ihrer Reichweite rutschen.
„Raaaaaus!“ Sie verlor nun offensichtlich den letzten Rest Beherrschung. Ihre Augen hatten einen fast wahnsinnigen Glanz angenommen und ihr Atem ging schnell und pfeifend, als er sie noch einmal verächtlich beäugte, herumwirbelte und durch die aufschwingende Tür das Gewächshaus verließ. Von einem Schrei begleitet klatschte der Mistbrocken von Innen gegen die Scheibe. „Und der Spruch heißt übrigens Danke!“, brüllte sie ihm mit sich überschlagender Stimme hinterher.
Nach einem letzten zornigen Blick auf die nun hinter ihm geschlossene Tür schüttelte er die Krümel von seinem Umhang und stürmte zurück Richtung Portal, als er hinter der Biegung mit jemandem zusammenstieß.
„Guten Abend, Professor“, flötete Hagrid fröhlich. „Wohin so eilig?“
„Weg!“, blaffte er zurück und rückte grimmig seinen Umhang gerade. Hagrid verzog das Gesicht.
„Was riecht hier so…“, begann er, verstummte aber sofort, als er seinem Gegenüber ins Gesicht sah. Dieser blitzte ihn jedoch nur wütend mit zusammengekniffenen Augen an und rauschte ohne ein weiteres Wort mit bauschendem Umhang davon.
„Mann, ist der sauer!“ Hagrid schüttelte den Kopf und ging dann weiter, um zu sehen, ob Evy seine Lieferung gefunden hatte.
Kaum war er in Gewächshaus Sieben eingetreten, wurde er von der nicht weniger wütenden Kräuterkundelehrerin empfangen.
„Warum um Merlins Willen hast du das Zeug hier abgeladen?“, schnauzte sie ihm entgegen.
Verblüfft betrachtete er die verdreckte Frau, die gerade die letzte Fuhre nach draußen gefahren hatte und die Karre nun genervt in die Ecke stellte. Er hatte sich nichts dabei gedacht.
„Ich… ähm… Verzeihung“, meinte er kleinlaut. „Ich wusste nicht, wo du es hin haben wolltest.“ Mehr brachte er angesichts ihres Blickes nicht heraus.
„Ach schon gut“, seufzte sie, als sie seine schuldbewusste Miene bemerkte. Wenn jemand sie so ansah, verrauchte ihre Wut schnell. Sie setzte sich auf die Karre und stützte den Kopf in den Händen ab. „Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.“ Ihre Stimme klang gedämpft durch die Finger vor ihrem Gesicht.
Er betrachtete sie ein wenig ratlos, als sie sich die Haare nach hinten strich und nun umso mehr mit Dreck und Erde bedeckt war. Irgendwie war sie so anders als sonst.
„Macht ja nix“, antwortete er immer noch ein wenig eingeschüchtert. „Ich dachte, es ist egal, wo ich das Zeug hin bringe. Einmal Wingidum Lovosa und wutsch…“, er wedelte mit der Hand, „…ist es dort, wo du es haben willst.“
Prüfend betrachtete er sie genauer, als sie die Schaufel vor sich ein wenig zur Seite kickte. Sie sah zu ihm auf und er erschrak fast vor ihrem verzweifelt wirkenden Blick.
„Geht’s dir nicht gut?“ Er setzte sich neben sie auf einen großen umgedrehten steinernen Blumenkübel. Statt einer Antwort warf sie die Arme um ihn und begann zu schluchzen. Überrascht und ein wenig hilflos blickte der Wildhüter an sich herab und tätschelte ihr so sanft er konnte den Rücken.
„Nana“, versuchte er sie zu trösten. „So schlimm is’ das doch nicht.“ Doch sie ließ sich nicht beruhigen. Also strich er ihr hin und wieder über den Rücken und summte ein wenig vor sich hin, bis ihr Weinen weniger und ihr Atem ruhiger wurde.
Nach ein paar Minuten hob sie den Kopf und schniefte: „Verzeih, Hagrid. Ich…“ Erneut glänzten ihre Augen bedrohlich.
„Nich wieder weinen“, sagte er sanft. Sie schluckte.
„Ach dieser blöde…“, sie wischte sich mit den Ärmel über die Augen. „Er hat es tatsächlich geschafft, dass ich mich völlig vergesse. Erst diese Schipperei und dann hat dieser Typ nichts Besseres zu tun, als mir kluge Ratschläge zu erteilen und mir ununterbrochen unter die Nase zu reiben, wie unfähig ich doch bin.“
Hagrid runzelte die Stirn. „Professor Snape?“, fragte er. „Ja, der ist manchmal ein wenig eigen.“
„So kann man es auch sagen“, nuschelte sie und schnäuzte in das große karierte Taschentuch, das er ihr hinhielt. „Danke“, atmete sie tief durch. „Es geht wieder.“
„Fein.“ Er sah ihr in das verheulte Gesicht. „Willst du vielleicht was Kräftiges trinken? Zur Stärkung?“, fragte er augenzwinkernd.
„Gern.“ Jetzt lächelte sie schon wieder ein bisschen.
Hagrid stand auf und bot ihr seinen Arm an, den sie ergriff und mit ihm zusammen nach draußen in Richtung seiner Hütte ging.
Immer noch schnaubend vor Wut rauschte Severus Snape durch die Korridore. Ein paar Schüler sprangen ihm aus dem Weg, denn sein Gesichtsausdruck verhieß definitiv das Risiko ein paar unwichtige Körperteile zu verlieren, falls man ihm jetzt im Weg herum stünde.
In seinem Büro angekommen knallte er die Tür hinter sich zu und sein Blick fiel auf den immer noch rauchenden Kessel auf seinem Schreibtisch.
Toll. Eine Wurzel hatte er natürlich nicht.
Er riss die Schubladen seines Schrankes auf und durchwühlte eine nach der andern.
„Ha!“ Triumphierend hielt er eine kleine übrige Krampfknöterichwurzel in die Höhe und schmiss sie in den Kessel.
So, jetzt konnte das erstmal ein paar Tage stehen, ohne dass es verderben würde.
Er malte mit dem Zauberstab ein großes X in die Luft und versiegelte so von Innen die Tür zum Korridor. Dann löschte er das Feuer unter dem kleinen Kessel und trat durch die Tür von seinem Büro in seine angrenzenden Wohnräume. Er schnaufte tief durch und ließ sich in den Sessel neben dem Kamin fallen.
Was für eine Person….
Irgendetwas passte nicht zusammen.
Eigentlich hatte er sie für eine etwas oberflächliche, aber geduldige Person gehalten. Ein wenig langweilig, zu jeder Zeit gut gelaunt und bereit, jedem bei irgendwas zu helfen, zuzuhören und so weiter. Dieser Ausfall eben ins genaue Gegenteil war einfach übertrieben gewesen für jemanden, den er bisher so eingeschätzt hatte, und normalerweise lag er mit seinen Einschätzungen richtig.
Doch so ein Verhalten hatte er nicht erwartet. Sie war völlig aus der Fassung gewesen. Zwar war er es gewohnt, dass die Leute ihn nicht unbedingt freudestrahlend umarmten, wenn er sich mit ihnen unterhielt – Merlin sei Dank – aber er hatte sie seines Wissens nicht zu einer solch überzogenen Reaktion provoziert.
Das passte einfach so überhaupt nicht zu ihrem sonstigen Wesen.
Er überlegte.
Nein, er hatte nichts getan, was einen üblicherweise freundlichen und ausgeglichenen Menschen dazu bringen würde, dermaßen die Beherrschung zu verlieren. Jeder andere wäre vielleicht genervt gewesen, dass er bei der Arbeit gestört wurde und hätte ihm die Wurzeln in die Hand gedrückt, damit er wieder verschwinden sollte. Der eine wohl geduldiger als der andere, aber keiner hätte ihn durchgehend angelächelt, um ihn letztendlich mit stinkendem Zeug zu bewerfen.
Was war das überhaupt für ein kindisches Gebaren?
Sie schien mit allen gut klarzukommen, unterhielt sich offen mit jedem, den sie in den letzten Tagen neu kennengelernt hatte. Freundlich und nett zu jeder Zeit. Er hatte im Lehrerzimmer ein paar Gespräche zwischen ihr und den anderen Lehrern mitbekommen. Wurde sie auf private Dinge angesprochen, antwortete sie wie immer gefällig und charmant. Sie hatte in Irland gelebt und dann in London bei ihrer Schwester. Unverbindlich. Normal, unauffällig und belanglos.
Die Erstklässler heute waren ganz begeistert von ihrem „lustigen“ und „lockeren“ Unterricht gewesen. Das war zwar nicht unbedingt wichtig, aber dort lag offenbar auch kein Problem vor.
Ihre kurzen Entgleisungen bei gewissen Äußerungen anderer waren ihm allerdings auch nicht entgangen. Dazu hatte er zu viel Zeit als Spion und Beobachter verbracht, in der es lebenswichtig gewesen war, Leute und ihr Verhalten genau zu analysieren. Es war, als würde ein Schatten über ihr Gesicht fliegen.
Er dachte an den vergangenen Krieg.
Nein, auch da fiel ihm kein Ereignis ein, in dem der Name Calaway auftauchte, und er hatte als Akteur auf beiden Seiten wohl so gut wie alle größeren Vorgänge mitbekommen. Selbst wenn sie damals in irgendetwas involviert gewesen wäre, konnte es keine bedeutende Sache gewesen sein, sonst wüsste er davon.
Wahrscheinlich hatte sie auch irgendwelche Verwandte oder Freunde im Krieg verloren, so wie fast jeder, und war daher ein wenig zart besaitet.
Die Schmerzen in seinem Körper waren inzwischen kaum noch zu ignorieren. Er zog eine Ampulle aus der Innentasche seines Umhangs und trank sie aus.
Währenddessen hockte Evy zusammen mit Hagrid in dessen Hütte und kippte gerade einen Becher Feuerwhiskey hinunter.
Es war nicht der erste.
„Ja Hagrid… So ist das.“ Ihre Zunge schien schon etwas schwer zu werden.
Hagrid war der Meinung gewesen, es sei besser sie nicht zu bedrängen. Wenn etwas Ernstes vorgefallen wäre, würde sie es schon von selber erzählen. Stattdessen hatte sie erst mal eine gute halbe Stunde gar nichts gesagt, sondern nur getrunken.
„So ist das“, wiederholte sie und betrachtete den Becher in ihren Händen. „Eigentlich so einfach und doch so schwer.“ Hagrid nickte ohne ein Wort zu verstehen und trank ebenfalls seinen humpengroßen Becher aus, um beiden umgehend nachzuschenken.
„Niemand will ein trauriges Gesicht sehen. Da laufen sie alle davon. Und dann ist man allein.“
„So is’ das“, brummte Hagrid.
Sie nickte und leerte den Becher wieder in einem Zug.
„Ich geh’ jetzt mal nach oben. Gott sei Dank ist morgen Freitag. Da kann ich erstens ein wenig länger schlafen und mich nachmittags mal an diesen Lehrplan setzen. Ich hab morgen nur die dritte und vierte Stunde mit den Zweitklässlern.“ Sie erhob sich bedächtig und umarmte ihn.
„Danke, dass du mir zugehört hast, Hagrid.“
„Keine Ursache.“ Aufmunternd klopfte er ihr auf den Rücken. „Ich hab morgen auch nur zwei Stunden zu geben. Vielleicht fang ich mal mit dem Plan an.“
„Mach das. Ich komme dann irgendwann vorbei, wenn du willst, und helfe dir.“ Ein wenig unsicher auf den Beinen wandte sie sich um und öffnete die Tür.
„Das wäre toll“, strahlte Hagrid begeistert. „Schlaf gut. Und Kopf hoch. Hier hast du noch ein paar Tummerbeeren.“
„Oh vielen Dank.“ Mit einem leicht verklärten Lächeln steckte sie den Beutel in ihre Rocktasche. „Also dann bis morgen.“ Sie winkte ihm noch einmal, schloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zum Schloss.
Was für ein erster Tag.
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