von Blue
Als Jessica die Augen öffnete, wurde sie von der Sonne geblendet, die durch die Fenster in den Krankenflügel fiel.
Sie starrte die Decke an. Nur im Schlaf war sie der Erinnerung entgangen. Doch jetzt. Jetzt sah sie wieder die starren Augen vor sich, die blasse Haut, spürte die Kälte. Sofort stiegen ihr wieder Tränen in die Augen.
Mit Mühe hielt sie sie zurück, als sie sich aufrichtete und feststellte, dass sie noch immer ihre Schuluniform trug.
Sie wollte aufstehen. Langsam und schwerfällig ließ sie die Beine aus dem Bett gleiten. Sie blieb sitzen. Ließ ihre Beine baumeln und stützte sich mit den Händen ab.
Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Ihre Schläfen pochten. Innerlich schien sie zu zittern.
Da öffnete sich die Tür. Jessica blickte nicht auf. Es war ihr egal, wer da kam. Es war ihr egal, wer sie so sah.
Ihr war egal, dass sie aussah, wie nach einer durchzechten Nacht. Ihre grün-silberne Krawatte war gelockert, ihre schwarze Jacke hing am Fußende des Bettes. Ihr weißes Hemd war vollkommen zerknittert, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Ihr schwarzer Rock war leicht nach oben verrutscht und ihre schwarze Strumpfhose hatte weite Laufmaschen.
Sie fühlte sich grauenvoll. So ungepflegt und schmutzig.
Ihr Kopf schmerzte, als hätte man darauf eine Vase zerbrochen.
Da hockte sich jemand vor sie, sodass sie sein Gesicht sah. Tom. Er sagte nichts, legte nur seine Hand auf ihr Bein und lächelte mitleidig und bedauernd.
Jessica atmete hörbar aus und fuhr sich mit der rechten Hand durch ihre wirren, langen Locken.
"Jessy." sagte er tonlos. Es schien, als hätte er eine Feststellung gemacht. Als sie nicht antwortete fuhr er fort:
"Es tut mir leid, Jessy."
Sie sah ihn emotionslos an. Es war, als würde sie durch ihn hindurch blicken.
Sein Blick wurde wehmütig und traurig. Es schien, als würde er sich alle Mühe geben, zu ihr hindurch zu dringen.
Aber es gelang ihm nicht. Er wusste nicht, wie er zu ihr gelangen, wo er sie erreichen konnte. In diesem Punkt war er genauso hilflos wie sie selbst.
Das veranlasste sie, wenigstens eine Reaktion zu zeigen.
"Es ist in Ordnung." flüsterte sie weinerlich. Ihre Stimme drohte, zu brechen.
"Mir geht's gut."
Beiden wussten sie, dass es die größte Lüge war, die sie jemals ausgesprochen hatte.
Sie wurde an diesem Tag vom Unterricht freigestellt, um sich zu beruhigen. Man hatte ihr strenge Bettruhe verordnet, welcher sie nur zu gern nachkam.
Tom hatte sie in den Mädchenschlafsaal geführt, war raus gegangen, als sie sich umgezogen hatte und war auf ihr Klopfen hin wieder herein gekommen.
Er hatte sie zugedeckt und hatte noch eine Zeit neben ihr auf dem Bett gesessen und ihre Hand gehalten.
Niemand der beiden sagte ein Wort. Wahrscheinlich, weil es nichts zu sagen gab.
Dann, nach einer Weile musste er zurück in den Unterricht. Er ließ ihre Hand langsam los und erhob sich zaghaft. Jessicas Blick wurde leicht ängstlich.
Sie wollte nicht, dass er ging. Sie wollte, dass er blieb.
Aber sie konnte es ihm nicht sagen. Sie war stumm.
Tom lächelte noch einmal mitfühlend, dann verschwand er. Jessica sah ihm nach und starrte eine Zeit lang die geschlossene Tür an. Dann drehte sie sich um und krallte sich in ihr Kissen.
Sie zog sich die Decke bis über die Ohren, rollte sich zusammen, doch sie fror noch immer.
Egal, was sie versuchte, ihr blieb kalt. Es war allerdings keine Kälte von außerhalb. Diese widerliche, frostige Kälte kam von innen.
Aber weinte und zitterte nicht mehr. In ihrem Kopf hörte sie das Tropfen der Wasserhähne, sah den leblosen Körper auf dem nassen Boden liegen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte krampfhaft, diese Szenen aus ihrem Kopf zu verbannen.
Irgendwie hatte Jessica es irgendwann geschafft, einzuschlafen. Als sie die Augen aufschlug, saß ein Professor an ihrem Bett. Er war sehr alt und hatte einen langen, weißen Bart. Sein langer, spitzer Hut erinnerte an Merlin persönlich. Sie kannte ihn. Sein Name war Dumbledore. Er unterrichtete sie zwar nicht, aber ab und zu hatte sie ihn in den Korridoren und am Lehrertisch gesehen. Außerdem hatte Tom ihr erzählt, dass es Dumbledore gewesen war, der ihn aus dem Waisenhaus hierher geholt hatte. Besagter Professor lächelte freundlich. Doch sie reagierte nicht. Sie blickte ihn abwartend an und fragte sich, was er von ihr wollte.
Wahrscheinlich wollte er sie fragen, wie es ihr ging.
Wie soll's mir schon gehen? Abscheulich. Grässlich. Schrecklich. Furchtbar.
"Guten Abend, Jessica." begann Dumbledore.
"Sehr gut, dass du Schlaf gefunden hast."
Das war allerdings gut. Und zum Glück hatte sie auch nicht geträumt, zumindest erinnerte sie sich nicht, etwas geträumt zu haben.
"Hör mal," fuhr der alte Professor fort.
"Ist dir gestern, bevor du......sie gefunden hast irgendetwas aufgefallen? War irgendetwas anders als sonst?"
Jessica brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen. Ihr Kopf arbeitete ungewöhnlich langsam.
Sie schüttelte nur den Kopf.
"Gut." Der Professor schien vollstes Verständnis für sie zu haben.
"Und bei dem Mädchen?" fragte er.
"Hast du sie vorher gesehen?"
Sie wandte ihren Blick nicht von ihm, nickte stumm.
"Und hat sie etwas außergewöhnliches gesagt, oder getan?" fragte Dumbledore geduldig und ruhig.
Seine Stimme gab Jessica das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Diesem Mann hätte sie wahrscheinlich blind vertraut.
Langsam begann sie zu erzählen. Von Olive, Rose und den anderen. Dass sie die Ravenclaw so furchtbar behandelt und sich über sie lustig gemacht hatten, an diesem Tag besonders schlimm.
Der alte Zauberer strich sich durch seinen langen, weißen Bart und hörte zu. Ab und an nickte er vor sich hin.
Als Jessica ihre Erinnerungen brüchig und stockend zu Ende brachte, leget Dumbledore seine Hand auf ihren Arm und lächelte mitfühlend.
"Das war sehr tapfer von dir, Jessica. Du kannst stolz auf dich sein."
Stolz sein? Wenn sie nur etwas früher gekommen wäre.....
"Wie....." begann sie flüsternd.
"Ich meine.....warum...ist sie...."
Dumbledore, der offenbar genau wusste, was sie meinte sagte:
"Wir wissen es noch nicht. Aber,....es war ein überraschender, schmerzfreier Tod."
Er sagte das, als würde er sie trösten wollen.
Aber man konnte sie nicht trösten.
Ein paar Stunden später kamen die anderen Mädchen in den Schlafsaal und machten sich bettfertig.
Jessica spürte ihre neugierigen Blicke in ihrem Rücken.
Sie stellte sich einfach schlafend und hoffte, dass man sie in Frieden lassen würde. Zum Glück taten ihr die Mädchen den Gefallen. Sie hörte Olive und Rose tuscheln, doch es war ihr egal. Die Augen fest geschlossen wartete sie, dass man die Kerzen ausblies.
Diese Nacht wurde sie von ihrer Angst heimgesucht, in ihren Träumen.
Sie war wieder in dieser großen, dunklen Halle. Diesmal allein. Zumindest schien es so. Der Traum ging dort weiter, wo er im Zug aufgehört hatte. Sie stand vor dem großen Felsen, blickte in die Höhlenöffnung, hörte das scharfe Zischen. Es wurde lauter und lauter, kam näher.
Suchend sah sie sich nach Tom um, aber sie war alleine.
Niemand sonst. Niemand, der ihr hätte helfen können.
Da blitzten plötzlich lange, weiße Zähne aus der Höhle hervor und Jessica wich zurück.
Sie wollte schreien, doch sie bekam keinen Ton heraus.
Das Zischen kam näher und über den langen, scharfen Zähnen öffneten sich plötzlich zwei gelbe, schmale Augen!
Was immer es auch war, es blickte sie an! Es hatte sie gesehen! Die Augen wurden groß und die Distanz zwischen den zwei Zahnreihen wurde weiter. Offenbar öffnete sich ein riesiges Maul.
Dieses Biest bewegte sich nach vorne. Es war schon fast so weit, dass das Licht auf es gefallen wäre.
Da tauchte plötzlich die tote Ravenclaw vor ihr auf und versperrte ihr den Blick auf das Monster.
Das Mädchen war allerdings anders. Sie schwebte und sie war beinahe durchsichtig. Sie starrte Jessica mit aufgerissenen Augen an, legte den Kopf schief und gab stöhnende Geräusche von sich. Jessica hörte unmittelbar vor sich das bedrohlich laute Zischen. Sie wollte davonlaufen, doch sie konnte sich nicht bewegen.
Das qualvolle Stöhnen des Mädchens wurde lauter und sie kam ihr bis dicht vors Gesicht.
"AAAHH!!"
Jessica schreckte hoch. Sie saß in ihrem Bett. Ihr gegenüber hatte Rose sich aufgesetzt und sah sie mitleidig an. Ehrlich mitleidig. Sie schien den Grund für Jessicas Alptraum genau zu kennen.
Diese strich sich mit beiden Händen ihre schwarzen Locken zurück und versuchte, ihren Atem zu normalisieren. Sie zitterte und sie war von oben bis unten nass geschwitzt.
Die anderen Mädchen waren zwar ebenfalls durch Jessicas lauten Schrei aufgewacht, aber sie blieben liegen und zogen sich ihre Decken über die Köpfe.
Sie verspürten Scham und riesige Schuldgefühle, was sie aber niemals zugegeben hätten.
Völlig erschöpft ließ sich Jessica wieder in ihre Kissen fallen und starrte ihr Bettgestell an.
Nach einer Weile fiel sie in einen unruhigen, jedoch traumlosen Schlaf.
Sie hatte sich ganz fest vorgenommen, am nächsten Tag wieder am Unterricht teilzunehmen.
Und das zog sie durch. Sie stand mit den anderen Mädchen auf, zog ihre Uniform an und ging hinter ihnen her zum Frühstück. Als sie in die große Halle kamen, richteten sich alle Blicke auf sie, auch die, der Lehrer.
Sogar Standfield schien Mitgefühl zu hegen.
Aber das kümmerte Jessica nicht. Sie wollte das Vorgefallene nur so schnell wie möglich vergessen.
Ihr Blick huschte zu ihrem Platz. Dort saß Tom und las den Tagespropheten. Sie ging hin, setzte sich neben ihn und sagte:
"Morgen, Tom." Sie bemühte sich, ihre Stimme fest und gleichzeitig gut gelaunt klingen zu lassen.
Ungläubig blickte ihr bester Freund auf.
"Jessy!" rief er aus.
"Was....wie....wie geht's dir?"
Sie seufzte auf und zog die Augenbrauen hoch.
"Es ist alles in Ordnung. Ehrlich!"
Tom schien sehr daran zu zweifeln.
Er drehte sich auf der Bank um, sodass er mit dem Gesicht zu ihr saß.
"Jessy...." begann er, doch seine Stimme erstarb.
Er schien mit sich zu kämpfen. Für einen Moment lang schloss er die Augen.
"Es....tut mir Leid, Jessy." Es klang verzweifelt.
Seine Freundin konnte sich nur wundern.
"Es ist in Ordnung! Du kannst doch nichts dafür."
Tom lächelte gequält und legte seine Hand auf ihren Arm.
"Ich komm zurecht. Wirklich." Sie schenkte ihm ein ehrliches, sanftes Lächeln.
Der Unterricht war eine gute Ablenkung. Jessica konzentrierte sich noch mehr als sonst und lernte an den Nachmittagen noch intensiver.
Und auch Tom gab alles, um sie abzulenken und ihr auf irgendeine Weise ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.
Er strengte sich wirklich an. Auch wenn seine Witze schon zweimal um die Ecke waren, musste Jessica trotzdem schmunzeln, dafür, dass er es versuchte.
Sie hatte auch in den nächsten Wochen keine Alpträume mehr und wenn sie abends Angst davor hatte einzuschlafen, dachte sie einfach an den Unterricht oder an einen von Toms dämlichen Sparwitzen.
Das Zischen, welches sie im Traum und vor den Ferien in der Decke gehört hatte, kehrte auch nicht wieder.
Jessica schien Ruhe zu haben.
Als sie eines Abends den Korridor zur Treppe entlang ging (sie war die letzte in der Bibliothek gewesen) fiel ihr ein, dass sie ihren Terminkalender dort liegen gelassen hatte. Das Ding war überlebenswichtig, denn darin standen alle Daten und Themen für die nächsten Prüfungen. Also drehte sie um und lief zurück.
Die Bibliothek war, wie erwartet, verlassen.
Eigentlich war eine dunkle, einsame Bücherei ja nicht gerade das, was Jessica als gruselig empfand. Doch als sie von Regal zu Regal schlich und die Dunkelheit sich immer weiter ausbreitete, wurde ihr doch etwas mulmig zumute.
Sie zog ihren baiken Zauberstab hervor und richtete ihn vor sich. "Lumos."
Das war schon besser.
Ein Regal weiter lag ihr Terminkalender auf einem der Tische. Sie griff ihn und wollte gerade wieder umkehren, als sie ein Geräusch aufhorchen ließ.
Sofort blieb sie stehen.
Was war das?
Da! Schon wieder!
Es war das Zischen. Es war schon wieder dieses scharfe Zischen. Bei Jessica stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Ängstlich presste sie ihren Kalender an sich und richtete ihren Zauberstab nach oben.
An der Decke war nichts zu sehen.
Das hatte sie sich doch nicht eingebildet, oder?
Da kam das Zischen plötzlich von der Seite!
Jessica fuhr herum und leuchtet vor sich. Wieder nichts zu sehen. Es war ihr ganz nah gewesen! Auf Augenhöhe!
Sie drehte sich langsam hin und her und versuchte irgendetwas zu erkennen.
Doch da war nichts.
Ihr schoss das Bild aus ihrem Traum wieder in den Kopf.
Lange, spitze, scharfe Zähne! Gelbe, schmale Augen!
Da! Jetzt war das Geräusch von der anderen Seite gekommen! Und dieses Mal war es noch näher gewesen.
Sie hatte einen Luftzug gespürt!
Da krachte es plötzlich hinter einem der Regale, nur ein paar Meter von ihr entfernt.
Ängstlich wich sie zurück. Das Zischen war hinter dem Regal und es kam näher. Auf sie zu! Doch sie sah nichts!
Nun glaubte sie, Worte verstehen zu können.
"Ich werde dich kriegen!" "Ich finde dich!"
Jessica glaubte, sie müsse in Ohnmacht fallen.
Ihr Atem stand still.
Über den Teppich bewegte sich etwas an ihr vorbei.
Es umkreiste sie.
Sie konnte sich nicht schnell genug drehen, um etwas zu erkennen. Plötzlich schlug ihr etwas den Zauberstab weg.
Nun sah sie gar nichts mehr!
Eine unheimliche Kälte machte sich breit.
Jessica glaubte vor Angst zu sterben.
"Jessy?!"
Sie fuhr herum. In der Tür stand Tom und sein Lichtzauber leuchtete so stark, dass die ganze Bibliothek taghell war.
"Tom!" rief sie erleichtert aus und rannte auf ihn zu.
Er fing sie auf und nahm sie in die Arme.
"Tom, da...das wirst du nicht glauben,...da war etwas! Etwas Seltsames! Ich.....ich hab......es hat geredet!"
Sie stotterte so hektisch, dass Tom Mühe hatte sie zu verstehen.
"Ist ja gut. Ich bin ja da." sagte er beruhigend.
Ängstlich blickte Jessica sich um.
Alles war hell, auf dem Boden lag ihr Zauberstab.
Sie lief hin und hob ihn auf.
Eine Weile starrte sie ihn entsetzt mit aufgerissenen Augen an.
Was immer es auch gewesen war, es war verschwunden.
Sie ging noch einmal zu dem Regal, wo es gepoltert hatte und tatsächlich: Aus dem Regal waren sechs Bücher heraus gefallen. Sie hob sie auf und ließ sie wieder an ihre Plätze schweben. Im Teppich waren Falten. Als hätte man sich darin gewälzt.
Aber das war auch alles. Es war still.
Unruhig und skeptisch kam sie zu Tom zurück.
Gemeinsam gingen sie in Richtung Treppen.
"Dir ist ja nichts passiert. Es ist alles in Ordnung, Jessy." meinte er und legte den Arm um sie.
Doch Jessica wollte sich nicht beruhigen. Sie spürte, dass das Schreckliche noch nicht zu Ende war.
Langsam drehte sie ihren Zauberstab in den Händen und ließ ihre Finger über das gleiten, was sie am meisten erschreckt hatte: Bissspuren!
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